Wissen:Zur rechten Zeit nach links

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Kinder sollten sich frei für eine Hand entscheiden dürfen - sie müssen es aber auch, denn Beidhänder leiden enorm.

Von Rebecca Gudisch

Als Daniel anfing, Buchstaben zu malen, verblüffte er seine Eltern: Immer wenn er an die Mitte des Blattes kam, wechselte er den Stift von einer Hand in die andere. "Er konnte die Körpermitte einfach nicht kreuzen", sagt die Psychotherapeutin Barbara Sattler, die die deutsche Beratungs- und Informationsstelle für Linkshänder in München leitet.

Noch vor fünfzig Jahren wären Lehrer brutal mit Daniel umgesprungen: Sie hätten seinen linken Arm auf den Rücken gebunden oder eingipsen lassen. Heute lassen die meisten Eltern und Erzieher den Kindern freie Wahl. Aber immer noch glauben manche Pädagogen besser zu wissen, welche Hand die richtige ist: Lehrer sollten dem Kind "in den ersten Tagen des Schulbesuchs nahe legen, das Malen und Schreiben auch mit der rechten Hand zu versuchen", empfiehlt das hessische Kultusministerium bis heute.

Linkshändigkeit sei doch keine Behinderung, ärgert sich Barbara Sattler. Außerdem sei der Recht-Schreibversuch für die Kinder "äußert problematisch": "Wenn nicht erkannt wird, dass ein Kind linkshändig ist, kann das fatale Folgen haben", sagt die Psychotherapeutin. Viele umgeschulte Linkshänder neigten nicht nur dazu, rechts und links zu verwechseln. Sie seien oft sogar besonders undiplomatisch und misstrauisch - im Umgang mit sich selbst wie mit anderen. Chris McManus, Professor für Psychologie und Medizinische Erziehung vom University College in London, glaubt zudem, dass umgeschulte Linkshänder häufiger stottern und Legastheniker sind.

Jeder zehnte Europäer ist Linkshänder

Betroffen von den Umerziehungsmaßnahmen seien immer noch viel zu viele Kinder. McManus schätzt, dass jeder zehnte Europäer eigentlich seine linke Hand bevorzugt. Barbara Sattler nimmt sogar an, es seien 20 bis 30Prozent. Auch wenn das Umschulen heute nicht mehr üblich und in den Lehrplänen einiger Bundesländer sogar explizit verboten ist, passiert es doch immer wieder - unbewusst. So imitieren linkshändige Kinder häufig nur ihre rechtshändigen Eltern. Oder diese drücken ihnen ohne Nachdenken den Stift zum Malen immer in die rechte Hand. "Eigentlich müssten sie den Kindern den Stift aber mittig hinhalten", sagt Sattler.

Das aber kostet viele Eltern Überwindung. "Ehrlich gesagt war es kein leichter Schritt, Florian alles mit links machen zu lassen", sagt die Mutter des Sechsjährigen. "Vor allem seine Großeltern hatten dafür wenig Verständnis." Dennoch nahm es die Familie schließlich sogar in Kauf, den Jungen ein Jahr von der Schule zurückzustellen, damit er sich frei entscheiden konnte. Der Kleine stiftete Verwirrung, weil er zwar seine ersten Buchstaben mit rechts schrieb, sonst aber alles mit links machte.

Zähneputzen als Selbsttest

"Spätestens mit Schulbeginn sollte eindeutig feststehen, mit welcher Hand das Kind schreibt", sagt Sattler. Größere Sorgen als eindeutige Linkshänder machen Pädagogen deshalb Kinder wie Daniel, die beide Hände gleichermaßen nutzen. "Bei allem, was man tut, muss natürlicherweise eine Hand die aktive sein und die andere eher stabilisierend", sagt Josef Rieder von der Universitätsklinik Innsbruck. "Wenn das nicht automatisch geschieht, kann das zu enormen Problemen führen."

Beidhändige Kinder könnten sich oft schlecht orientieren, hätten Probleme mit der Rechtschreibung und der Konzentration und seien oft unbeholfen oder ungeschickt, sagt Rieder. "Weil die Automatisierung fehlt, müssen sich solche Kinder bei jedem Buchstaben, jedem Wort die Richtung neu überlegen. Klar, dass sie nach kurzer Zeit erschöpft sind und sich nicht mehr konzentrieren können." Rieder, der eigentlich Logopäde ist, beschäftigt sich mit Linkshändern, seit ihm aufgefallen ist, dass viele Kinder mit verzögerter Sprachentwicklung von einer Hand zur anderen wechseln. Der Leidensdruck von Beidhändern sei erheblich, sagt er. "Auch das Selbstwertgefühl dieser Kinder ist im Keller."

