Visionen in der Wissenschaft:Und dann fliegen wir!

Hildebrands Postkarten von 1900

Zukunftsvision auf einer Postkarte aus dem Jahr 1900: Luftschiffe für den Heimgebrauch

(Foto: Hildebrands / Public Domain)

Dörfer im Weltraum, eine Welt ohne Krankheit: Visionen der Wissenschaft werden selten zur Realität. Trotzdem brauchen wir sie dringend.

Von Kathrin Zinkant

Albert der Erste trug eine Windel, als die Menschheit sich aufmachte, eine ihrer wohl größten Visionen zu verwirklichen. An einem Tag im Jahr 1948 setzte man den Affen in die beengte Metallspitze einer V2-Rakete, an die Stelle, wo normalerweise der Sprengkopf steckte. Die Deutschen hatten während des Krieges gezeigt, dass die V2 den Weltraum erreichen konnte.

Auf die Kriegsbeute aus Deutschland sollte nun das Raumfahrtprogramm der Vereinigten Staaten gebaut werden. Man wollte zunächst sehen, ob dort oben, jenseits der Schwerkraft, auch ein Mensch überleben würde. Albert der Erste erstickte, bevor die V2 überhaupt abhob. Albert II. immerhin überlebte den Flug einer zweiten Rakete lange genug, um die Experimentatoren zu der Überzeugung zu bringen: Yes, we can.

Für seine Zeitgenossen war Ziolkowski ein Spinner. Später galt er als großer Visionär

Der Rest ist Geschichte, aber damals war das Ganze natürlich völliger Irrsinn. Die Idee, sich auch nur im Weltall aufzuhalten, geschweige denn dort leben zu können, entbehrte jeder vernünftigen wissenschaftlichen Grundlage und nährte sich im Wesentlichen von den literarischen Fantasien Jules Vernes. Und von den Visionen eines Russen namens Konstantin Eduardowitsch Ziolkowski. Der Lehrer und Amateurforscher hatte schon ein halbes Jahrhundert zuvor Pläne für Weltraumtürme und -fahrstühle gemacht.

1903 veröffentlicht er in einer wissenschaftlichen Zeitschrift seine Abhandlung "Erforschung des Weltraums mittels Reaktionsapparaten". Darin formulierte Ziolkowski erstmals die Raketengrundgleichung für einen Flug ins All. Seine russischen Zeitgenossen ignorierten ihn jahrzehntelang. Große Weltraumforscher ließen sich später von ihm inspirieren.

Heute gilt Ziolkowski als Visionär. Als einer, der seiner Zeit weit voraus war. Der nicht auf das pochte, was bereits war, sondern eine Vorstellung von dem entwickelte, was sein könnte - obwohl die erforderlichen Mittel überhaupt noch nicht existieren. Das ist der Kern der Vision: Sie ist kein Versprechen. Sie ist auch keine Wettervorhersage, von der man mit einer gewissen Berechtigung erwarten darf, dass sie am nächsten Tag eintrifft. Visionen sind Skizzen einer möglichen Zukunft, Ideen für eine andere, meist bessere Welt. Selten lassen sie sich zeitnah realisieren.

Die beste aller möglichen Welten war für Leibniz eine, die stets nach vorne strebt

Weshalb Menschen und ihre Visionen oft verspottet oder als irre abgetan werden. Das passiert auch heute immer wieder. So kündigte der amerikanische Präsident Barack Obama in seiner State of the Union-Rede vor gut zwei Wochen an, einen neuen "Moon shot" zu wagen und den Krebs "ein für alle Mal" zu besiegen. Die Vision, eine Krankheit wie Krebs mithilfe von rigoroser Forschung bezwingen zu können, sie ist nicht neu.

Sidney Farber, der Vater der Chemotherapie, war in den 1940er-Jahren von ihr getrieben. Und mit Richard Nixon verkündete 1971 schon einmal ein US-Präsident, aus der Vision Realität zu machen. Er scheiterte. Aber ist die Vision deshalb verwerflich, ist es falsch, eine Welt zu zeichnen, in der Krebs so gut zu behandeln ist wie eine Infektion?

Die New York Times veröffentlichte noch am Tag von Obamas Rede eine vernichtende Kritik: Die bekannte Wissenschaftsautorin Gina Kolata warf dem Präsidenten darin eine antiquierte, naive Idee der Krankheit Krebs vor, die bei Nixon stehen geblieben sei. Man wisse heute, dass es Hunderte sehr verschiedene Arten von Krebs gebe. Von "der einen Heilung" zu sprechen, sei irreführend.

