Vor Gericht in München:Verteidiger im Angriffsmodus

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"Ein akutes Agieren, um das Verfahren voranzubringen, ist nicht möglich", sagt Gerichtspräsidentin Andrea Schmidt. (Foto: dpa)

Ein Anwalt brüllt im Gerichtssaal, beleidigt die Richterin, hustet ohne Mundschutz und wird sogar in Handschellen gelegt - doch viel kann die Justiz nicht gegen ihn tun.

Von Susi Wimmer, München

Es sind Szenen, die mit der Ordnung in einem deutschen Gerichtssaal nichts mehr zu tun haben: Ein Rechtsanwalt beschimpft eine Richterin als Lügnerin, dement und schizophren. Er weigert sich, eine Gesichtsmaske zu tragen, hustet in den offenen Raum, brüllt alle Prozessbeteiligten minutenlang nieder, und am Ende landet der Verteidiger, als er Justizbeamte angeht, mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden. Für den Tag erhält er Hausverbot. Um die Sache, nämlich den sexuellen Missbrauch eines Kindes, geht es längst nicht mehr. "Das Gericht wird daran gehindert, einen ordnungsgemäßen Prozess durchzuführen", sagt Andrea Schmidt, Präsidentin des Landgerichts München I. Gegenseitige Anzeigen laufen. Nur: Der Justiz sind die Hände gebunden.

Bereits im Mai hatte der Prozess gegen Alexander K. vor der 20. Kammer am Landgericht München I begonnen. Dem Münchner wird vorgeworfen, dass er seine Tochter im Alter zwischen sechs und acht Jahren sexuell missbraucht hat. Zu dem Zeitpunkt hatte er sich von der Mutter des Kindes bereits getrennt, das Kind kam jedes zweite Wochenende zu ihm zu Besuch. Die Beweisaufnahme in dem Prozess geriet allerdings ins Stocken. Ein Prozessbeteiligter sagt: "Stellen Sie sich vor, Sie spielen Mensch-Ärgere-Dich-Nicht. Es gibt Spielregeln. Und da ist einer, der hält sich an keine Spielregel. Er nimmt das Brett und knallt es gegen die Wand. Was ist dann?"

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Es ist der 27. Juli, Saal B 173, die Mutter des heute zehnjährigen Mädchens soll vor Gericht aussagen. Verteidiger Christian R. legt Widerspruch ein. Dann fängt er an, von einer "justiziellen Asozialität" zu reden, die man "aus NS-Prozessen" kenne. "Sie gehören hier nicht hin", fährt er Richterin Sigrun Broßardt an. Als diese antworten will, brüllt er weiter, minutenlang, unterbrochen von Hustenanfällen, ungeschützt. Broßardt bittet, R. möge nicht in den Raum husten. "Sie leiden an Wahnvorstellungen", schreit der Anwalt. Er habe ein Lungenproblem und sei nicht infektiös.

Die Sitzung wird, wie so oft, unterbrochen. Anschließend tragen alle im Gerichtssaal Mundschutz. Nur R. nicht. Er beschimpft die Staatsanwaltschaft als fachlich inkompetent und weigert sich, in die Armbeuge zu räuspern. Sein Hustenreflex sei psychosomatisch, "bei Menschen, vor denen ich mich ekle".

Nebenklage-Anwältin Claudia Enghofer versucht zu vermitteln, damit die Mutter an dem Tag noch vernommen werden kann. Diese ist bereits zum vierten Mal geladen, wartet wie immer in der Betreuungsstelle - und wird auch an diesem Tag nicht zur Aussage kommen. "Halten Sie den Mund", brüllt R. Alexander Betz, der gemeinsam mit R. verteidigt, rügt "die Verschleppung des Verfahrens".

Am 11. August sind alle Prozessbeteiligten zur Verhandlung erschienen - mit Ausnahme der Verteidiger. Betz und R. hatten im Vorfeld angekündigt, dass sie vermutlich nicht teilnehmen könnten, die Kammer hatte mit der dritten Wahlverteidigerin, Magali Bon, gerechnet. Doch die legte ihr Wahlmandat nieder. "Sie fühlte sich in dem Prozess unwohl", sagt ihr Kanzleikollege Alexander Betz.

