München und Umland:Jeden Tag Derby-Zeit

München und Umland: Der SZ-Lokalredaktion ist es wichtig, die Stadtgesellschaft nicht nur abzubilden, sondern sie zum Teil auch mitzugestalten. Illustration: Dirk Schmidt

Der SZ-Lokalredaktion ist es wichtig, die Stadtgesellschaft nicht nur abzubilden, sondern sie zum Teil auch mitzugestalten. Illustration: Dirk Schmidt

Die Themen, die im München-Teil behandelt werden, gehen vielen Lesern besonders nah. Das birgt seit jeher ganz eigene Herausforderungen - und auch Spannungsmomente.

Von René Hofmann

Die meisten Bilder, die sich in den Köpfen formen, wenn Menschen sich eine Zeitungsredaktion vorstellen, dürften Filme oder Serien geprägt haben. In "Hinter den Schlagzeilen", einem Dokumentarfilm, für den die Macher zwei Jahre lang das Investigativ-Ressort der Süddeutschen Zeitung begleiteten, ist zu sehen, wie Bastian Obermayer und Frederik Obermaier durch merkwürdige Brillen in verriegelten Büros auf ein Laptop starren, auf dem ein verschlüsselter Film läuft, der Monate später die österreichische Regierung stürzen wird. In "Die Unbestechlichen" spielen Dustin Hoffman und Robert Redford nach, wie Carl Bernstein und Bob Woodward für die Washington Post den Watergate-Skandal aufdeckten, aus einem Großraumbüro heraus, in dem die Schreibmaschinen zu jeder Zeit unerbittlich hämmern.

Als stilprägend für die Arbeit in einer Münchner Lokalredaktion darf immer noch "Kir Royal" gelten, Helmut Dietls Persiflage aus den 1980er-Jahren, in der er Franz Xaver Kroetz als Gesellschaftsreporter Baby Schimmerlos mit Dieter Hildebrandt als Fotograf Herbie Fried losziehen lässt, auf die Jagd nach immer unglaublicheren Geschichten. Kleberfabrikanten, die verzweifelt Einlass in die Gesellschaft suchen, honorarkonsulige Spekulanten, die am Starnberger See einen noblen Country Club bauen lassen wollen: Das gab es damals - und das gibt es heute immer noch. Die Themen sind geblieben, nur die Arbeitsweise hat sich gewandelt. Auf die Idee, einer Assistentin mit dem Kommando "Edda, schreib ...!" zu diktieren, käme heute niemand mehr. Was nicht heißen soll, dass es weniger lustig zugeht als in der Persiflage. Im Gegenteil.

Wo Menschen mit anderen Menschen zusammen Themen bearbeiten, die meist um Menschen kreisen und die viele Menschen bewegen, menschelt es. Jeden Tag aufs Neue und jeden Tag auf andere Weise. Und im Lokalen ist das Leben, das abgebildet wird, eben besonders nah. Bürgermeister, die sich falsch dargestellt sehen - oder nicht oft genug. Institutsvorsitzende, die der Überzeugung sind, dass der in einer Geschichte gewählte Blickwinkel genau der falsche ist. Leserinnen und Leser, die sich vor Begeisterung überschlagen - oder vor Kritik oder die eine Idee haben, der schon lange einmal, nun aber wirklich eilig, nachgegangen werden muss: Aus dem, was täglich anbrandet, ließe sich mehr als eine unterhaltsame Serienfolge füllen. Aber darum geht es ja gar nicht.

Lassen sich nicht fast alle Themen auf die lokale Ebene herunterbrechen?

"All news is local" heißt ein Buch, das 2007 erschien, und in dem Richard C. Stanton von der University of Sydney Zweifel daran formuliert, ob die westlichen Medien die globalen Krisen adäquat verhandeln können, weil sie dazu neigen, Themen nur zu behandeln, wenn diese einen direkten, also lokalen Bezug zu ihrem Publikum haben. Die These lässt sich aber auch umdrehen: Lassen sich nicht fast alle Themen auf die lokale Ebene herunterbrechen? Wo zeigt sich der Klimawandel? Was bedeuten steigende Energiekosten? Wie ergeht es den Menschen, die vor Krieg in ihrer Heimat fliehen? Was braucht es, damit die Verkehrswende gelingt? Dem Großen das Konkrete gegenüberstellen: Darum geht es.