Wie aber lässt sich zuverlässig herausfinden, ob ein Kind Links- oder Rechtshänder ist? Zwar haben sich Wissenschaftler immer wieder an einer Definition versucht. Dabei herausgekommen ist aber ein Wirrwarr. Der Bielefelder Soziologe Josef Janßen hat die verschiedenen Tests kurzerhand an sich selbst ausprobiert. Dabei sollte die Einordnung meist daran erfolgen, mit welcher Hand ein Mensch bestimmte Tätigkeiten wie zum Beispiel Zähneputzen ausführt. Mal wurde Janßen so als Rechtshänder, manchmal auch als Beidhänder und sogar als Nicht-Rechtshänder eingestuft (1).

Wie bei einer Münze, die geworfen wird

"Trotzdem kann man durch Tests bei vielen Menschen zum richtigen Ergebnis kommen", sagt Barbara Sattler. "Aber das geht natürlich nicht in ein paar Minuten." Für Daniel nahm sich die Psychologin mehrere Stunden Zeit. Um herauszufinden, welche Hand die dominante ist, ließ sie ihn Linien nachfahren und Punkte in Kreise malen. Daniel musste aber auch Perlen auf Draht fädeln, Blumen gießen und Streichhölzer zählen. "Das sind Dinge, die wenig von der Erziehung beeinflusst werden", erklärt sie. Und schließlich sprach die Therapeutin noch mit seinen Eltern über den Verlauf der Geburt und über Krankheiten und Unfälle. Denn wenn kleine Kinder sich einen Arm brechen oder bei der Geburt die Schulter verrenken, kann das dazu führen, dass sie jene Hand stärker benutzen, die ihnen eigentlich gar nicht so lieb ist.

Der Innsbrucker Logopäde Rieder fordert in schwierigen Fällen die Eltern auf, ihr Kind wochenlang zu beobachten. Am Ende aber müsse eine Entscheidung fallen, sagt er. Und trotzdem fühlt er sich dabei manchmal unwohl: "Es ist schließlich immer ein Eingriff in die neuronale Steuerung des Kindes." Wahrscheinlich sei das Gehirn eines Linkshänders anders organisiert als das eines Rechtshänders, glaubt auch der britische Psychologe McManus. Weil die linke Körperhälfte von der rechten Hirnhemisphäre gesteuert wird, das Sprachzentrum aber in der linken Hälfte des Gehirns liegt, werden beim Linkshänder dominante Hand und Sprachzentrum von unterschiedlichen Hirnhälften überwacht.

Weshalb der Körper bei manchen Menschen diesen Spagat eingeht, ist unklar. Strittig ist insbesondere der Einfluss der Gene. McManus geht zwar davon aus, dass die Händigkeit vor allem durch Erbanlagen bestimmt wird. Es gebe aber auch andere Einflüsse, räumt der Vater eineiiger Zwillingsmädchen ein, von denen eine Rechts- und die andere Linkshänderin ist. "Das ist ähnlich wie bei einer Münze, die geworfen wird."

Linkshänder sind einfach so

Seit Josef Janßen Adoptions- und Zwillingsstudien bewertet hat, betrachtet er die Rolle der Gene eher skeptisch: Die Ergebnisse der verschiedenen Untersuchungen seien widersprüchlich. Eine genetische Ursache der Händigkeit könnten sie nicht belegen. Der Soziologe stellt eine eigene Hypothese für Linkshändigkeit auf: Sie könnte auch eine Gegenreaktion gegen den elterlichen Willen sein, schreibt er: Das Kind "verweigert eigensinnig die (gute) richtige Hand, die von einer Bezugsperson bevorzugt wird".

"Ich sehe nicht, warum Kinder aus Trotz ihre linke Hand benutzen sollten", sagt dagegen Barbara Sattler. Die Therapeutin warnt davor, "Schubladen aufzumachen." Zu viele seltsame Ansichten wurden schon über Linkshänder verbreitet. So wird ihnen ein größerer Hang zu Kriminalität unterstellt. Oder es wird behauptet, dass es unter Selbstmördern ebenso wie unter Vegetariern besonders viele Linkshänder gebe. Mitunter wird Linkshändern unter Verweis auf Aristoteles, Paul Klee oder Mozart auch Hochbegabung angedichtet. "Linkshänder sind Linkshänder so wie große Leute groß sind", sagt dagegen McManus. "Sie sind einfach so."

(1)Perceptual and Motor Skills, Bd.98, S.487, 2004

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