Zeitgenössische Archäologie:Warum Sex-Pistols-Kritzeleien Forscher beschäftigen

Sex-Pistols-Graffiti; Sex Pistols Drawing

Ein Selbstportrait des Sex-Pistols-Sängers Johnny Rotten auf einer Zimmerwand im Haus an der Denmark Street 6, in dem Sex-Pistols-Musiker Mitte der Siebzigerjahre wohnten

(Foto: John Schofield/ Paul Graves-Brow)

Gegenwartsarchäologen erforschen Dinge des Alltags, als seien sie Schätze der Geschichte. Was das mit Wissenschaft zu tun hat? Eine ganze Menge.

Von Esther Widmann

Der Skulpturenschmuck griechischer Tempel? Ein schönes Pfostenloch eines jungsteinzeitlichen Langhauses? John Schofield, Direktor des Archäologischen Instituts der Universität von York in England, schreibt lieber Aufsätze mit Titeln wie "Bürokulturen und Firmengedächtnis: Archäologische Perspektiven". Oder auch "Brixton: Landschaft einer Ausschreitung". Schofield interessiert sich nicht so sehr für jahrtausendealte Steine oder Keramikscherben.

Was er macht, nennt sich "Contemporary Archaeology", zeitgenössische Archäologie. Mit seinen Studenten hat er schon einen 25 Jahre alten Ford-Transit-Lieferwagen ausgegraben beziehungsweise auseinandergenommen und dabei nach allen Regeln der archäologischen Kunst dokumentiert. Er hat ein Obdachlosenlager in Bristol untersucht und kürzlich auf dem Teufelsberg in Berlin die Abhöranlagen aus dem Kalten Krieg.

Eines der prominentesten Projekte ist die Ausgrabung eines Ford-Transit-Lieferwagens

Was hat das mit Archäologie zu tun? Diese Frage hört Schofield immer wieder - und sie nervt ihn. Denn er bezieht sich auf einen berühmten Satz, den der Archäologie-Revolutionär David Clarke 1973 prägte: "Archäologie ist das, was Archäologen tun." Schofields Verständnis von Archäologie ist gänzlich losgelöst von Epochen oder geografischen Einteilungen: "Unserer Ansicht nach ist Archäologie ein Ansatz, ein Set von Methoden, Ideen und Perspektiven, die genutzt werden, um die Vergangenheit anhand ihrer materiellen Hinterlassenschaften zu untersuchen." Ob es sich dann um einen antiken Streit oder einen modernen Lieferwagen handele, sei folglich egal, erklärt er in Bezug auf sein vermutlich meistzitiertes Projekt, jene Ausgrabung eines Ford Transit.

Er bekennt, dass zu Beginn des Projekts 2006 auch viele Kollegen skeptisch gewesen seien. Auf die Frage, warum er ein Auto ausgegraben hat, antwortet er lediglich: "Warum nicht?" Zwar geben die Autoren in ihrem wissenschaftlichen Bericht über das Projekt an, auch Diskussion und Reflexion über das eigene Tun anregen zu wollen. Doch was der Nutzen eines solchen Projektes sein könnte, diese berechtigte Frage beantworten sie nicht. Auch auf Nachfragen bleibt Schofield die Antwort schuldig, warum ein Archäologe, der sich - zumindest der Wortbedeutung nach - mit alten Dingen beschäftigt, zeitgenössische Orte erforschen sollte und warum er das nicht einem Soziologen, Ethnologen oder Anthropologen überlassen kann.

Zumindest im angelsächsischen Raum haben solche ungewöhnlichen Ideen durchaus eine gewisse Tradition. In den 1960er- und 1970er-Jahren wandten sich Archäologen wie jener David Clarke gegen viele gängige Theorien und entwickelten die sogenannte New Archaeology: Kultur sollte als Prozess angesehen werden, und die Archäologie sollte nicht mehr nur Daten sammeln, sondern ergründen, warum Veränderungen stattfinden. So kamen auch neue Methoden ins Spiel: 1987 etwa untersuchte der namhafte Archäologe Ian Hodder die soziale Bedeutung von Fliegen, also zur Schleife gebundenen Krawatten, die die Angestellten in einer britischen Haustierfutterfabrik um den Hals trugen.

So hoffte er, das Verhältnis von sozialen Gepflogenheiten, materieller Kultur und Bedeutung in menschlichen Gesellschaften besser zu verstehen. Dieser Ansatz gleicht dem der sogenannten Ethnoarchäologie, die zum Beispiel Handwerkstechniken oder Rituale zeitgenössischer Gesellschaften dokumentiert, um Rückschlüsse auf ähnliche Vorgänge in vergangenen Zeiten ziehen zu können.

