Werkstatt Demokratie:Mehr zivilisierten Streit wagen

Werkstatt Demokratie: Streit - solang er konstruktiv ist - ist gut für die Demokratie.

Streit - solang er konstruktiv ist - ist gut für die Demokratie.

(Foto: rawpixel/Unsplash; Illustration Jessy Asmus)
  • Die Süddeutsche Zeitung setzt, in Kooperation mit der Nemetschek Stiftung, das Diskursprojekt Werkstatt Demokratie fort.
  • Leserinnen und Leser können noch bis Mittwoch für ihr Thema stimmen, zu dem die Redaktion recherchiert und Diskussionen organisiert.
  • Die Recherche-Ergebnisse sollen vom 8. bis zum 12. April präsentiert werden. Sie bilden die Grundlage für die Debatten (online und offline), zu denen die Redaktion einlädt.

Von Peter Lindner

Es ist wieder Streitzeit: Die Union rückt von ihrer bisherigen Flüchtlingspolitik ab, die SPD von Hartz IV. Für die große Koalition bedeutet das vor allem: Konflikte. Aber rücken die Streitparteien auch von zänkischen Umgangsformen ab, die die Gemeinschaft aus CDU und CSU und das Regierungsbündnis 2018 beinahe gesprengt hätten?

Die neuen Parteichefs Annegret Kramp-Karrenbauer und Markus Söder haben sich das zumindest vorgenommen. Nach ihrem ersten gemeinsamen Koalitionsausschuss hieß es, die Beratungen seien "in der Sache nicht einhellig, aber immer konstruktiv" verlaufen. Das könnte der Beginn einer neuen Diskurskultur sein - und damit die Demokratie stärken.

Dieser Artikel gehört zur Werkstatt Demokratie, ein Projekt der SZ und der Nemetschek Stiftung. Alle Beiträge der Themenwoche "Heimat Europa" finden Sie hier, alles zum Projekt hier.

"Konstruktiv" streiten über Ideen - nicht nur für Parteien ist das essentiell. Eine plurale Gesellschaft ist zwingend darauf angewiesen. "Ohne lebendigen Streit in der politischen Öffentlichkeit über die Grundlagen des Zusammenlebens erlahmt die Erneuerung demokratischer Gemeinwesen", sagt die Frankfurter Politikwissenschaftlerin Nicole Deitelhoff. Die Auseinandersetzung an sich sei ein Vehikel, über das immer wieder Zusammenhalt hergestellt werde.

Demokratie unter Stress

Doch nicht immer werden Konflikte in der Bundespolitik und in der Gesellschaft derzeit so ausgetragen, dass sie das Miteinander befördern, im Gegenteil. Es wird gegiftet, geschmäht und gepöbelt - nicht nur im Netz. Das verstärkt gesellschaftliche Fliehkräfte, wie auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zuletzt mehrmals warnte. Die Gegensätze in Deutschland seien schroffer geworden, die Mauern höher, der Ton schärfer. Die Demokratie steht unter Stress: Verächter der liberalen politischen Ordnung befinden sich im Aufwind, die Grenzen des Sagbaren verschieben sich nach rechts und die Empörungsspirale dreht sich weiter.

Gleichzeitig ziehen sich viele in ihre Filterblasen zurück und lassen sich vom immer gleichen Sound der Weltwahrnehmung einlullen. Oder wenden sich ganz ab von der Politik und aktuellen Debatten. Das ist Gift für die Gesellschaft und die Demokratie.

Das Gegengift ist der Austausch, das Gespräch - gerade auch mit Menschen, die nicht derselben Meinung sind - und der zivilisierte Streit. Aber wie geht das: zivilisiert streiten? Voraussetzung dafür ist unter anderem, dass die Streitparteien einander anerkennen als Personen mit gleichen Rechten und Pflichten. Dass sie bereit sind, dem anderen zuzuhören und zu akzeptieren, dass es nicht nur eine Lösung gibt. Und dass sie Unterschiedlichkeit aushalten. Die Philosophin Marie-Luisa Frick spricht vom Ideal der "zivilisierten Gegnerschaft" - einer Haltung, die jeder Einzelne einnehmen und einüben könne.