Wie die allermeisten Redaktionen ist auch die Redaktion der SZ in Ressorts organisiert, und die allermeisten davon sind thematisch begrenzt: Das Politik-Ressort behandelt die politischen Ereignisse, im Sport geht es um den Sport, im Feuilleton um Kunst und Kultur. Im Lokalen geht es jeden Tag gewissermaßen um alles. Sicher, es gibt Klassiker: Was tut sich im Rathaus? Welche Straßen, Plätze, Häuser sollen gebaut, saniert, abgerissen werden? Um wie viel teurer wird die zweite S-Bahn-Stammstrecke jetzt schon wieder? Aber das allein wird der Stadt München, ihrer Vielschichtigkeit und ihrer pulsierenden Umgebung ja nicht gerecht. Zum großen Ganzen gehören auch die gesellschaftlichen Ereignisse, die spannenden Menschen, die Highlights, die in den Theatern, Konzertsälen und Museen geboten werden. Die Vielfalt formt den Reiz der Mischung, wozu auch die Vielfalt der Stilformen gehört.

Investigativ-Geschichten, die Missstände aufdecken, Reportagen, die in unbekannte Teile der Stadt entführen, Interviews mit spannenden Gesprächspartnern, Servicestücke, die echte Geheimtipps verraten, Gastro-Besprechungen, die fundierte und ehrliche Bewertungen wiedergeben, Kommentare, die Entwicklungen einordnen, Glossen, die Heiteres aufspießen, Essays, die Debatten lenken: Über die Jahrzehnte ist die Mischung immer raffinierter geworden, immer mit dem Anspruch, die Stadtgesellschaft nicht nur abzubilden, sondern sie zum Teil auch mitzugestalten. "Süddeutsche Zeitung. Wer sie liest, sieht mehr" - der Slogan, mit dem die Marke lange antrat: Für den München-Teil gilt er immer noch, auch wenn sich das Zustandekommen grundlegend geändert hat.

Früher wurde morgens geschaut, was anstand, dann zogen die Reporter los

Zu den Zeiten von Baby Schimmerlos war es tatsächlich oft so, wie in Dietls Persiflage dargestellt: Geplant war wenig. Frühs wurde geschaut, was anstand, dann zogen die Reporter (die meisten waren tatsächlich Männer) los und schauten, welche Geschichten sich ergaben. Später wurde dann geschaut, ob die reichten, um den Platz zu füllen, den die Anzeigen frei ließen. Wenn es knapp wurde, wurden die Schwarz-weiß-Bilder ein bisschen größer gezogen. Irgendwann wurden dann auf gewaltigen Monitoren, die nur zwei Farben darstellen konnten (Grün und Schwarz) Themenlisten in fantasievoll benannten Dateien gepflegt, doch viel mehr als "Montag - Franz macht was zur Wiesn" und "Donnerstag - Wolfgang macht was zum Nockherberg" stand in diesen selten, und zu lesen war das eh nur für Eingeweihte. Inzwischen pflegt nicht nur der München-Teil, sondern die gesamte SZ ihre Themen in einem speziellen Tool, in dem nicht nur jeder jederzeit sehen kann, welche Geschichte in welchem Zuschnitt in welchem Ressort zu welchem Zeitpunkt geplant ist, sondern auch, welche Bilder, Grafiken oder Illustrationen dazu vorgesehen sind, und wer sich bis wann darum kümmert.

Bespielt wird längst nicht nur die gedruckte Ausgabe, vieles erscheint vorher schon auf der Homepage, wird für die digitale Ausgabe noch einmal in anderer Form aufbereitet oder in den sozialen Medien in besonderer Art dargestellt. Einsame Jäger wie Baby Schimmerlos stünden heute auf verlorenem Posten. Das Geschichtenfinden und -erzählen ist zu einem echten Teamwork geworden. Wie sehr, lässt sich beispielsweise daran ablesen, dass die erste Besprechung zum Thema "1972-2022 - 50 Jahre Olympische Spiele in München" mehr als ein Jahr vor dem Jubiläum stattfand. Eine Beilage, ein Gewinnspiel, eine Serie zum Jubiläum, dazu ein historischer Live-Ticker, Instagram- und Facebook-Ausspielungen, ein Podcast und dazu fortlaufend aktuelle Berichte über den Stand der Verhandlungen zur Entschädigung mit den Überlebenden des Terroranschlags und Einblicke in bislang unbekannte Akten. Und das alles dank des Visual Desk gestaltet in einer einheitlichen Optik und von der Digitalabteilung in einem eigenen Digitaldossier gebündelt: Das Beispiel zeigt, was möglich wird, wenn aus der Begeisterung für ein Thema ein echtes Miteinander wird.