Obama hat diesen Fehler nicht gemacht

Das habe schon das leere Versprechen des ehemaligen Direktors des Nationalen Krebsinstituts gezeigt: Andrew von Eschenbach hatte 2003 versprochen, dass Krebs mit einer entsprechend hohen Forschungsfinanzierung bis zum Jahr 2010 heilbar würde. Er versprach dies auf einer Anhörung im Senat auf Nachfrage des Republikaners Arlen Specter - der 2012 an Krebs verstarb.

In einem Punkt hat Kolata recht: Niemand sollte und darf falsche Hoffnungen schüren. Eschenbachs Fehler war, dass er einen unhaltbaren Termin nannte und seiner eigenen Vision nicht treu blieb. Eigentlich hatte er seinen Posten 2001 mit der Idee angetreten, Krebs mithilfe neuer Konzepte zunächst in eine kontrollierbare, chronische Erkrankung zu verwandeln. Viele Forscher teilen diesen Ansatz. Mit seinem Versprechen, es binnen weniger Jahre zu schaffen, verließ der Direktor des wichtigen Instituts den Boden des Visionären.

Obama hat diesen Fehler nicht gemacht. Seine Regierung wird kurz vor den Wahlen schlicht Geld investieren, in neue, aussichtsreiche Ansätze wie die Immuntherapie - die wohl kaum zur heutigen Reife gediehen wären, hätte die Wissenschaft demütig die Waffen gestreckt. Der Moment, davon sind viele Onkologen überzeugt, könnte kaum besser sein.

Wonach sollte man sonst streben?

Wissenschaftler sind sich ohnehin einig darin, dass es ohne ein paar gewagte Ideen nicht geht in der Forschung. Wonach sollte man sonst streben? Das zeigt auch ein Blick auf die Wissenschaftsgeschichte, die zumindest im nachhinein nicht arm an Visionären erscheint. Da ist zum Beispiel Gottfried Wilhelm Leibniz, der vor 370 Jahren geboren wurde und als letzter universeller Geist von Mathematik über Politik bis hin zur Paläontologie jedes erdenkliche Feld beackerte. Auf fast jedem gilt er heute als visionär. So entwickelte er zum Beispiel das Konzept eines binären Codes für Rechenmaschinen - 230 Jahre, bevor Konrad Zuse die erste Maschine dieser Art tatsächlich baute.

Die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften hat dem Gelehrten jetzt das Jahresthema "Vision als Aufgabe" gewidmet, die Leibniz-Gesellschaft folgt 2016 seiner Feststellung, der Mensch lebe in der "besten aller möglichen Welten". Es hat viele Debatten um diesen Satz gegeben, weil er sich leicht als Lob des Status quo deuten lässt. Leibniz meinte jedoch genau das nicht. Für ihn war die Beste aller möglichen Welten jene, die immer nach vorn strebt, in Bewegung bleibt. Ohne jemals ein Ziel zu erreichen, so wie es die Utopie vorsieht. In dieser besten Welt ist die Vision tatsächlich die Aufgabe.

Nur ein halbes Jahrhundert später kam ein Mann zur Welt, der Leibniz' Idee der besten Welt wohl nahezu perfekt verkörperte und vorlebte. Alexander von Humboldt bereitete seine erste Expedition vor, als er keine 30 Jahre alt war. Mit 33 kroch auf allen Vieren den Chimborazo in Ecuador hinauf. Auf Gepäck verzichtete er, nur auf die Messgeräte nicht. Mit halb erfrorenen Händen nahm er Werte, notierte eine Fülle von Ziffern und Koordinaten und dokumentierte jedes noch so unscheinbare Gewächs an jenem Berg, der damals als der höchste der Welt galt. Warum? Humboldt hatte eine Vision.

Hätte sich Humboldt die Knie und Hände aus reiner Neugier blutig gerieben?

In einer Zeit, in der jeder Baum getrennt vom anderen betrachtet wurde, war er überzeugt von der Existenz einer globalen Natur. Er hatte die Erde als einen Planeten vor Augen, auf dem vom Blau des Himmels bis zum glühenden Kern alles miteinander verbunden ist. Auf seinem Naturgemälde der Tropenwelt in den ecuadorianischen Anden zeichnete Humboldt jedes Pflänzchen und jeden Messwert seiner Expedition ein, getrieben von einer Datensammelwut, die bis heute ihresgleichen sucht. Das Bild, sollte das erste Zeugnis von Humboldts universellem Konzept werden: einer ökologischen Idee, die bis heute Bestand hat, obwohl sie immer noch nur eine Idee ist.

