Wissensmacht Indien:Rikschas und Raketen

Arm an Geld, reich an Köpfen: Trotz enormer gesellschaftlicher Gegensätze ist Indien auf dem Sprung zur Supermacht des Wissens.

Patrick Illinger

So ungefähr muss das früher gewesen sein, bei den Moguln und Sultanen. Bevor seine Exzellenz erscheint, besprüht ein Bediensteter die Örtlichkeit mit Rosenduft. Eine halbe Stunde später füllt sich der Besucherraum mit Leibwächtern, einer prüft die ordnungsgemäße Funktion der Sitzgelegenheiten. Nur die Klimaanlage, die das Zimmer auf gefühlten 15 Grad hält, wird es wohl nicht gegeben haben, damals, als noch Feudalherren über Andhra Pradesh herrschten. Ansonsten hat eine Audienz beim heutigen Ministerpräsidenten des indischen Bundesstaates viel hegemonialen Flair.

Indische Schule, AP

Lernen in Indien: Mit einer massiven Bildungsoffensive will das Land zur Supermacht des Wissens aufsteigen.

(Foto: Foto: AP)

Als der Premier eintritt, entspinnt sich ein mühsamer Smalltalk. Auf die Frage, ob die hemmungslose Expansion der Hightech-Industrie in seinem Bundesstaat vielleicht etwas gebremst werden sollte, spricht er von Giftgasen im Zentrum der Hauptstadt Hyderabad und einer Ringstraße, die nun geplant sei. Plötzlich kontert er mit einer Gegenfrage: Ob Deutschland auch von den Engländern kolonialisiert gewesen sei?

Supermacht des Wissens

Sicher gehört europäische Geschichte nicht unbedingt zur Kernkompetenz eines indischen Landesfürsten. Doch die Kenntnisse des Ministerpräsidenten kontrastieren auf bizarre Weise die Gegebenheiten in seinem Machtbereich. Hyderabad ist in den vergangenen Jahren zu einem weltweiten Zentrum der Hochtechnologie herangewachsen. "Cyberabad" und "Hightech-City" heißen die im Rekordtempo gewucherten Stadtteile, in denen sich Glas- und Betonfassaden multinationaler Software- und Biotech-Konzerne kilometerlang aneinanderreihen. Ausländische Firmen profitieren von den Kenntnissen und der Arbeitskraft der hervorragend ausgebildeten Wissenschaftler und Ingenieure Indiens.

Nun will das Land mit seinen 1,15 Milliarden Menschen nicht mehr nur Gastgeber, Talentpool und Dienstleister für den industrialisierten Teil der Erde sein. Mit einer massiven Bildungsoffensive plant Indien selbst zur Supermacht des Wissens aufzusteigen. Während in Deutschland über Prozentpunkte in Forschungsetats und den Zustand von Schultoiletten diskutiert wird, wird Indien die Zahl seiner Universitäten in den kommenden fünf Jahren von 400 auf 1500 erhöhen. Hunderte "Science Camps" entstehen zurzeit überall im Land. Begabte Jugendliche werden dort für die Wissenschaft begeistert und angeworben.

Die Voraussetzungen sind ausgezeichnet. Mehr als die Hälfte aller Inder ist jünger als 25 Jahre. Das ist ein nicht zu unterschätzender Vorteil gegenüber China, dem großen Konkurrenten in Asien, wo die Gesellschaft aufgrund der dort gepflegten Ein-Kind-Politik in den kommenden Jahrzehnten überaltern wird.

Indiens Aufbruch hat mittlerweile auch die deutsche Regierung aufgerüttelt. Bereits dreimal hat Forschungsministerin Annette Schavan den Subkontinent bereist. Im vergangenen Jahr folgten die Kanzlerin sowie der Umwelt- und der Außenminister. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft unterhält ein Verbindungsbüro in Delhi und weiteren Hightech-Metropolen Indiens, ebenso wie die Max-Planck-Gesellschaft, der Deutsche Akademische Austauschdienst und weitere Forschungsorganisationen. Neuerdings fördert das Bundesforschungsministerium Aufenthalte deutscher Studenten in Indien mit insgesamt vier Millionen Euro.