Handfesseln und Platzverweis für den Anwalt

Am 18. August eskaliert die Situation. Laut Auskunft des Oberlandesgerichts stand R. während der Verhandlung auf, lief durch den Raum und mehrfach auf die Richterin zu. Diese musste aufstehen und sich an die Wand drücken, um den nötigen Abstand zu halten. Als sich Wachtmeister dazwischenschoben, habe sich R. mit dem Oberkörper gegen sie geworfen, worauf er zu Boden gebracht wurde. Wegen der heftigen Gegenwehr seien ihm Handfesseln angelegt worden. Nachdem der Anwalt sich nicht beruhigt habe, habe man einen Platzverweis ausgesprochen.

Präsidentin Andrea Schmidt saß selbst in einer dieser Verhandlungen, um sich ein Bild zu machen. "Das Verfahren zeigt, dass ein gewisser gesetzgeberischer Handlungsbedarf da sein könnte", sagt sie vorsichtig. Sie hat Strafanzeige gegen R. erstattet und als Vorgesetzte der Richterin auch Strafantrag gestellt. Sie hat eine Beschwerde an die Anwaltskammer geschrieben. Allerdings sind das Maßnahmen, die längerfristig ausgelegt sind. "Ein akutes Agieren, um das Verfahren voranzubringen, ist nicht möglich", sagt sie. Im Gerichtsverfassungsgesetz ist festgelegt, dass die Aufrechterhaltung der Ordnung in der Sitzung dem Vorsitzenden obliegt. Wer sich in der Sitzung "einer Ungebühr schuldig macht", dem drohen Ordnungsgeld oder -haft. Das gilt für Beschuldigte oder Zeugen, aber nicht für Verteidiger und Staatsanwälte.

Was hinzu kommt, ist der Eindruck, dass die Verteidiger den Prozess in die Länge ziehen, bis die Vorsitzende Richterin Ende des Jahres in Pension geht. Dann müsste der Prozess ausgesetzt und von Neuem verhandelt werden. "Nein", sagt Alexander Betz, der Eindruck täusche. Es sei ein komplexes Verfahren, "da ist viel schief gelaufen". Unter anderem moniert er, dass die Verteidigung gleich zu Beginn des Verfahrens Widerspruch dagegen eingelegt habe, einen Videovernehmung des Kindes zu verwerten. "Darüber hat die Kammer bis heute nicht entschieden." Das Oberlandesgericht sagt dazu, die Kammer wolle vor einer Entscheidung erst die Mutter des Kindes hören, um sich ein Bild vom Entwicklungsstand des Mädchens zu machen. Doch die Mutter zu vernehmen, sei bis heute nicht möglich gewesen.

Anwalt Betz erzählt, er habe R. als Verteidiger ins Boot geholt, weil dieser bereits Ende 2019 auch bei der 20. Kammer dabei gewesen sei und sich mit der Richterin "auskenne". Damals ging es um einen Mandanten, der im Verdacht stand, bei einer Pyjama-Party seiner Tochter Mädchen mit K.-o.-Tropfen betäubt und sich an ihnen vergangen zu haben. Die Verteidigung stellte 90 Anträge, der Prozess ging über Monate, "eine Boykottstrategie", wie die Richterin damals anmerkte. Am Ende musste der Prozess ausgesetzt werden, weil der Mutterschutz einer beisitzenden Richterin begann. Betz sagt, im aktuellen Fall sei das anders, "unser Mandant sitzt seit einem Jahr in Untersuchungshaft, da will keiner was in die Länge ziehen".

Anwalt Christian R. ist nicht erreichbar. Keine Internetseite, keine Mailadresse, nur eine Telefonnummer, die nicht besetzt ist. "Er agiert sehr im Stillen", sagt Betz.

Gerichtspräsidentin Schmidt indes meint, dass der Gesetzgeber aktiv werden müsse. In Ländern wie Frankreich, der Schweiz oder Österreich könne der Vorsitzende jeden, der die Ordnung stört, des Sitzungssaals verweisen oder Geldstrafen verhängen. Ein Rechtsstaat müsse auch in Extremsituationen handlungsfähig bleiben. "Und das ist er hier nicht."

© SZ vom 20.08.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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