Proteste in Belarus:Rippenbruch vom Regime

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Ein Soldat am Regierungssitz senkt sein Schild aus Solidarität mit den Demonstranten. (Foto: dpa)

Aus belarussischen Gefängnissen dringen Berichte von Gräueltaten nach außen. Viele inhaftierte Demonstranten schildern Gewaltanwendung und überfüllte Zellen, auch Journalisten werden zum Ziel von Angriffen.

Von Silke Bigalke, Moskau

Es sind Bilder krasser Gegensätze am Freitag in Belarus. Am Abend demonstrierten erneut in mehreren Städten Tausende Menschen friedlich gegen Präsident Alexander Lukaschenko. In Minsk standen und saßen sie vor dem Regierungsgebäude auf dem Unabhängigkeitsplatz. Frauen umarmten stockstarre Einsatzkräfte, steckten Blumen an deren Schilde. Die Sicherheitsbeamten wehrten sich nicht, griffen auch in die Proteste nicht ein. Am Abend löste sich die Demonstration auf, die Menschen verteilten sich in der Stadt.

Keine Szenen von Festnahmen und Prügeln wie in der ersten Wochenhälfte. Doch die friedlichen Bilder mischen sich mit Berichten von Folter und Misshandlungen in den Gefängnissen. Das belarussische Regime hatte seit Sonntag mindestens 6700 Menschen festgenommen, einen Teil der Gefangenen ließ es nun gehen. Die Mehrheit sitzt weiterhin in Gefängnissen. Viele, die rauskamen, brachten Rippenbrüche, schwere Blutergüsse, Platzwunden oder andere schlimmere Verletzungen mit.

Einige zeigten sie auf Fotos in den sozialen Netzwerken, sprachen in Videos über das Durchlebte. Vieles dringt über belarussische Nachrichtenseiten wie tut.by nach außen, das Portal war Anfang der Woche lange nicht aufrufbar. Auch über Telegram-Kanäle von Regimegegnern verbreiten sich die Leidensgeschichten.

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Um welche Art von Hilfe es sich genau handelt, sagte der unter Druck stehende Präsident von Belarus nicht. Die Proteste gegen die Wahl gingen auch am Samstag weiter.

Einsatzkräfte machten gezielt Jagd auf Pressevertreter

Das Regime hat kein Interesse an solchen Berichten und Bildern aus Belarus. Viele ausländische Journalisten erhielten von vornherein keine Akkreditierung. Korrespondenten im Land, belarussische und ausländische, liefen schon vor der Wahl Gefahr, festgenommen oder angegriffen zu werden. Der belarussische Journalistenverband BAJ zählte bis zum Mittwoch 133 schwerwiegende Rechtsverletzungen gegen Journalisten, wie Festnahmen, Arreste, Schläge. Teilweise machten Einsatzkräfte gezielt Jagd auf Pressevertreter.

Eine Journalistengruppe filmte, während sie mit Gummigeschossen attackiert wurde und eine Mitarbeiterin der belarussischen Zeitung Nascha Niwa am Knie getroffen wurde. Vor der Wahl wurde ein Team des russischen TV-Senders Doschd auf rabiate Weise festgenommen. Auch ein Kamerateam der BBC wurde angegriffen, Ausrüstung zerstört. Westen, um sich als Pressevertreter zu identifizieren, Akkreditierungskarten, all das nützte den Berichten zufolge nichts. Mehrere Dutzend Journalisten saßen oder sitzen im Gefängnis. Teilweise hatten ihre Redaktionen über Tage keine Nachricht von ihnen.

Vielen freigelassenen Demonstranten ist ihr Martyrium anzusehen. (Foto: AFP)

Nikita Telishenko, der für die russische Nachrichtenseite Znak.com berichtet, schrieb seinen Kollegen gerade eine Textnachricht, als die Polizei ihn aufgriff und ihm das Telefon abnahm. Als er vor der Polizeistation aus dem Gefängnisbus stieg, wurde er geschlagen. In einem Raum, in dem Menschen bereits dicht an dicht "in Blutlachen" auf dem Boden lagen, musste er sich dazu legen. Als kein Platz mehr auf dem Boden war, zwangen die Polizisten die Leute, sich aufeinanderzulegen. Am nächsten Morgen wurde er in eine überfüllte Gefängniszelle gesteckt, in der es so heiß war, dass Gefangene das Bewusstsein verloren.

Nikita Telishenko ist freigelassen worden, vermutlich auch, weil sich die russische Botschaft für ihn einsetzte. Er hat einen erschütternden Bericht über die Festnahme geschrieben.

Am Donnerstag berichtete tut.by über einen Brief, den Journalisten belarussischer Staatsmedien an die Regierung geschrieben hatten. Journalisten also, die dem Regime gegenüber normalerweise keine Kritik äußern, sondern im Gegenteil dessen Propaganda verbreiten. Sie forderten, dass Angriffe auf Kollegen sofort aufhören müssten. Außerdem dürfe das Internet nicht mehr abgestellt, die Arbeit von Nachrichtenportalen und Messenger-Diensten nicht gestört werden. Zuvor hatten bereits mehrere Moderatoren staatlicher Fernsehsender aus Protest gekündigt. "Dies ist ein Ruf des Gewissens und die Unmöglichkeit, die Gewalt ruhig zu betrachten", steht in dem Appell.

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Interview von Silke Bigalke

Der Widerstand gegen den Machthaber wird immer breiter. Frauen, Kinder, Fabrikarbeiter, Geistliche gehen gegen die Gewalt auf die Straße. Bedrohlich für Lukaschenko sind die Massenstreiks in den großen Staatsbetrieben. Das sind die Leute, die eigentlich seine angebliche Mehrheit stützen sollten. Jetzt versammelten sie sich draußen vor den Fabriken oder in den Werkhallen, um mit ihren Chefs zu diskutieren.

Manchmal wird dann abgefragt: Wer hat für Lukaschenko gestimmt? Wenige Handzeichen. Wer hat für Tichanowskaja gestimmt? Die große Mehrheit.

"Lasst nicht weiter diesen ungerechten Horror auf den Straßen zu"

Es sind nun Meldungen zu lesen wie die über einen Polizeikapitän aus Nowopolozk, der den Dienst quittierte, weil er nicht gegen die Protestierenden vorgehen wollte. Oder jene, die vom Solisten des belarussischen Bolschoi-Theaters handelt, der den Titel "Präsidialpreisträger" nicht mehr will. Oder von Beamten, die ihre Dienstausweise abgeben. Auch die vierfache Biathlon-Olympiasiegerin Darja Domratschewa appellierte an die Omon-Sondereinsatzkräfte, die Gewalt zu beenden. "Lasst nicht weiter diesen ungerechten Horror auf den Straßen zu", schrieb sie auf Instagram.

Auch Machthaber Lukaschenko meldete sich am Freitag zu Wort. Er sei am Leben und nicht im Ausland. Dann gab er erneut ausländischen Kräften die Schuld an den Protesten. Seine Herausforderin Swetlana Tichanowskaja wandte sich in einer neuen Videobotschaft an ihre Anhänger und rief zum friedlichen Protest auf. Sie war in der Nacht zu Dienstag unter Druck nach Litauen geflohen. "Ich appelliere an die Bürgermeister der Städte. Geht raus und fangt an zu reden und den Leuten zu zuhören", sagte sie nun. Die Bürgermeister hätten die Möglichkeit, "gesetzliche und friedliche Kundgebungen auf den Startplätzen zu organisieren".

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