Rikschas und Raketen

Widersprüchlich, schockierend und faszinierend

Ein Besuch in Bildungsstätten und Forschungsinstituten Indiens zeigt jedoch auch die extremen Kontraste, mit denen die Inder leben. Widersprüchliches, Schockierendes und Faszinierendes reihen sich pausenlos aneinander. In der Hauptstadt Delhi hausen Menschen unter Plastikfolien auf den Mittelstreifen der Hauptstraßen. Gleichzeitig stauen sich britische Luxuswagen vor dem Hotel Imperial, wenn der Stahlmagnat und laut Forbes viertreichste Mensch der Welt, Lakshmi Mittal, zum Jahresempfang lädt.

Indische Arbeiter essen in den Garküchen am Straßenrand für weniger als 30 Cent zu Mittag, das billigste Einzelzimmer im Hotel Imperial kostet 300Euro pro Nacht. Mehr als ein Drittel der Inder können nicht lesen und schreiben, doch die nationale Raumfahrtbehörde ISRO hat soeben erfolgreich eine Forschungssonde zum Mond geschickt. Korruption und Bürokratie beherrschen weite Teile des Alltags, gleichzeitig wird die Regierung in den kommenden Jahren 50 Milliarden Euro in das Bildungssystem pumpen.

Damit dieses Geld an die richtigen Stellen fließt, verlässt sich der Premierminister Manmohan Singh nicht mehr nur auf das in Indien kaum überschaubare Geflecht von Behörden und Ämtern, die Forschungsmittel verwalten. Er hat eine handverlesene "Wissens-Kommission" berufen, die ihn direkt berät. Deren Vorsitzender Sam Pitroda fordert, die Forschungsanstrengungen Indiens in den kommenden zwölf Jahren zu verdreifachen.

Professorenmangel als größtes Hindernis

Dieses Ziel wird sich nicht nur mit Geld erreichen lassen. Das Bildungssystem wird eine gewaltige Zahl kluger Menschen brauchen, die nicht den Verlockungen der Industrie erliegen oder nach dem Grundstudium ins Ausland abwandern. Beliebtestes Ziel sind die USA, wo Inder die größte Ausländergruppe unter den Doktoranden stellen. "Der Mangel an Professoren ist das größte Hindernis für den Ausbau der Universitäten", warnt die Mathematikerin Sujatha Ramdorai aus Mumbai, die der Wissens-Kommission angehört. Mit einer Besoldung von weniger als 1000 Dollar im Monat können Hochschulen kaum mit den Gehältern der Softwareindustrie konkurrieren.

Das führt dazu, dass es zwar 14 Millionen Studenten in Indien gibt, aber nur 36000 von ihnen im eigenen Land promovieren. Nur 119 Forscher pro einer Million Einwohner gibt es derzeit in Indien. China kommt auf fast 1600, in Deutschland sind es 3000 und in den USA mehr als 4600.

Billig-Programmierer und Spitzenverdiener

Mehr als die Hälfte des indischen Bruttoinlandsprodukts erwirtschaftet die massiv expandierende Dienstleistungsindustrie. Anders als im Westen oft vermutet, lebt diese Branche keineswegs nur von ausgebeuteten Billig-Programmierern. Wer es in Indien in ein Software-Haus geschafft hat, gehört zu den Spitzenverdienern. Die Ausbildung an einem der nationalen Institutes of Information Technology (IIT) wird weltweit geschätzt. Dort hat zum Beispiel auch Padmasree Warrior ihren Abschluss gemacht. Später wurde sie Technik-Chefin bei Motorola, heute sitzt sie im Vorstand des führenden Internet-Hardwareherstellers Cisco, und sie ist im Gespräch als Technologie-Beraterin von US-Präsident Barack Obama.