Reste dieses Ansatzes sind auch bei Schofield mitunter noch zu erkennen. Als Angestellter bei der englischen Denkmalpflegeorganisation English Heritage machte er kurzerhand deren Umzug in ein anderes Gebäude zum wissenschaftlichen Forschungsobjekt: Was bedeutet es für das Unternehmensgedächtnis, wenn Dinge aussortiert und weggeworfen werden, wenn ein langjähriger Standort aufgegeben wird? Eine schicke Cashmere-Strickjacke, die er auf einem Stuhl in einem der verlassenen Büros entdeckt hat, vergleicht er mit einer Halskette, die Archäologen auf der Türschwelle eines neolithischen Hauses auf den Orkney-Inseln ausgruben.

Es stellen sich, erkennt Schofield, exakt die gleichen Fragen: Warum ist der Gegenstand an dieser Stelle zurückgelassen worden? War es Absicht oder ein Versehen? Gehörte er zu jemandem, der oft oder immer an diesem Ort war, oder einem einmaligen Besucher? Dann aber kommt Schofield über diesen Punkt nicht hinaus: Was genau der weitere Nutzen dieser Parallele ist oder was sie zur Beantwortung der Fragen an die Objekte beitragen kann - dazu äußert sich Schofield auch auf Nachfrage nicht.

Er verweist auf seine Schriften. Dort erklärt er: Die Analyse der modernen materiellen Kultur und die Archäologie der jüngsten Vergangenheit sollen Erkenntnisse über uns selbst und weniger über die "tiefere" Vergangenheit ermöglichen. Allerdings sind auch die versprochenen Erkenntnisse über uns selbst nicht sofort ersichtlich.

Wandkritzeleien der Punk-Band "Sex Pistols" haben Denkmalstatus

So provozierten Schofield und sein Kollege Paul Graves-Brown 2011 Schlagzeilen und Kritik: Sie verglichen die Bedeutung von Bildern, die der Sex Pistols-Sänger Johnny Rotten in der Hochzeit des Punk an die Wand seines Quartiers in London kritzelte, mit der der altsteinzeitlichen Höhlenmalereien von Lascaux. Dabei ging es ihnen gar nicht darum, dass die Punk-Kritzeleien Denkmalstatus erhalten sollten - was 2016 dennoch geschah - , weil auch die Bilder von Lascaux nicht immer schon 17 000 Jahre alt waren und niemand wissen kann, was später einmal für wichtig und erhaltenswert angesehen werden wird.

Stattdessen plädierten sie, eine solche museale Erhaltung der "Kunstwerke" entspräche nicht der Intention ihrer Urheber, und forderten deshalb einen Ansatz bei der Denkmalpflege, der "mehr Punk" ist. Was auch immer man davon hält: Die Bilder sind ein Zeugnis der Vergangenheit, auch wenn diese noch nicht sehr alt ist.

Rodney Harrison, Professor für Heritage Studies am University College London, fordert hingegen eine grundsätzliche Umorientierung der Archäologie als Ganzes weg von der Vergangenheit und hin zur Gegenwart und Zukunft. Die Vergangenheit wäre dann nur noch dort von Interesse für den Archäologen, wo sie "in die Gegenwart eingreift". Er will auch weg vom Konzept der Ausgrabung, denn: Die Vergangenheit könne als statisch angesehen werden und eigne sich deshalb zur Ausgrabung.

Die Gegenwart aber sei ein "bewegliches Ziel", und "man kann eigentlich nicht etwas ausgraben, das gerade passiert". Harrison fordert, sich nicht mit Dingen zu beschäftigen, die nicht mehr funktionieren, verlassen oder weggeworfen wurden, sondern auch mit zeitgenössischen Objekten und Orten, die noch in Gebrauch sind. Das würde die Auflösung der Archäologie als eigenständige Disziplin und ihre Verschmelzung mit der Soziologie und Ethnologie bedeuten.

Republik Freies Wendland bei Gorleben

Auch die Überreste des Protestlagers "Freie Republik Wendland", das Atomkraftgegner 1980 errichteten, sollen demnächst archäologisch untersucht werden.

(Foto: dpa/Werner Baum)

In Deutschland sind solche Ideen und diese Art der Archäologie so gut wie nicht existent. Eine Umfrage an die Landesämter für Denkmalpflege ergab im Jahr 2014, dass bislang keine Projekte zur Archäologie der Gegenwart existieren. Allenfalls mit Zeugnissen der NS-Zeit haben sie mitunter zu tun, und auch die Erfassung der Reste der Berliner Mauer durch Leo Schmidt von der Technischen Universität Cottbus-Senftenberg fällt noch in diese Kategorie. Allerdings sind solche Projekte in der Regel stärker denkmalpflegerisch ausgerichtet als die von Schofield. So ist es auch in der Industriearchäologie, die meist lediglich auf die Erhaltung aufgegebener Produktionsanlagen und nicht auf eine archäologische Auswertung zielt.

Ein Doktorand aus Hamburg will jetzt das Protestlager der Atomkraftgegner im Gorleben der 1980er-Jahre, die "Freie Republik Wendland", ausgraben. Darüber, ob das der Intention der Demonstranten von damals widersprechen könnte, hat er sich noch keine Gedanken gemacht.

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