Zwischenfall im Herbst:Auf der Spur der radioaktiven Wolke

Russsiches Atomzentrum von Waldbränden bedroht

Die Nuklearanlage im russischen Majak ist einer der wenigen Anbieter weltweit, die aus ausgebrannten Brennelementen von Kernkraftwerken Proben für die Forschung herstellen.

(Foto: picture alliance / dpa)
  • Im vergangenen Herbst wurde in Europa eine leicht erhöhte Radioaktivität gemessen.
  • Eine offizielle Erklärung zur Ursache fehlt bis heute.
  • Doch aus einem Teilchenforschungslabor in Mittelitalien kommt nun ein entscheidender Hinweis.

Von Patrick Illinger

Noch immer gibt es keine offizielle Erklärung für den Nuklearunfall, der im vergangenen Herbst eine Wolke leicht erhöhter Radioaktivität über Europa trug. An mehreren Stellen des Kontinents hatten Messstationen eine erhöhte Aktivität von Ruthenium-106 festgestellt. Woher das radioaktive Isotop stammte, war zunächst unklar. Insbesondere Russland verneint weiterhin, Kenntnis von einem Unfall zu haben, obgleich meteorologische Berechnungen darauf hindeuten, dass die Wolke dort ihren Ursprung nahm. Nun verdichten sich die Hinweise, wonach das Ruthenium aus der russischen Nuklearanlage bei Majak stammt.

Welche Menge des radioaktiven Isotops freigesetzt wurde, ließ sich bereits kurz nach dem Zwischenfall auf Basis der in Europa gemessenen Aktivität berechnen. Insgesamt sind nur ein bis vier Gramm Ruthenium-106 in die Atmosphäre gelangt. Als die Wolke über Europa zog, wurde pro 1000 Kubikmeter Luft nur ein einziger radioaktiven Zerfall pro Sekunde gemessen (ein Becquerel). Das ist weniger als die überall auf der Erde vorhandene natürliche Radioaktivität. Die schwach radioaktive Ruthenium-Wolke war somit zu keiner Zeit eine Gefahr für die Gesundheit. Das Isotop wurde nur entdeckt, weil es entsprechend empfindliche Messgeräte gibt.

Dennoch bleibt die Frage: Wo ist die Wolke entstanden? Weil ausschließlich Ruthenium-106 gefunden wurde, waren Nuklearexperten schnell einig, dass ein Kraftwerksunfall nicht als Ursache infrage kommt. In einem Kernreaktor entstehen alle möglichen Isotope und nicht nur Ruthenium. Der Verdacht fiel auf eine Anlage, die radioaktive Bauteile herstellt - zum Beispiel für medizinische oder wissenschaftliche Geräte.

Russlands Experte behauptet, es handele sich um ein "seltenes meteorologisches Ereignis"

Tatsächlich kommt soeben eine mögliche Erklärung aus einem Teilchenforschungslabor in Mittelitalien. Physiker, die unter dem Granitberg Gran Sasso Elementarteilchen aus dem Weltraum messen wollten, hatten im Jahr 2016 in Majak eine Strahlenquelle des Isotops Cer-144 bestellt. Solche Quellen werden benötigt, um Elementarteilchen-Detektoren zu kalibrieren. Weil die Energie der Zerfallsteilchen von Cer-144 exakt bekannt ist, lässt sich damit die Empfindlichkeit der Detektoren präzise einstellen.

Die Nuklearanlage in Majak ist einer der wenigen Anbieter weltweit, die aus ausgebrannten Brennelementen von Kernkraftwerken solche Proben für die Forschung herstellen. Diese müssen klein sein, damit man sie in die empfindlichen Teilchendetektoren einführen kann. Bei der Abtrennung von Cer-144 aus abgenutzten Brennelementen eines Kraftwerks wird mit hohen Temperaturen gearbeitet, um die Spaltprodukte zu separieren. Geht dabei etwas schief, so kann sich aus dem Gebräu Ruthenium mit Sauerstoff zu Rutheniumoxid verbinden und als Gas in die Luft aufsteigen.

Die Lieferung der Probe für das Untergrund-Experiment namens SOX war für Anfang 2018 zugesagt worden. Doch im Dezember 2017, so berichtet es die Zeitschrift Science, erklärten die russischen Lieferanten, nur eine Probe mit deutlich verringerter Intensität liefern zu können. Für die Teilchenphysiker war das eine massive Enttäuschung. Vor zwei Wochen teilten sie mit, ihr Experiment aufzugeben.

Die nicht gelieferte Probe, das Isotop Ruthenium, die meteorologischen Berechnungen - alles weist somit nach Majak. Dennoch leugnet Leonid Bolschow vom Russischen Institut für Nuklearsicherheit einen Zusammenhang. Er vermutet ein "äußerst seltenes meteorologisches Ereignis", welches die Strahlungswolke von irgendwo her nach Majak und später nach Europa geweht habe.

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