Auch der deutsche Softwarekonzern SAP hat im südindischen Bangalore seine ausländischen Standorte vereinigt und dort die Zahl der Mitarbeiter seit 1999 auf fast 4000 gesteigert. Gearbeitet wird in einer 40-Stunden-Woche, die Kantine ist gratis, und nach fünf Jahren bekommt jeder Angestellte einen Firmenwagen. Clas Neumann, SAP-Chef in Bangalore, schätzt die hohe Zahl begabter Menschen in Indien. Das Land habe gegenüber China viele Vorteile: die englische Sprache sowieso, aber auch ein funktionierendes Patentrecht. In China gehören Erfindungen dem Staat.

Rikschas und Raketen

Die Sogwirkung der Softwarbranche

"Die nächsten zehn Jahre werden irre hier", sagt Microsoft-Gründer Bill Gates. Doch auch in Bangalore zeigen sich die unterschiedlichen Geschwindigkeiten des indischen Aufbruchs. Wer versucht, den von der Software-Industrie besiedelten Stadtteil morgens mit dem Auto anzusteuern bleibt in einem surreal wirkenden Verkehrschaos stecken. 80000 Arbeitsplätze sind dort in den vergangenen zehn Jahren entstanden, aber keine einzige Straße wurde neu gebaut oder auch nur geteert. SAP transportiert seine Mitarbeiter mit firmeneigenen Bussen, um den vollständigen Infarkt der kümmerlichen Verkehrswege von Bangalore zu vermeiden.

Die Sogwirkung der Softwarebranche und die Verlockung Amerika sind die beiden größten Hemmnisse für die Entwicklung der indischen Hochschulen und staatlichen Forschungsinstitute. Doch Seyed Hasnain, Präsident der angesehenen Universität von Hyderabad, ist optimistisch. Er plant, die Zahl der Promotions-Studenten an seiner Hochschule bis 2013 von heute 3700 auf 10000 zu erhöhen. Zwar fürchtet auch er ein "Vakuum an Lehrern", doch es gibt Hoffnung: Soeben hat die Regierung in Delhi verkündet, die Besoldung von Fakultätsmitgliedern nahezu zu verdoppeln. Solche Umwälzungen sind erstaunlich für einen Staat, dessen Verwaltungssystem nach wie vor auf sozialistisch anmutenden Fünfjahresplänen beruht.

Doch gerade die Gehaltsfrage zeigt, dass Indien nicht allein mit westlichen Augen gesehen werden kann. Einer der berühmtesten Wissenschaftler des Landes, der Biologe und Leiter einer Augenklinik in Hyderabad, Dorairajan Balasubramanian, wird emotional, wenn das Gespräch auf die Professoren-Besoldung kommt: "Ich muss in diese Blase jetzt mal hineinstechen! Man lebt in Indien einfach besser als in den USA. Mit einem Professorengehalt kann ich einen Fahrer, einen Gärtner und weitere Angestellte bezahlen." So etwas ist eben möglich, in einem Land, in dem ein Professor nicht doppelt so viel verdient wie ein Gärtner, sondern das Fünfzigfache.

Von Wissenschaftlern, die aus den USA zurückkehren, sind auch patriotische Töne zu hören. Noch ist die Aufbruchstimmung nicht erloschen, die in Indien mit dem Abgang der englischen Kolonialherren im Jahr 1947 entstand. Auch Indiens Tageszeitungen kämpfen gegen die Abwanderung der Intellektuellen: Die India Times druckt gerne mal Horrorberichte über die Widrigkeiten, mit denen ausgewanderte Inder in den USA zu kämpfen haben.

