Süddeutsche Zeitung

100 Jahre Audi:Den Zeitgeist vorempfinden

Die Ingolstädter Familie Witasek arbeitet seit drei Generationen bei Audi - und sie hat es nie bereut. Einsichten in ein deutsches Arbeitsleben.

Michael Kuntz

Der erste Audi, der nach dem Zweiten Weltkrieg unter diesem Namen bei der Auto Union gebaut wurde, steht in einer gut gesicherten Halle neben dem Werk in Ingolstadt. Der Viertakter aus dem Jahr 1965 löst damals die knatternden DKW-Zweitakter ab. Die Hörner auf den verchromten Stoßstangen des grünen Audi 60L sind als Sonderausstattung separat zu bestellen und zu bezahlen.

Das Auto fährt noch, derzeit öfter als sonst, denn im hundertsten Jahr von Audi gibt es viele Oldtimer-Treffen. Höhepunkt aller Festlichkeiten ist heute die Feier mit der Bundeskanzlerin in Ingolstadt. Das Jubiläum fällt mitten in die größte Krise der Automobilindustrie.

Ernst Witasek, 69, ist dabei, als der grüne erste Nachkriegs-Audi gebaut wird. Der Ruheständler erinnert sich an seinen Job als Nacharbeiter: "Man konnte mit dem Phasenprüfer alles prüfen. Das ist heute nicht mehr möglich." Witasek wirft zusammen mit Sohn und Enkel einen Blick unter die Motorhaube des Oldtimers. Man fachsimpelt familiär. Ernst Witasek ging noch "in die Union", sein Sohn Christian Witasek, 50, und der Enkel Marco Witasek, 20, sind beide "Audianer", wie sie heute am Stammsitz der Autofirma mit 50.000 Mitarbeitern in Ingolstadt sagen.

Fünf Tage ist der oberschlesische Spätaussiedler im Sommer 1960 in Deutschland, schon kann Ernst Witasek bei der Auto Union beginnen, früh um sechs Uhr: "Am ersten Tag ging ich im Anzug ans Fließband, etwas anderes hatte ich nicht. Da haben sie mir 60 Mark gegeben für einen Arbeitsanzug." Witasek spannt den Stoffhimmel in den DKW Junior. Der Bandarbeiter in der Karosseriemontage zählt zur Lohngruppe drei, da gibt es 1,67 Mark die Stunde. Das ist Spitze in Ingolstadt.

"Früher haben die Beamten die Audis gekauft." Dann kommt der Viertakter von Audi: "Das war der Durchbruch. Der hat damals dafür gesorgt, dass aus Audi kein reines Montagewerk für den VW Käfer geworden ist." Das bayerische Autowerk prosperiert und Familie Witasek auch. Man zieht weg aus der Drei-Zimmer-Wohnung in der Hochhaussiedlung in das eigene Haus im Stadtteil Etting. Großvater Witasek steigt auf zum Schichtleiter in einer Halle, wo 2000 Leute arbeiten. Sattlerei und Kabelfertigung sind noch nicht an Zulieferer vergeben. Viermal reist er nach Südafrika, um zu schauen, dass der Audi 100 C3 dort in bayerischer Qualität entsteht. "Mein Vater hat es mir immer vorgelebt", sagt Christian Witasek auf die Frage, warum auch er zu Audi ging. Das war 1973, es war gerade Ölkrise, und er hat es nicht bereut. Im Vorseriencenter sitzt er an der Schnittstelle zwischen Entwicklung und Produktion der Autos von morgen. "Bei Audi leben wir auf einer Insel der Glückseligkeit. Überall ist die Rede von Kürzungen und Insolvenzen, davon sind wir verschont."

In der Tat steht die VW-Tochter Audi in der ersten weltweit gleichzeitigen Absatzkrise einigermaßen gut da. Im ersten Halbjahr war Audi die erfolgreichste Premiummarke in Westeuropa. Weltweit sanken die Auslieferungen um knapp zehn Prozent und damit etwa nur halb so stark, wie der Markt geschrumpft ist. Audi profitiert von der Abwrackprämie in Deutschland, aber auch von einer Steuersenkung in China. Vertriebsvorstand Peter Schwarzenbauer gibt sich optimistisch: "2009 werden wir wie prognostiziert abschließen - und damit rund 900.000 Autos verkaufen." Über die ersten sechs Monate liege man auf Kurs, und auch die aktuellen Auftragseingänge bestätigten die Planung. Neue Kurzarbeit sei nicht geplant.

