Zahlenverständnis:Die Rechenkünste der Tiere

Hühner und Ei

Sogar Hühner haben eine Art Zahlenverständnis. Sie fangen erst an zu brüten, wenn mehrere Eier im Nest liegen.

(Foto: Victoria Bonn-Meuser/dpa)

Hühner, Pferde, Hunde und weitere Tiere haben eine Art Zahlenverständnis. Forscher streiten, was dahinter steckt: Evolution oder Kultur?

Von Joachim Laukenmann

Alex war ein Graupapagei. Und eine Art Mathematikgenie. Wurden ihm Objekte - zum Beispiel Kekse oder Bohnen - präsentiert, addierte er deren Anzahl meist korrekt und krächzte auf Englisch die entsprechende Antwort. Sogar Ziffern habe Alex zusammenzählen können, berichtete seine Mentorin, die Psychologin Irene Pepperberg von der Harvard University, vor einigen Jahren im Journal Animal Cognition.

Viele weitere Tierarten scheinen eine ähnliche, wenn auch nicht immer ganz so ausgefeilte Mathebegabung zu besitzen. Hennen beginnen erst dann zu brüten, wenn eine gewisse Anzahl Eier im Nest liegt. Küken können bereits kurz nach der Geburt die Anzahl hinter einem Vorhang verschwindender Objekte erfassen. In diversen Experimenten haben auch menschliche Babys, Pferde, Hunde, Wölfe, Primaten, Delfine, ja selbst Amphibien und Fische simple Aufgaben bewältigt, die mathematische Fähigkeiten zumindest suggerieren. All das zeigt, könnte man denken, dass Zahlenkompetenz in den Genen steckt und von Geburt an fest im Gehirn verdrahtet ist. Sie wäre demnach ein Resultat der Evolution.

"Auch einem Tier kann man nichts beibringen, was seinen geistigen Horizont übersteigt."

Falsch, sagt der Kognitionswissenschaftler Rafael Núñez von der University of California in San Diego. Für ihn ist der Umgang mit abstrakten Zahlen kein Produkt der Evolution, sondern eine vorwiegend kulturell erworbene Fähigkeit. Richtig, sagt der Neurobiologe Andreas Nieder von der Universität Tübingen. Für ihn hat sich das Jonglieren mit abstrakten Zahlen evolutionär entwickelt. Beide Forscher lieferten sich kürzlich im Fachblatt Trends in Cognitive Sciences einen Schlagabtausch.

Núñez kritisiert unter anderem die Interpretation der Tierversuche. "Wenn man einen Seehund lehrt, durch einen Feuerring zu springen, sagt das nichts darüber aus, wie Seehunde in der Natur mit Feuer umgehen", sagt Núñez, der seinen Doktortitel an der Universität Freiburg erlangt hat. Ebenso würde die im Labor durch langes Training erlernte Rechenleistung von Tieren nichts über den evolutiv erworbenen Umgang mit Zahlen aussagen. "Diese Resultate entstehen in einem künstlichen Umfeld und werden daher völlig überinterpretiert." "Das kann ich so nicht stehen lassen", sagt Nieder. "Auch einem Tier kann man nichts beibringen, was seinen geistigen Horizont übersteigt." Das Gehirn müsse bereits entsprechend verdrahtet sein, sonst könne man Tieren diese Rechenkünste nicht beibringen.

Núñez bezweifelt keineswegs, dass Tiere und Menschen gewisse Fähigkeiten evolutiv entwickelt haben, etwa den groben Umgang mit Mengen. Aber ein abstraktes und präzises Zahlensystem, wie es die Menschheit entwickelt hat, sei eine kulturell bedingte Ergänzung zu den evolutiv entstandenen Fähigkeiten. Der Wissenschaftler begründet diese These mit dem Verweis auf Kulturen, die zwar eine ausgeklügelte Sprache, aber keine exakte Quantifizierung entwickelt haben. "In Australien besitzen von 189 Sprachen 85 Prozent keine Zahlen über vier", sagt Núñez. Diese Kulturen würden zwar zwischen zwei und drei und zwischen wenig und viel unterscheiden, nicht aber zwischen 102 und 103 oder zwischen einer Million und einer Milliarde. "Das zeigt, dass die Entwicklung von abstrakter Zahlenkompetenz ein kulturelles Phänomen ist. Nur wenn es das kulturelle Umfeld verlangt, werden exakte Zahlensysteme entwickelt."

Núñez illustriert seine These durch einen Vergleich: Um das Snowboarden zu beherrschen, sind einige biologische Fähigkeiten wie gutes Gleichgewicht und die Koordination der Gliedmaßen absolut notwendig. Diese Eigenschaften für sich genommen machen aber noch keinen Snowboarder. "Niemand würde sagen, Snowboarden habe sich evolutionär entwickelt", sagt Núñez. "Neben den biologischen Fähigkeiten braucht es kulturelle Aspekte, damit etwas wie Snowboarden entstehen kann."

Das Gleiche gelte für die Zahlenkompetenz. Hierfür brauche es zwar die evolutionär entwickelte Fähigkeit zum groben Umgang mit Quantitäten. Aber diese evolutiv hervorgegangenen Fähigkeiten führen laut Núñez noch nicht zur Verwendung exakter, symbolischer und abstrakter Zahlen. Nieder widerspricht: "Sicher gibt es kulturell erlernte Anteile in unseren mathematischen Fähigkeiten. Aber sie alle bauen auf hart im Hirn verdrahteten, angeborenen Eigenschaften auf. Nicht nur der qualitative Umgang mit Mengen, auch die Fähigkeit, symbolische Zahlen zu erfassen, ist angeboren."

Was nach einem theoretisch abgehobenen Zwist klingt, hat durchaus praktische Relevanz, und zwar im Bereich Bildung und Wissenschaft. Nieder interessiert sich, wie er sagt, "für die Gesetzmäßigkeiten hinter unserem Zahlenverständnis. Wenn das vorwiegend kulturelle Extravaganzen sind, dann ist das wissenschaftlich nicht mehr zugänglich. Dann interessiert es mich auch nicht mehr".

Wenn unsere Mathefähigkeiten umgekehrt im Gehirn verdrahtet sind, lässt sich wenig daran ändern. Je größer jedoch der Einfluss der Kultur oder der Erziehung zum Beispiel auf Rechenschwäche ist, desto eher könnte man laut Núñez dieser Dyskalkulie durch gute Lernpraktiken entgegenwirken. "Derzeit wird im Bereich der Bildung häufig ein neurowissenschaftlicher Blickwinkel eingenommen", sagt Núñez. "Aber wenn wir dem Aspekt der Evolution und den Genen hier zu viel Gewicht geben, erweisen wir der Bildung einen Bärendienst."Das stimme nicht, sagt Nieder. "Nur wenn es eine neurobiologische Grundlage für unsere Zahlenfähigkeit gibt, sind Therapien und Behandlungsansätze für Dyskalkulie nach wissenschaftlichen Maßstäben überhaupt denkbar."

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