Zu wenig Forschungs-Universitäten auf internatialen Niveau

Noch gibt es allerdings zu wenige Forschungs-Universitäten auf internationalem Standard. Die wenigen profitieren von dem Luxus, ihre Doktoranden unter hunderttausenden Bewerbern auswählen zu können. 200000 College-Absolventen bewerben sich zum Beispiel jährlich an der Jawaharlal Nehru Universität in Delhi. Nur jeder fünfzigste von ihnen wird angenommen. Auch über den Forschungsetat könne er nicht klagen, sagt der Kanzler der Universität, Rajendra Prasad.

Doch auf den Gängen der Universität zeigt sich einer der erstaunlichen Widersprüche des Landes: Während in den Labors der Nehru-Universität weltweit begehrte Spitzenforscher ausgebildet werden, sehen die Wände und Waschräume des Gebäudes ganz und gar nicht nach üppigem Budget aus. Andererseits: Vielleicht muss man im Zuge des deutschen Konjunkturprogramms, bei dem Milliarden Euro in die Renovierung von Schulgebäuden fließen, auch mal die Frage stellen, ob frisch gestrichene Schultoiletten den Bildungsgrad einer Nation überhaupt fördern.

Mit westlicher Logik lässt sich auch der Sinn der indischen Mondmission kaum nachvollziehen. So hat auch die deutsche Entwicklungshilfe-Ministerin gefordert, mit den 60 Millionen Euro für die Sonde Chandrayaan-1 lieber die Armut im Land zu bekämpfen. Andererseits erzeugt gerade diese - im Vergleich zu westlichen Raumflügen billige Mission - eine enorme Welle der Euphorie im Land. Ein Symbol wie Chandrayaan-1 begeistert junge Inder für Forschung. Die somit mittelfristig gewonnene Wirtschaftskraft könnte mehr für den Wohlstand Indiens tun als ein kurzfristiges Hilfsprogramm. Zudem führen Indiens Raumfahrtaktivitäten nicht nur zum Mond, sondern auch in die ärmeren Teile des Subkontinents. Über Satelliten sind Ärzte aus den Großstädten mit Kollegen in der Provinz vernetzt.

Quoten-Regelung für untere Kastenangehörige

Doch die hektische Expansion der Industrie in Indien verlangt ihren Tribut. Der Verkehr in Ballungsräumen ist ebenso ausgeufert wie die allgegenwärtigen Müllmassen in den urbanen Zonen. Ein von weitem erfreulich anzusehender See im Stadtgebiet von Hyderabad entpuppt sich beim Näherkommen als entsetzlich stinkende, hoffnungslos verseuchte Kloake. Die rücksichtslose Expansion hat in Andhra Pradesh dazu geführt, dass der industriefreundliche Vorgänger des heutigen Ministerpräsidenten im Jahr 2004 abgewählt wurde.

Auch überholte Traditionen stehen Indien auf dem Weg zur Supermacht im Weg. Dazu gehört das politisch längst unerwünschte, aber den Alltag noch immer prägende Kastensystem. Auf den ersten Blick erscheint es sinnvoll, dass es an den Spitzenuniversitäten reservierte Studienplätze für die benachteiligten Bevölkerungsschichten gibt. Doch auch liberale Professoren kritisieren die Nachteile dieser Quoten-Regelung: Ein begabter Student der unteren Kasten wird stets mit dem Verdacht leben müssen, er habe seinen Abschluss nur dank eines gesonderten Studienplatzes geschafft.

Der Schriftsteller und Politikwissenschaftler Jyortirmaya Sharma von der Universität Hyderabad, fürchtet grundsätzlich um den mentalen Zustand seiner Nation. Zu sehr lege sein Land den Fokus auf Naturwissenschaften und Technik, warnt er. Es gebe viele intelligente junge Inder, erkennt er an, aber für die Geisteswissenschaften sehe er schwarz. "Der IT-Sektor formt sich als bizarre Enklave", sagt Sharma, in der Spezialisten nur noch untereinander kommunizierten. "Wir sind nützlich geworden für die Welt. Aber wir müssen unbedingt vermeiden, ein Land der Dienstleister zu werden."

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