Hätte sich Humboldt die Sohlen, Knie und Hände auf diesem Berg aus reiner Neugier blutig gerieben - hätte er gar sein Leben riskiert, wäre er nicht von einer Vision beseelt gewesen? Und was hätten die anderen ohne seine Visionen getan? In einer aktuellen Biografie des deutschen Naturforschers ("The Invention of Nature", Knopf 2015) beschreibt die amerikanische Autorin Andrea Wulf ausführlich, welche Wirkung der Mann mit seinen Vorstellungen damals auf sein intellektuelles Umfeld hatte. Goethe zum Beispiel, der sich mindestens genau so als Wissenschaftler fühlte wie als Dichter, entwickelte mit Humboldt in Jena und Weimar voller Begeisterung viele seiner eigenen Ideen weiter, von seiner "Urform" des Lebens bis hin zur später berühmten Farbenlehre.

Dass diese Theorien nur sehr vage zutrafen oder sogar überhaupt nicht stimmten, spielt wohl weniger eine Rolle, als dass Goethe durch Humboldts Ideen aus einer tiefen geistig Schaffenskrise gerissen wurde, wie er später selbst sagte. Und genau das kann Humboldt noch heute leisten: Neben seiner Vision einer globalen Natur hatte er nämlich die Vision einer globalen Wissenschaft, die jede Beobachtung des Einzelnen mit dem Wissen der anderen ins Verhältnis setzt.

Die Natur ist kaum minder komplex als die Umgebung einer Krebszelle

Das Ziel sollte sein, aus einer überwältigenden Menge von weltweit gesammelten Details das große Bild zu formen, in dem die Verbindungen und Zusammenhänge "von einer höheren Warte aus" erkennbar werden. Nachdem Humboldt zahlreiche Naturgemälde aus den verschiedensten Gebirgen der Welt erstellt hatte, kleinteilig bis zum Abwinken, fielen ihm diese Verbindungen tatsächlich ins Auge. Die Vegetationszonen der Gebirgszüge waren nie zuvor erkannt, die Gemeinsamkeiten weit entfernter Gebirge wie den Anden und Alpen war nie so deutlich geworden, wie in dieser Summe zahlloser Details.

Vielleicht birgt dieses wissenschaftliche Konzept auch für die Krebsforschung noch die wahre Herausforderung. Die Natur ist ja kaum minder komplex als die Umgebung einer Krebszelle. So wie jedes Gebirge für sich steht, steht jeder Tumor mit seinen besonderen Eigenschaften für sich. Der heutige Stand der Erkenntnis ist, dass es kaum gemeinsame Schwächen in den vielen Arten von Krebs gibt, die man kennt. Vielleicht hat die Fülle an biochemischen Details aber bloß noch nicht den kritischen Punkt erreicht.

Die höhere Warte also, von der aus nicht zwingend "ein Berg" oder "ein Krebs" erkennbar ist, die aber möglicherweise Gemeinsamkeiten offenbart. Genau so könnte diese Idee heute vielen anderen Forschungszweigen neues Leben einhauchen - etwa der Ernährungswissenschaft, die zwar eindeutig die Sammelwut von Humboldt teilt. Aber nicht den Überblick über die Datenlandschaft sucht, sondern an einzelnen Vitaminen und Nährstoffen heruminterpretiert.

Immerhin ist es der Menschheit gelungen, einen Campingwagen im Orbit der Erde zu parken

Aber nicht jede Vision taugt wohl dazu, die Wissenschaft zu inspirieren. Insbesondere dann nicht, wenn Forschungsgelder mutmaßlich ungerecht verteilt werden. Das Human Brain Project (HGP), ein Prestigevorhaben der Europäischen Union zum Beispiel, drohte vor einem Jahr ziemlich kläglich an diesem Punkt zu scheitern. Und an der gewagten Idee, das Gehirn simulieren zu können, um das Denkorgan besser zu verstehen.

Und dieses Verständnis für neue Computertechnologien zu nutzen. Vor allem Verhaltensforscher und Neurobiologen protestierten vehement gegen die unrealistischen Ziele des Projekts und auch gegen seine Machtstruktur. Fragt man Beteiligte des Protests jetzt noch einmal nach den Gründen, dann lag es aber tatsächlich eher an der undurchsichtigen Verteilung des Geldes.

Keine Vision ist vollkommen. Und wenn man in einer klaren Nacht das Glück hat, die Internationale Raumstation wie einen hellen Stern über das Firmament ziehen zu sehen, dann ist klar, dass Vollendung sowieso die größte aller Visionen bleiben wird. Denn die Menschheit hat binnen eines Jahrhunderts die enorme Leistung vollbracht, einen Campingwagen im Orbit zu parken. Bewohnt von einem halben Dutzend Astronauten, die kürzlich zum zweiten Mal eine Blume dort oben zum Blühen brachten. Das Dorf im Weltraum, die Gärten auf dem Mars - das alles bleibt inspirierend. Aber Vision.

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