Ähnliches entstand in der ersten Phase der Corona-Pandemie, als Ausflüge in die unmittelbare Umgebung der eigenen Wohnung lange die einzigen Fluchten waren, die vielen blieben. In einer Konferenz wurde die Idee geboren, verschiedene Autorinnen und Autoren könnten sich auf für sie unbekannten Pfaden auf den Spuren zu jeweils einem Thema durch die Stadt bewegen. Herauskam eine Serie, die zu einem Buch anwuchs: "Streifzüge durch München. 24 kulturelle, historische und thematische Stadtspaziergänge". Derlei Kreativität lässt sich nicht planen, nicht verordnen. Sie entsteht, wenn viele zusammenwerfen, was ihnen durch den Kopf geht. Dann lässt sie sich aber auch nicht bremsen. Selbst nicht von widrigen Bedingungen wie denen, die eine Pandemie so mit sich bringt.

Dort, wo lokale Medien aussterben, nehmen Schmuddeleien zu

Allein mit dem Aufschreiben von dem, was war, ist es lange schon nicht mehr getan. Ein anderes Beispiel hierfür ist der Koalitionstracker: Dort wird für mehr als 80 Projekte, die sich die grün-rote Rathauskoalition bei ihrem Amtsantritt vorgenommen hatte, in regelmäßigen Abständen nachgezeichnet, was aus welchen geworden ist. Die Münchner Politik wird so überprüf- und begreifbar. Dass Studien belegen, dass dort, wo lokale Medien aussterben, Schmuddeleien zunehmen, kann niemanden überraschen, der je in einer Lokalredaktion gearbeitet hat.

Innerhalb der SZ kommt dem Lokalen eine Sonderrolle zu. Eine "Zeitung in der Zeitung" hieß es lange. Es gibt kaum einen anderen Teil, der sich strukturell so oft gewandelt hat, was auch damit zusammenhängt, dass sich die Stadt seit dem Bestehen der SZ dramatisch gewandelt hat, dass sie heute stärker denn je mit ihrem starken Umland verzahnt ist und immer noch das von einem roten Oberbürgermeister regierte Herz im schwarzen Bayern ist. Weil er seine Anpassungsfähigkeit so oft bewiesen hat, ist der Lokalteil auch eine Art Versuchslabor für die gesamte Redaktion: Ein neues Dienstplan-Tool lässt sich leichter mit denen ausprobieren, die in München sitzen, als mit den Korrespondenten, die in aller Welt verteilt sind. Ob Expressreporter oder Halbautomatik zur Produktion der Digitalausgabe: So manche Innovation hat ihren Ausgangspunkt in der Redaktion genommen, in der seit 2010 München, die Landkreisausgaben und Bayern organisatorisch zusammengefasst sind.

Es gab einmal eine Zeit, in der gleich drei Fußballvereine - der FC Bayern, der 1860 München und die SpVgg Unterhaching - in der Fußball-Bundesliga spielten. Entsprechend oft gab es Derbys. Was das Besondere an diesen sei, wurden die Fußballer damals oft gefragt - und als Antwort kam zumeist: "Wenn ich am Samstag treffe, werde ich eine Woche lang darauf angesprochen, beim Bäcker und beim Metzger und an der Tankstelle." Das gleiche gilt für den Lokaljournalismus: Jeden Tag ist Derby-Time. Wem ein Treffer glückt, der bekommt das oft und vielerorten zu hören. Das gleiche gilt allerdings auch für jemanden, der einmal danebenhaut. Beides schult und prägt und macht begehrt. Bei anderen Ressorts im Haus, aber auch für Sprecherrollen in Unternehmen oder Behörden. Und so kann es kommen, dass der Kollege, mit dem man lange viele Geschichten gemeinsam geschmiedet hat, eines Tages aus der neuen Rolle heraus erbost Nachrichten schickt, genau so gehe das ja partout überhaupt nicht mit dem Journalismus. Helmut Dietl hätte es sich nicht schöner ausdenken können.

Zur SZ-Startseite
77 Jahre Süddeutsche Zeitung

Jubiläum
:Wir feiern 77 Jahre SZ

Blicken Sie hinter die Kulissen von Deutschlands größter Qualitätstageszeitung. Und lesen Sie, was Prominente über die SZ zu sagen haben.

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: