Wissenschaftspolitik:Streit und Simulation

Das Human Brain Project versprach eine Revolution: die vollständige Simulation eines menschlichen Gehirns. Die EU-Kommission wollte das Vorhaben mit einer Milliarde Euro unterstützten. Doch dann brach Streit unter den beteiligten Forschern aus.

Von Kai Kupferschmidt

Es wirkt ein wenig, als würde sich die EU-Kommission für ihr Prestigeprojekt schämen. Im Januar 2013 war das Human Brain Project (HBP) noch unter großem Wirbel zum Flaggschiffvorhaben ausgerufen worden. Eine Milliarde Euro über zehn Jahre wurde Forschern zugesagt. Im Gegenzug versprachen Wissenschaftler, allen voran der Hirnforscher und Initiator des Projekts, Henry Markram, eine Revolution: die Simulation eines menschlichen Gehirns im Computer, die schließlich zu schnelleren Diagnosen von Krankheiten und neuen, besseren Medikamenten führen solle. 30 Monate später ist von Feierlaune wenig zu spüren. Am Freitag unterzeichneten Vertreter der EU-Kommission und des HBP einen Vertrag, der die Hauptphase des Projekts einläutet. Das 350 Seiten lange Dokument legt Ziele fest, benennt Partner und ebnet den Weg, damit die Forscher in den nächsten siebeneinhalb Jahren Hunderte Millionen Euro von der EU-Kommission erhalten. Das klingt alles gut, dennoch könnte das HBP eine Blamage werden.

Die Visionen des Hirnforschers Markram sind längst zum Spuk geworden, das Flaggschiffprojekt zum Zankapfel. In einem offenen Brief hatten sich die Neuroforscher Zachary Mainen und Alexandre Pouget im Juli 2014 gegen das HBP gewandt: Ein Bereich der Hirnforschung, die kognitiven Neurowissenschaften, war aus dem Kern des Projekts verbannt worden. Die Forscher sparten auch nicht mit grundsätzlicher Kritik: Die Ziele des HBP seien unrealistisch, das Projekt zu teuer, das Management undurchsichtig. Zu viel Macht liege in den Händen von zu wenigen. Hunderte Hirnforscher unterzeichneten den Brief und drohten mit einem Boykott.

Eine Gruppe von Schlichtern wurde eingesetzt - und stimmte den Kritikern weitgehend zu. Das Projekt habe unrealistische Erwartungen geweckt und damit wissenschaftliche Glaubwürdigkeit eingebüßt. Die Rolle von Markram und anderen sei zu groß, sie träfen gleichzeitig Entscheidungen und profitierten von ihnen. Statt Markrams Universität, die ETH Lausanne, sollte eine neue Institution das Projekt leiten. Ein unabhängiger Experte sollte die Führungsposition übernehmen.

Nun ist der Vertrag unterschrieben, der Schlichtungsprozess offiziell vorbei. "Die Kommission ist davon überzeugt, dass dieser Vertrag die Bedenken der Neurowissenschaftsgemeinschaft gegenstandslos macht", heißt es in einer Pressemitteilung. Doch nicht jeder in der Neurowissenschaftsgemeinschaft sieht das so. "Ein vergleichsweise kleiner Teil der wissenschaftlichen Empfehlungen hat zu Veränderungen geführt. Das ist schade", sagt etwa Peter Dayan, Hirnforscher am University College London und einer der Schlichter.

Wo also steht das Projekt wirklich? An der Organisationsstruktur hat sich einiges geändert. Das Exekutivkomitee wurde aufgelöst, Markram entmachtet. "Solche Fehler, dass ein Mensch in zu vielen Entscheidungsgremien ist, sind behoben worden", sagt Katrin Amunts vom Forschungszentrum Jülich, die einen Bereich des HBP leitet. Weitere Änderungen sollen folgen. "Es ist aber noch zu früh, um zu wissen, ob die Fehler der Vergangenheit wirklich korrigiert werden", sagt Zachary Mainen.

"Nur weil die Richtung stimmt, heißt das nicht, dass ich zum Mond komme."

Die größeren Fragen bleiben: die nach dem wissenschaftlichen Wert des Projekts, nach seiner Machbarkeit und nach seinem Nutzen. Kritiker halten den Plan einer allumfassenden Hirnsimulation für unrealistisch. "Wir haben einfach nicht genug Informationen, um so eine Simulation zu erstellen", sagt Peter Latham, Hirnforscher am University College London.

Doch Markram und andere verweisen auf das Blue Brain Project, die Keimzelle des HBP. Anfang Oktober präsentierten sie im Fachjournal Cell erste Ergebnisse: Die Simulation eines Teils des Rattengehirns, mehr als 30 000 Nervenzellen in zuvor nie erreichter Detailtreue, 37 Millionen Synapsen, an denen die Zellen Informationen austauschen. Markram sieht sich bestätigt: "Ich habe versprochen, genau das zu liefern - und jetzt habe ich geliefert." Jahrelang hatten er und andere Forscher Tausende Nervenzellen beobachtet und vermessen und die Daten in das Computermodell gespeist: wie viele verschiedene Nervenzelltypen es gibt, wie häufig sie in einem bestimmten Hirnareal jeweils sind und wie sie reagieren, wenn sie stimuliert werden.

Die Datenmenge sei beeindruckend, sagt Moritz Helmstaedter, Direktor am Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Frankfurt am Main. Trotzdem sei es damit nur gelungen, einen Teil des Rattengehirns zu simulieren, der ungefähr die Größe eines Sandkorns hat. Das zeige, wie unrealistisch es sei, das menschliche Gehirn simulieren zu wollen. "Das ist, als würde man sagen: Ich will zum Mond und ich habe hier schon einmal eine Leiter an diesen Baum gelehnt", sagt Helmstaedter. "Nur weil die Richtung stimmt, heißt das nicht, dass ich zum Mond komme."

Selbst wenn eine aufwendige Simulation gelingen sollte, ist die Frage, was Wissenschaftler daraus wirklich lernen. Markrams Arbeit am Rattengehirn sei bemerkenswert, sagt Latham. "Aber das hat uns nichts Neues über das Gehirn gelehrt." Zwar ließen sich manche Theorien an dem Modell testen, aber das gehe auch mit weit weniger aufwendigen Simulationen.

Natürlich sei die Simulation umstritten, sagt Katrin Amunts vom Forschungszentrum Jülich. "Das ist eben Wissenschaft. Wissenschaft ist kontrovers." Letztlich sei die entscheidende Frage, ob das alles Hunderte Millionen Euro wert sei, sagt Latham. "Ich halte es noch immer für Geldverschwendung."

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