Leser setzen das Thema

Die Süddeutsche Zeitung hat schon 2017 damit angefangen, mit einem Format zu experimentieren, bei dem konstruktiv gestritten werden kann und die Suche nach Lösungen im Vordergrund steht. Von diesem Montag an geht die Werkstatt Demokratie, ein gemeinsames Projekt der SZ und der Nemetschek Stiftung, in die zweite Runde.

Auch diesmal setzen Leserinnen und Leser das Thema, zu dem SZ-Redakteure dann recherchieren und Diskussionen organisieren. Auf SZ.de können Sie noch bis Mittwoch abstimmen, welche dieser drei Fragestellungen Sie am meisten interessiert:

werkstatt demokratie

Das Ergebnis in Kürze auf SZ.de

(Foto: Manuel Kostrzynski)

Was steckt hinter den Themen?

Die Fragen zu den Themen sind bewusst offen gestellt, wir wollen sie gemeinsam mit Ihnen beantworten - Schwerpunkte setzen, Anregungen aufnehmen, Aspekte herausarbeiten.

  • Frage 1: Billig, bio, fair - wie geht besser essen? Gutes Essen tut im Idealfall auch Tieren, Bauern und der Umwelt gut. Wie also bekommen wir das hin: Uns gut zu ernähren, aber nicht auf Kosten anderer? Und am besten auch so, dass es sich auch Menschen mit weniger Geld leisten können?
  • Frage 2: Europas Zukunft - in welcher Heimat wollen wir leben? Es ist viel um Ober-, Außen- und Binnengrenzen gestritten worden in letzter Zeit; um Wildschweinzäune und darüber, wo Europa - Stichwort Brexit - eigentlich aufhört. Wir wollen uns davon nicht einengen lassen und wollen die Debatte aus einer anderen Perspektive führen: Was macht Heimat aus? Und wie passt eigentlich Europa dazu?
  • Frage 3: Wie viel Tourismus verträgt die Natur? Tourismus bringt Arbeitsplätze. Tourismus bedeutet aber auch Blechlawinen, Müll, Schneekanonen und Pistenwüsten. Wie bringt man die verschiedenen Interessen in Einklang: die der Bewohner, die der Umwelt und die der Erholungssuchenden? Urlaub wollen wir alle machen - nur wie am besten?

Das Ergebnis des Votings veröffentlichen wir Ende der Woche. (Automatische Updates? Dann melden Sie sich einfach hier an.) Mehrere SZ-Autoren und Reporter werden dieses Thema anschließend in Beiträgen aufarbeiten. Bei einem Dialogformat in Südbayern wollen wir außerdem mit Lesern intensiver ins Gespräch kommen (Details folgen).

Vom 8. bis 12. April veröffentlichen wir die Rechercheergebnisse. Diese Informationen sollen die Basis bilden für die anschließenden Diskussionen - online und bei Workshops im "Haus der Berge" in Berchtesgaden. Wie Sie sich für die Veranstaltung anmelden können, erfahren Sie in Kürze auf unserer Projektseite.

Lernen von Macron

Ob sich die politische Streitkultur tatsächlich verbessert, hängt 2019 maßgeblich von den Protagonisten der Parteien ab, nicht nur von jenen der großen Koalition. Nahezu alle bundespolitisch relevanten Kräfte experimentieren gerade mit neuen Dialog-Initiativen - das Debattencamp der SPD oder das Werkstattgespräch der CDU sind nur zwei Beispiele. In Frankreich erfährt gerade Präsident Emmanuel Macron mit seiner Debatten-Tour durch die Republik viel Zuspruch, bei der er in der Provinz mit Lokalpolitikern und Bürgern diskutiert.

Die Europawahl und die vier Landtagswahlen bieten in diesem Jahr genügend Gelegenheiten für einen Wettstreit der Ideen. Dabei steht im besten Fall nicht der schrille Slogan, sondern das sachliche Argument im Vordergrund. Für Parteien ist dies eine neue Chance, mehr zivilisierten Streit zu wagen und so Vertrauen bei den Bürgern zurückzugewinnen. Denn, davon ist die Philosophin Marie-Luisa Frick überzeugt: Eine Demokratie, in der nicht zivilisiert gestritten wird, ist "zutiefst gefährdet".

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