"Früher bewunderten wir Mercedes, heute spielen wir selbst in der Champions League", sagt Christian Witasek. Er und sein Vater haben den Wandel bei Audi miterlebt, von der spießigen zur sportlichen Automarke. Von stinkenden Zweitaktern bis zum alltagstauglichen Supersportwagen - wie dem neuen R8 5.2 mit 525 PS, den Audi mitten in der Krise zum Jubiläum vorstellt, obwohl er schwer verkäuflich sein dürfte. Das macht nichts. Den R8 sehen und einen A4 kaufen, so erfüllt sich der Traum von einem Auto auch ohne das Traumauto selbst. Rupert Stadler, Audi-Chef seit 2007, drückt den wirtschaftlichen Sachverhalt so aus: "Dieses Modell wird die Begehrtheit der Marke weiter steigern."

Die Begehrtheit der Marke Audi ist in den vergangenen 15 Jahren zweifellos gestiegen. Das sieht man nicht nur an der Familie Witasek, wo der Großvater neben einem aktuellen Q5 noch ein Cabrio A4 von 1996 in der Garage hat, der Sohn A6 Avant fährt und der Enkel das nicht mehr produzierte Einstiegsmodell A2 lenkt. Das zeigt vor allem der Vergleich mit der Marke Volvo. Denn Audi und Volvo produzierten Anfang der neunziger Jahre beide etwa 400.000 Autos pro Jahr, und die Schweden tun dies heute noch. Audi hingegen schaffte im vergangenen Jahr eine Million Fahrzeuge. Beide Hersteller konzentrieren sich auf die gehobene Mittelklasse, beide gehören zu Konzernen, können große Netze bei Produktion und Vertrieb nutzen. Während die Ford-Firma Volvo inzwischen zum Verkauf steht, entwickelte sich Audi zur Perle von Volkswagen, die über Jahre wesentlich die Gewinne des Konzerns verdient hat.

Audi wurde dabei immer internationaler, das Arbeitsleben auch. Christian Witasek begann als Feinblechner, qualifizierte sich intern weiter und steuert 30 Jahre später als Fachreferent im Vorseriencenter Projekte für Autos, die man noch nicht kaufen kann. Autos werden sechs, sieben Jahre vorgeplant: "Das ist das Phänomenale, den Zeitgeist so vorzuempfinden, dass der Nerv des Kunden getroffen wird." Witasek kümmert sich um die Vorserie in China: "Es darf nichts fehlen und die Qualität muss stimmen."

Seit 1988 betreibt Audi mit VW ein Werk im nordchinesischen Changchun. Immerhin jeder zehnte Wagen der Marke wird dort hergestellt. Während Audi in China mit verlängerten Limousinen gut im Geschäft ist, gibt es in Nordamerika einiges aufzuholen. Das galt lange als Nachteil von Audi, es war während der in den USA entstandenen Finanzkrise allerdings ein Vorteil, dort nicht mit vielen verwegenen Leasinggeschäften engagiert zu sein. Das immer wieder angedachte Werk in Amerika soll es jedoch vorerst nicht geben.

Bei Audi konzentriert man sich derzeit auf die nächste Generation der Oberklassen-Limousine A8, die im November vorgestellt werden soll. Im kommenden Jahr startet dann der neue Kleinwagen A1 mit hohen Stückzahlen. Mit dem, so Rupert Stadler, "ersten vollwertigen Premiumauto in seinem Segment" will Audi von Anfang an Geld verdienen, jüngere Kunden gewinnen und den durchschnittlichen Verbrauch seiner Flotte senken.

"Das Auto wird es immer geben. Aber es muss etwas Neues kommen, denn die Rohstoffe sind ja nicht mehr immer da", sagt Ernst Witasek. "Den Vorsprung durch Technik muss es auch künftig geben." Sein Enkel Marco hat bereits als Kind kleine Autos und Poster von Audi: "Das war für mich schon das Flair von Audi." Mit 18 Jahren geht auch er zu Audi. "Ich habe eigentlich nie etwas anderes machen wollen." Er lernt Mechatroniker, rüstet Sonderfahrzeuge aus, zum Beispiel für Polizei und Feuerwehr. Er büffelt für das Fachabitur, will Fahrzeugtechnik studieren, spielt in der Landesliga Fußball. Vielleicht ist er wieder zurück bei Audi, wenn die ersten Elektroautos auf den Markt kommen.

Zwischen 2014 und 2015 soll es so weit sein. Bis dahin will Rupert Stadler mit Audi auch BMW als den weltweiten Marktführer bei Luxusautomobilen überholt haben: "Wir bleiben dabei: Audi wird bis 2015 der Premium-Anbieter Nummer eins sein." Lächelnd landet der Senior Witasek einen kleinen Seitenhieb gegen die Konkurrenz in München: "Zur Freude am Fahren kommt bei uns die Freude an der Qualität."

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SZ vom 16.07.2009/gf
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