Wissenschaft und Theorie:Versunken in den Datenfluten

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Der Publizist Chris Anderson versucht, das Ende der Theorie und der traditionellen Forschung zu verkünden - und verwurstet dabei physikalische Reizworte zu Aufmerksamkeit und Geld.

Ralf Bönt

Es ist schon ein regelrechtes Muster. Immer wieder geht etwas nicht Unschwieriges, aber Unvermeidliches und daher doch Liebgewonnenes plötzlich von uns, so wird es zumindest verkündet: Erst gab es keine Gedichte mehr, dann, in den Sechzigern, keine Literatur und, mit dem Ende der Kritik selbst, gab es nicht einmal mehr eine Debatte über das Ende.

Es ist keine semantische oder kausale Analyse mehr nötig, sagt Chris Anderson. Alle Mühsal übernimmt ab jetzt Google. (Foto: Foto: google.de/AP)

Es dauerte konsequenterweise nur ein Fingerschnippen im Weltenlauf, bis gleich die gesamte Geschichte verschwand. Ihr Ende wurde im Sommer 1989 proklamiert, als Francis Fukuyama mit seinem Essay "The End of History" die großen Fragen zum Ende des Kalten Krieges auf vier Worte komprimierte und ein rhetorisches Klischee schuf, auf das sich seither so ziemlich alle politischen und kulturkritischen Debatten beziehen, die sich mit Wandel befassen.

Diesmal ist es das Ende der Theorie, das über uns gekommen ist. Entdeckt hat es Chris Anderson, der schon mal ein ganzes Buch über die Querverweise eines Buchhändlers geschrieben hat, die ihn echt faszinierten. Daraus entwickelte er seine Theorie vom "Long Tail", in der Nischenmärkte die Massenmärkte ablösen.

So folgte er dem Vorbild von Fukuyama, ein komplexes Thema auf einen originellen Gedanken und diesen auf eine griffige Formel zu reduzieren. Das tut er auch im Titel seines neuen Essays: "The End of Theory".

Anderson ist Chefredakteur des Computermagazins Wired, und das Ende hat er tatsächlich in einem Anfang entdeckt. Ganz im Sinne des Debattenmarketings hat er den Anfang des "Petabyte-Zeitalters" verkündet.

Unvorstellbar große Datenmengen

Das ist gekennzeichnet von sehr großen Datenmengen. Ein Petabyte sind beispielsweise eine Billiarde Bits. Solche Mengen sind so unvorstellbar groß, dass sie sich nun laut Anderson plötzlich selbst organisieren können.

Die Hypersuchmaschine Google zum Beispiel. Google kann Sprachen sprechen ohne sie zu verstehen! Es korrigiert sich mittels sehr vieler Daten, die Millionen Menschen eingeben, automatisch. Vertippen Sie sich einfach mal, bekommen Sie serviert, was Millionen andere auch serviert bekommen haben.

Das Zauberwort ist Korrelation. "Es ist keine semantische oder kausale Analyse mehr nötig", schreibt Anderson. Alle Mühsal übernimmt ab jetzt Google für uns, und zwar, so Anderson, "ohne", ja er schreibt inklusive Anführungszeichen: "die Sprachen tatsächlich zu 'kennen'".

Genau wie es Werbeanzeigen zu Inhalt sortieren kann, kann es Klingon in Farsi und Französisch ins Deutsche bringen. Das ist nur der erste Gedankenschritt für das neue Zeitalter. Es geht nämlich nicht um Werbung. Es geht Chris Anderson um Wissenschaft. In der Wissenschaft gibt es nämlich die richtig großen Probleme.

Es ist inzwischen hinlänglich bekannt, dass sämtliche wissenschaftlichen Modelle von Newton bis Einstein und Schrödinger falsch sind, oder, um mit Anderson zu sprechen, "Karikaturen einer komplexeren grundlegenderen Realität".

"Der Grund", schreibt Anderson, "warum die Physik in theoretische Spekulationen über n-dimensionale vereinheitlichte Modelle abgeglitten ist, liegt im Unwissen, wie Experimente zur Falsifizierung durchzuführen sind. Die Energien sind zu hoch, die Experimente zu teuer."

Verwurstung von Reizworten

Da sollte man sprachlich genauer hinsehen, obwohl die Aussage mit der These gar nichts zu tun hat: Der zweite Satz wirkt auf Anhieb nicht völlig falsch.

Die Physik ist bis auf so kleine Abstände erforscht und in der lässig "Standardmodell" genannten Theorie verstanden, dass es sehr teuer ist, neue Experimente mit immer größeren Teilchenbeschleunigern zu veranstalten, die noch genauer hinsehen können.

Man muss dazu die elementaren Teilchen noch näher aneinander bringen, aber die Erde ist als Laboratorium zu klein und zu kalt. Dennoch dringt man gerade in diesen Tagen im Genfer Forschungsinstitut CERN in neue Dimensionen vor.

Wir wissen also sehr gut, wie wir vorangehen können, weswegen der zweite Satz eben doch falsch ist. Und der erste Satz sowieso, denn bei Strings, Supersymmetrie oder Quantengruppen handelt es sich um mathematisch formulierte und physikalisch begründete Modelle, deren Schlussfolgerungen mehr als vier Raumzeitdimensionen erfordern können.

Zugegeben, es erfordert im Allgemeinen einige Jahre intensiver Beschäftigung, diese Modelle zu verstehen und ein Gefühl für deren Beurteilung zu entwickeln. Danach kann man aber ein Experiment konzipieren, das relevante Daten überhaupt erst produziert. Diejenigen aus dem Weltall nämlich sind zwar zahlreich, aber zu chaotisch.

