Welt-Aids-Tag:"Aids gilt als unanständige Krankheit"

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Um ihre Kinder zu schützen, verheimlichten Dieter und Almut Niemeyer 18 Jahre lang, dass sie HIV-positiv sind. Nun sprechen sie über die Bürde dieser Zeit.

Ch. Frank

Es ist das Jahr 1990, Dieter Niemeyer und seine Frau Almut sind gerade zum zweiten Mal Eltern geworden, als sie erfahren: Sie sind HIV-positiv, beide. Almut, eine Dialyseschwester, hatte sich bei der Arbeit infiziert und dann Dieter angesteckt. Um ihre Kinder zu schützen, beschließen die beiden, keinem von ihrer Krankheit zu erzählen. Sie schweigen 18 Jahre lang. Nun, zum Welt-Aids-Tag an diesem Dienstag, hat Dieter Niemeyer seine Geschichte veröffentlicht. Das Buch "Ich muss euch etwas sagen" (Lübbe Verlag) erzählt von einem tragischen Geheimnis - und von einem Virus, das seine Opfer stigmatisiert wie kaum ein anderes auf der Welt.

18 Jahre fast ohne soziale Kontakte: Almut und Dieter Niemeyer können erst jetzt offen sprechen. (Foto: Foto: oH)

SZ: Sie haben 18 Jahre lang vor der Außenwelt geheim gehalten, dass Sie HIV-positiv sind. Wie hält man das aus?

Niemeyer: Es ist eine riesige Bürde. Man muss unentwegt lügen und sich zusammenreißen. Es gab immer wieder Momente, in denen ich dachte, ich kann das nicht mehr, ich muss es rausschreien. Aber dann habe ich an meinen Sohn und meine Tochter gedacht und daran, was das für sie bedeuten würde. Und habe mich wieder zusammengerissen.

SZ: Warum? Wovor hatten Sie Angst?

Niemeyer: Aids gilt als unanständige Krankheit, als Leiden von Junkies und Homosexuellen. Als hätten wir uns das beim Fixen oder beim Fremdgehen eingefangen. Aber meine Frau war Dialyseschwester, es war ein Unfall bei der Arbeit. Es ist ein Stigma, daran hat sich seit 18 Jahren nichts geändert. Die Menschen wissen zu wenig Bescheid. Fast alle haben eine riesige, unaufgeklärte Angst vor Ansteckung, selbst in den harmlosesten Situationen. Die meisten, die hören, dass jemand HIV-positiv ist, treten erstmal einen Schritt zurück. Vor ein paar Jahren hatte ich zu allem Übel auch noch Krebs. Wenn Leute das hören, nehmen sie einen tröstend in den Arm. Aber wenn sie hören, dass einer Aids hat, wechseln sie die Straßenseite. Damit wollten wir unsere Kinder nicht belasten.

SZ: Wie konnten Sie damals wissen, was auf Sie zukommen würde?

Niemeyer: Wir haben ja mehrere Versuche gemacht, uns zu öffnen. Aber das waren jedes Mal Katastrophen. Meine Schwester und ihr Mann haben getan, als wären wir schon tot. Eine befreundete Mutter hat einen Beweis verlangt, dass unsere Tochter HIV-negativ ist. Sonst hätte sie den Kontakt zu ihrem Kind verboten. Diese Erfahrungen haben uns gereicht. Nur den Ärzten, den mussten wir es ja erzählen.

SZ: Und wie haben die reagiert?

Niemeyer: Außerhalb der großen Fachkliniken schlimm. In einem Reha-Zentrum wurde ich zum Beispiel gebeten, den anderen Patienten nichts von meiner Krankheit zu erzählen. Eine Physiotherapeutin hat mir einmal gesagt, ich solle beim Massieren den Pullover anbehalten, um den Hautkontakt zu ihr zu vermeiden. Und beim Zahnarzt hatte die Praxishelferin so fett HIV auf meine Akte geschrieben, dass es jeder sehen konnte.

Wie die Kinder des Ehepaars diese Jahre erlebten, lesen Sie auf der folgenden Seite.

SZ: Viele Aids-Medikamente haben starke Nebenwirkungen. Wie konnten Sie die überhaupt verstecken?

Niemeyer: Das stimmt, die Nebenwirkungen sind schlimm: Übelkeit, Schmerzen, Entzündungen, Schwindel, Durchfall. Meine Frau und ich haben in den vergangenen 19 Jahren so ziemlich alles geschluckt, was auf dem Markt war - sogar Medikamente, die noch gar nicht zugelassen waren, haben wir eingenommen. Da kam es oft vor, dass der Körper rebelliert hat. Aber das geheimzuhalten, war nicht schwer, denn meine Frau und ich haben uns nach der HIV- Diagnose komplett isoliert. Wir sind in ein Dorf gezogen, in dem uns niemand kannte, und hatten so gut wie keine sozialen Kontakte.

SZ: Außer zu Ihren Kindern. Haben die wirklich nichts gemerkt?

Niemeyer: Im Nachhinein hat uns unsere Tochter gesagt, sie hätte geahnt, dass etwas mit uns nicht stimmt. Aber was, das wusste sie nicht. Unsere Kinder haben übrigens sehr positiv reagiert. Erschrocken, das ja, aber es war keine Spur von Ablehnung zu fühlen. In ihren Augen sind wir immer noch die selben Menschen, die jahrelang für sie da waren.

SZ: Warum haben Sie Ihren Kindern dann doch von der Krankheit erzählt?

Niemeyer: Das hatten wir von Anfang an vor - aber erst, wenn sie alt genug wären, um das geistig zu fassen. Zudem wollten wir warten, bis sie zum Studieren wegziehen, in Großstädte, in denen sie wegen ihrer Familiengeschichte nicht diskriminiert werden.

SZ: Nachdem Ihre Kinder Bescheid wussten, haben Sie sich ausgerechnet in einer Talkshow geoutet. Warum haben Sie diesen extremen, sehr öffentlichen Weg gewählt?

Niemeyer: Das war ein Befreiungsschlag nach 18 Jahren Schweigen. Meine Frau und ich wollten mit diesem Schritt aber auch ein Signal setzen: Aids ist keine unanständige Seuche. Es ist ein Unglück, das jeden treffen kann. Und man kann damit leben, ohne andere mit ins Unglück zu reißen. Weil viele Menschen in Deutschland viel zu wenig über HIV aufgeklärt sind, werden Infizierte massiv diskriminiert. Mit unserem Auftritt im Fernsehen wollten wir auch zeigen, was das anrichtet: Viele HIV-Infizierte sehen einfach keinen anderen Weg, als sich zu verstecken.

SZ: Würden Sie rückblickend wieder so handeln?

Niemeyer: Auf jeden Fall. Für unsere Kinder war es das Beste, das haben die uns im Nachhinein auch bestätigt. Und das ist eine sehr wertvolle Erfahrung, wenn man zurückblickt und sagen kann: Es war alles richtig so.

© SZ vom 01.12.2009/beu - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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