Zoologie:Das Rätsel der Meeresschildkröte

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Nachdem sie am Strand aus dem Ei geschlüpft sind, stürzen sich Unechte Karettschildkröten so schnell wie möglich ins Meer. (Foto: AFP)
  • Nach dem Schlüpfen verschwinden Meeresschildkröten sofort ins Meer - und kehren erst Jahrzehnte später an den Strand zurück.
  • Wie die Lebensweise der Schildkröten in der Zwischenzeit aussieht, ist bislang unbekannt.
  • Forscher sind dabei, das Geheimnis zu lüften - zum Beispiel, indem sie junge Schildkröten mit Sendern ausstatten.

Von Katrin Blawat

Junge Meeresschildkröten zählen zu den rätselhaftesten Tieren überhaupt. Sie schlüpfen am Strand, doch dann verschwinden sie im Meer und bleiben oft jahrelang unauffindbar. Erst wenn sie mit 15 oder auch erst 30 Jahren geschlechtsreif sind, tauchen zumindest die Weibchen zur Eiablage an genau jenem Strand wieder auf, an dem sie einst geschlüpft sind. Doch was passiert in der Zeit dazwischen? Wo genau sich die Babyschildkröten in den Weiten der Ozeane herumtreiben, wie weit sie ihren Geburtsort hinter sich lassen und was ihre Kindheit und Jugend prägt - bis heute liegen die Antworten darauf größtenteils im Dunkeln. Die erste Lebensphase der Tiere ist derart mysteriös, dass Forscher sie gar als die "verlorenen Jahre" der Meeresschildkröten bezeichnen.

Mit dieser blumigen Umschreibung ihres Unwissens will sich Katherine Mansfield nicht zufrieden geben. Die Biologin der University of Central Florida gehört zu jenen Pionieren, die daran tüfteln, die Wege junger Meeresschildkröten mithilfe moderner Satellitentechnik zu verfolgen. Erstmals ist Mansfield und ihrem Team dies nun bei Jungtieren im Südatlantik gelungen ( Proceedings B der Royal Society).

19 Unechte Karettschildkröten bekamen einen Sender mit auf den Weg

Über den Schildkröten-Nachwuchs dort ist bisher noch weniger bekannt als über die Artgenossen im Nordatlantik. Für die Forscher bedeutet diese Ahnungslosigkeit offenbar eine harte Prüfung: "Es ist, wie wenn du dein Kind zum ersten Mal im Kindergarten abgibst und wissen willst, was es dort den ganzen Tag macht", so beschrieb es einmal einer von Mansfields Co-Autoren.

Etwa 5000 Tiere schlüpfen jährlich an den Stränden des brasilianischen Bundesstaates Bahia, doch bislang haben sich deren Spuren danach meist schnell verloren. Daran haben auch die technischen Fortschritte wenig geändert, dank denen die Wanderungen vieler Tiere inzwischen per Satellit verfolgt werden können. Doch sind die benötigten Sender meist noch zu wuchtig, um sie den winzigen, frisch geschlüpften Tieren auf den Panzer zu kleben. Dieses Problem umgingen die Biologen nun, indem sie 19 Unechte Karettschildkröten, die an der brasilianischen Küste geschlüpft waren, zunächst ein Jahr lang im Labor aufzogen. Dann waren die Tiere groß genug, um mühelos die knapp zehn Gramm schweren Sender auf ihrem Panzer tragen zu können.

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In drei Wellen entließen die Forscher ihre halbstarken Schützlinge in den Südatlantik vor der Küste Bahias. Einige Tiere begannen ihre Reise im November, andere im März und die übrigen im Mai. Damit simulierten die Wissenschaftler die natürlichen Abläufe: An brasilianischen Stränden schlüpfen die kleinen Schildkröten nicht alle auf einmal, sondern im Verlauf eines halben Jahres.

In den ersten 24 Stunden im Meer machen die winzigen Reptilien keine Pause

Genau in dieser Zeit, zwischen November und Mai, ändern im Südatlantik auch einige Meeresströmungen ihre Richtung und Intensität. Das hat erhebliche Folgen für das Schicksal der kleinen Schildkröten, wie die über maximal 120 Tage reichenden Satellitendaten zeigten. Tiere, die im November in den offenen Ozean entlassen worden waren, bewegten sich in südliche Richtung. Wer seine Reise später begann, überquerte dagegen manchmal sogar den deutlich nördlich gelegeneren Äquator.

Anhand von Hochrechnungen und Analysen der Meeresströmungen schätzen die Forscher, dass unter natürlichen Bedingungen etwa drei Viertel der vor Bahia schlüpfenden Schildkröten im Südatlantik bleiben. Der Rest gelangt in nördlichere Gewässer. Möglicherweise helfe die weitflächige Verteilung der Population, negative Umweltveränderungen und schädliche Einflüsse des Menschen abzupuffern, vermuten die Autoren.

Allerdings sind die Jungtiere den Meeresströmungen nicht vollständig ausgeliefert. Um das zu untersuchen, hatten die Forscher auch Bojen mit Sendern versehen. So konnten sie verfolgen, dass sich die Wege der Bojen und der Tiere bald trennten. Die Schildkröten lassen sich demnach zwar ebenfalls treiben, schwimmen zusätzlich jedoch auch aktiv und verhindern so zum Beispiel, wieder zurück zur Küste gespült zu werden. Erste Hinweise auf dieses Zusammenspiel aus passiver und aktiver Fortbewegung hatten sich bereits vor drei Jahren im Nordatlantik gezeigt, als Mansfield und ihre Kollegen zum ersten Mal überhaupt junge Meeresschildkröten über einen längeren Zeitraum per Satellit verfolgen konnten.

Allerdings waren auch diese Tiere schon mehrere Monate alt gewesen, als sie ins offene Meer kamen. Dies könne das Verhalten der Tiere beeinflusst haben, gibt Rebecca Scott vom Geomar Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung in Kiel zu bedenken. Die aktuelle Studie hält sie für wertvoll, doch "der wirkliche Durchbruch wird erst kommen, wenn Satellitensender klein genug sind, um sie an schlüpfenden Meeresschildkröten zu befestigen", sagt die Wissenschaftlerin. "Leider wird das aber so bald nicht der Fall sein."

Scott und ihre Kollegen haben es daher vor drei Jahren mit einem anderen Ansatz probiert, um jungen Schildkröten im Südatlantik auf die Spur zu kommen. Allerdings ging es den Forschern dabei nicht um die "verlorenen Jahre", sondern nur um die allerersten Stunden, nachdem die Kleinen sich aus ihren Eiern herausgearbeitet hatten. Unter anderem verfolgten die Wissenschaftler die Babyschildkröten vom Boot aus mithilfe von akustischen Sendern. Dies funktioniert aber nur, solange die Tiere Töne von sich geben; es birgt daher stets die Gefahr, unterwegs die Spur der Schildkröten zu verlieren.

Als Scott und ihre Kollegen zusätzlich Laborexperimente mit frisch geschlüpften Schildkröten auswerteten, zeigte sich, wie temporeich die Kleinen ins Leben starten. Kaum geschlüpft, sprinten sie so schnell wie möglich ins Wasser. So haben Fressfeinde geringere Chancen, ein Jungtier zu erwischen. Doch im Meer angekommen, wird es für die Schildkrötenkinder erst so richtig anstrengend. Ohne Unterbrechung bleiben sie 24 Stunden lang aktiv. Erst danach ändern sie ihren Rhythmus und gönnen sich auch nächtliche Ruhepausen. Die verlorenen Jahre, sie beginnen ziemlich hektisch.

© SZ vom 07.12.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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