Wissen:Vom Knall zum Fall

Viele Stadtviertel in den USA sind fest in den Händen von Banden. Einfache Bürger verlassen kaum noch das Haus, um nicht von einer Kugel getroffen zu werden. Doch die Städte rüsten auf: Mit Hightech-Horchgeräten wollen sie jetzt Schießereien orten.

Von Philip Wolff

Chicagos elfter Distrikt ist keine Gegend für entspannte Spaziergänge. Verlassene Backstein-Gebäude mit leeren Fensterhöhlen säumen die Straßen. Banden kontrollieren die Häuserblocks und setzen Jugendliche als Dealer ein, deren Mütter es kaum wagen, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen. Harrison, der Polizei-Bezirk im Westen der Stadt, war lange Zeit die finsterste Ecke der USA.

Vom Knall zum Fall

Vom Knall zum Fall: Amerikanische Städte wollen Schießereien durch einen Lauschangriff verhindern.

(Foto: Foto: dpa)

Während Chicago die nationale Kriminalstatistik anführte, hielt Harrison den lokalen Rekord: mit etwa 80 Morden pro Jahr unter den 82000 Einwohnern und mehr als 8000 Festnahmen nach Drogendelikten.

Bis zum vergangenen Jahr sprach die Polizei nicht gern über ihre dortige Arbeit, dann aber sah sie die Wende: Nur noch 25 Morde zählte man 2004 in Harrison, und ein stolzer Sergeant Gregory Hoffman erklärte der Presse, wie er neuerdings mit ferngesteuerten Kameras von Dächern herab Verbrechen beobachte, Kollegen alarmiere und Folgedelikte verhindere. Ein offensiver Technik-Einsatz mit Wirkung.

Lärmfilter

In diesem Jahr setzt die Stadt Chicago den zweiten Teil ihrer neuen Sicherheits-Strategie um: Der elfte Distrikt wird vollautomatisch belauscht. "Wir verraten dabei nicht, an welchen versteckten Stellen wir wie viele der 80 neuen Horchgeräte installieren. Nur, dass wir es tun", erklärt Monique Bond vom Amt für Notfall-Management auf Anfrage.

Bei den Geräten handelt es sich um Mikrophone, die jeweils in einem Radius von knapp 200 Metern in Bezirke wie Harrison hinein lauschen, und um eine Software, die aus dem allgemeinen Straßenlärm verdächtige Geräusche herausfiltert, die für Kriminalisten relevant sind.

Schüsse erkennt das System bereits und unterscheidet sie von Baustellenlärm oder fehlzündenden Motoren. Das sei eine technische Leistung, die mit bisheriger akustischer Erkennungssoftware kaum zu erreichen sei, sagt der Entwickler des Systems, Theodore Berger von der University of Southern California.

Vom Knall zum Fall

Hat das Lausch-System einen Schuss erkannt, berechnet es aus der zeitlichen Verzögerung, mit dem die Schallwellen die verschiedenen Mikrophone erreichen, die Position des Schützen.

Es übermittelt diese automatisch an den Polizeinotruf und lässt die Kameras den Tatort ins Visier nehmen. Zu seinen Teleaugen hat Sergeant Hoffman nun also Ohren bekommen und hört jetzt, wann er welche Straßenecke ins Visier nehmen muss.

Akkurate Lauschleistung

Das neuartige System, das Chicago als erste Stadt in den USA testet, heißt Sentri: Smart Sensor Enabled Neural Threat Recognition and Identification. Das Wort "Neural" deutet an, wie die akkurate Lausch-Leistung zustande kommt.

Berger, der die Grundlagen zur Entwicklung lieferte, ist Hirnforscher und untersucht seit Jahren, wie Neuronen im Gehirn Sinneseindrücke in Form elektrischer Signale übermitteln. Er entwickelt Chips, die einmal als Prothesen defekte Hirnareale ersetzen sollen.

"Die Neuronen übersetzen Wahrnehmungen in eine Reihe schneller und langsamer aufeinander folgender Impulse", erklärt Berger - in einen Intervall-Code ähnlich dem Morse-Alphabet also. Auf diese Weise verarbeitet das Gehirn - gute Ohren vorausgesetzt - auch einzelne Bestandteile eines Geräusches, die der Mensch gar nicht bewusst wahrnehmen muss.

Aha, ein Schuss

Die Explosion der Patrone im Revolver, der Klang der aus dem Lauf tretenden Kugel - viele solche Geräusch-Details werden im Gehirn in die Code-Sprache der Neuronen übersetzt, wodurch der Mensch erst erkennt: Aha, das war ein Schuss und kein knallender Motor.

Die Schwierigkeit, einer Maschine diese Unterscheidungs-Leistung beizubringen, habe darin bestanden, dass Computer die Informationen nicht in Form verschiedener Zeitabstände zwischen Signalen verschlüsseln, sagt Berger.

Ihm gelang es jedoch, mit Hilfe von Informatikern eine Software zu entwickeln, die die Funktion der Neuronen nachahmt und Geräusche ähnlich wie das Gehirn erkennt: "etwa so wie in einem analogen Oszilloskop, das einen Schuss anzeigt als ein kurzes Signal, das dann abfällt, worauf ein längeres Signal folgt", erklärt Bryan Baker, der mit Berger die Firma Safety Dynamics gegründet hat, um Sentri zu vermarkten.

Vom Knall zum Fall

Ursprünglich hatten Berger und Kollegen die Technik für ein Spracherkennungssystem entwickelt, das aus allgemeinen Lärmkulissen bestimmte Wörter heraushören sollte. Dazu musste der Software jedes Wort einzeln beigebracht werden.

Große Nachfrage

Bei Schüssen sei dies wesentlich einfacher, sagt Berger, dessen Verfahren zur Erkennung simplerer Muster sich offenbar auszahlt: Nach Chicago bestellten auch die Städte Los Angeles, Bellwood und Tijuana in Mexiko das System. Oklahoma City und San Francisco wollen es Tauglichkeits-Tests unterziehen.

Zwar bezweifeln Experten für Mustererkennung wie Elmar Nöth von der Universität Erlangen-Nürnberg, dass herkömmliche Software zur Frequenzanalyse Geräusche schlechter unterscheide.

Anwender wie das amerikanische Militär aber setzen auf Bergers Technik: Die US-Navy habe eine Weiterentwicklung des Systems in Auftrag gegeben, berichtet Baker. Mobile Sentri-Versionen in Handygröße sollen in Kampfsituationen einmal die Koordinaten von Schützen bestimmen, indem sie miteinander kommunizieren.

Hilfsmittel der Schutzpolizei

"In ein, zwei Jahren werden wir aber auch kleine Geräte für Privatleute anbieten können", sagt Baker. Für Menschen etwa, die in Harrison wohnen und sich auf der Straße in Person wandelnder Wachstationen sicherer fühlen.

Die kleinen Geräte sollen - ebenso wie Sentri - künftig auch weitere verdächtige Geräusche erkennen können, berstende Glasscheiben etwa oder das Durchladen von Gewehren. Die Software sei lernfähig, sagt Berger. In Kombination mit dem Erkennen menschlicher Stimmen oder Schritte ließen sich mit ihrer Hilfe vielleicht einmal komplette Tat-Hergänge akustisch nachvollziehen.

Oder auch Chicagos Kriminalitätsrate senken? Die Pläne zum Verkauf privater Überwachungs-Geräte möchte Monique Bond vom Amt für Notfall-Management nicht kommentieren. In nächster Zeit müsse sich Sentri erst einmal als Hilfsmittel der Schutzpolizei bewähren.

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