Ein einfacheres Beispiel: Wer wäre schon darauf gekommen, dass eine Kükenfeder im Vakuum genauso schnell fällt wie eine Bleikugel? Das Vakuum konnte seit Mitte des 17. Jahrhunderts hergestellt werden, vorher war es zweitausend Jahre lang eine bloße, mal populäre, mal bekämpfte Idee.

Seit Newtons Gravitationsgesetz aber fällt der Apfel nicht mehr vom Baum, weil die Luft, die vor ihm verdrängt wird, um ihn herumströmte und ihn von hinten wieder anstieße, wie Aristoteles dachte. Das Gravitationsgesetz ist ein Modell mit Fernwirkung zweier Körper aufeinander, die den bekannten Schulversuch mit Feder und Kugel in einer Formel nahe legt, denn die Masse kürzt sich überraschend heraus. Merke: Wir schreiben Theorien um noch mehr Phänomene zu entdecken.

Ein jüngeres, und vielleicht das faszinierendste Beispiel für angewandte Theorie aber ist die Entdeckung der Antimaterie durch eine Symmetrie. Während die Symmetrieachse eines Kirchenschiffes in der Grundrisszeichnung leicht zu erkennen ist, kann man anderswo lange danach suchen:

Nehmen wir an, man hat eine Fotografie eines dreidimensionalen Körpers mit sechshundert unregelmäßigen Ecken. Der Blickwinkel ist zufällig. Man wird nicht leicht sehen, ob der Körper nach einer Drehung um einen bestimmten Winkel und eine bestimmte Achse von weniger als 360 Grad sich wieder gleich ist. Man muss zunächst versuchen, den Winkel zu verbessern, das heißt den Körper in den optimalen Winkel zu drehen, und dann den Überblick über die vielen Ecken zu bekommen.

Wenn es sich um ein abstraktes Objekt mit sehr vielen Dimensionen handelt, sind Sie in der Mathematik gelandet. Jede gefundene Symmetrie belohnt Sie mit einem stabilen Zustand, das heißt mit einem Teilchen! Die Drehung ist eine Koordinatentransformation, die Bewegungsgleichungen Ihres Systems müssen darunter forminvariant bleiben.

Ebenfalls zugegeben - es dauert eine Weile, bis man Forminvarianz in seine Träume aufgenommen hat, bis man Forminvarianz denkt, atmet, fühlt und eins mit ihr ist, und dann wie Paul Dirac plötzlich eine besondere Art der Spiegelung sieht, deren Existenz diejenige der Antimaterie bedeutet. Aber es ist faszinierend.

Es reicht aber nicht, einfach nur genügend Fotos zu machen und maschinell zu vergleichen, denn abgesehen davon, dass die Maschine von irgendwo her wissen muss, was zu vergleichen ist, wissen man anfangs nicht einmal ungefähr, wie die Kirche aussieht, die man fotografieren will. Vielleicht hat sie ein paar Dimensionen mehr als man annimmt und darin eine Symmetrie unter Umstülpung eines Teilraumes?

Manchmal ist die Symmetrie zu trivial um gleich entdeckt zu werden. Jeder der mit Kindern Bilderspiele macht, weiß das. Im Falle der Antimaterie handelte es sich um eine Konjugation im Darstellungsraum der Ladungen. Sie brauchen geschulte, skeptische Kreativität, oder wie es auf dem Land gern abwertend genannt wird: Intellekt. Eine Sache des Neids.

Chris Anderson freilich wird seinen Essay für richtig halten, wenn nur genügend Leute ihn anklicken. Das tun sie, und nicht nur das. Aus Fachkreisen gibt es heftige und prominente Gegenstimmen. Und darum geht es letztlich: Die Verwurstung physikalischer Reizworte zu Aufmerksamkeit und Geld, die allzu bekannte mediale Ausbeutung des Eros und des Furors der Theoretischen Physik. Das "Ende der Theorie" mag ein gekonntes Beispiel dieser Ausbeutung sein, ist aber tatsächlich provinziell: nämlich ungebildet.

Eros und Furor der Physik

Andersons Petabyte-Zeitalter ist jedoch nicht nur ein spekulativer Versuch, nach dem Erfolg der Long Tail Theory ein neues Schlagwort zu kreieren, sondern auch grob fahrlässig. Was Anderson einklagt ist eine extreme Simplifizierung der wissenschaftlichen Denkprozesse und eine Abschaffung der traditionellen Forschung.

Die Frage nach der Sicherheit der Atomkraft würde Google beispielsweise so beantworten wie Millionen von Menschen, die nicht nachdenken: Bislang ist ja nur ein Atomkraftwerk explodiert,das in Tschernobyl, das aber war im technologisch inkompetenten System des Sozialismus, den es nicht mehr gibt also muss Atomenergie sicher sein.

Dass das ganze erst ein paar wenige Jahrzehnte läuft und eine Hochrechnung Europa in ein paar hundert oder tausend Jahren mit beängstigend ausreichender Wahrscheinlichkeit als verseucht und unbewohnbar auswiese, kommt so wenig zum Tragen, wie die Tatsache, dass es längst verseucht wäre, hätte es die Kernkraft schon vor dem Zweiten Weltkrieg gegeben. Google wird dann gleichgültig mit den virtuellen Schultern zucken und sagen: sorry, wrong data!

Der Autor ist Schriftsteller in Berlin. Er hat in Quantenphysik promoviert. Derzeit arbeitet er an einem historischen Roman über den Physiker Michael Faraday.

© SZ vom 21.07.2008/mcs - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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