Vernunft und Risikobereitschaft:Ablasshandel mit der eigenen Psyche

Wenn ein Mensch sich sicher fühlt, geht er größere Risiken ein. Und das gilt sogar dann, wenn die empfundene Sicherheit eine Illusion ist. Dieses Verhalten mag unvernünftig sein - ist aber offenbar tief im Menschen verankert.

Katrin Blawat

Eine Stunde Freizeit blieb den Studenten, ehe sie weiter arbeiten sollten. Ihre Aufgabe bestand darin, Form, Farbe und Geschmack vermeintlicher Vitaminpillen zu beurteilen - in Wirklichkeit handelte es sich jedoch um Scheinpräparate. Nach dem ersten Durchgang gewährten die Forscher, die zu dem Test eingeladen hatten, ihren Probanden eine Pause in einem kahlen Raum, in dem es immerhin Aschenbecher und Zigaretten gab.

25 JAHRE ANSCHNALLPFLICHT

Der Sicherheitsgurt verringert die Gefahr von Verletzungen bei Unfällen.  Allerdings fahren wir mit angelegtem Gurt rasanter als ohne.

(Foto: DPA)

Die Studenten, alle regelmäßige Raucher, konnten sich die Zeit also mit Zigaretten vertreiben. Allerdings wussten sie nicht, dass sie dabei von den Forschern beobachtet wurden. Diese interessierten sich nämlich gar nicht für die Eigenschaften der Pillen, wie sie den Studenten erzählt hatten. Vielmehr wollte das Team um Wen-Bin Chiou von der National Sun Yat-Sen University in Taiwan ermitteln, ob die Studenten mehr rauchten, wenn sie das Gefühl hatten, sich zuvor mit den Vitaminpillen etwas Gutes getan zu haben (Addiction, online).

Die Forscher vermuteten, dass ihre Probanden eine Art Ablasshandel mit der eigenen Psyche betrieben: Wer glaubt, dass Multivitaminpillen der Gesundheit nützen, fühlt sich durch deren Einnahme zu gesundheitsschädlichem Verhalten - etwa rauchen - berechtigt. Chiou vermutete, dass seine Probanden unbewusst Buch führten über ihr Verhalten: Konnten sie sich "Verdienste" gutschreiben, wie das Schlucken vermeintlich gesunder Pillen, würden sie diese Pluspunkte gleich wieder mit umso schädlicherem Verhalten ausgleichen.

In zahlreichen vorherigen Studien hatten Forscher Hinweise auf diese Buchhalter-Mentalität der menschlichen Psyche gefunden, und auch Chious Ergebnisse bestätigten sie. Zwar ist es ein Irrglaube, dass Multivitaminpillen die Risiken des Rauchens aufwiegen - die Präparate können die Gefahr im Gegenteil sogar noch erhöhen. Dessen ungeachtet glaubten Chious Probanden jedoch an die heilsame Kraft der Pillen. Jene Personen, die davon besonders stark überzeugt waren, rauchten deutlich mehr als Testpersonen, die den künstlichen Vitaminen zurückhaltender gegenüberstanden.

Noch deutlicher fiel der Vergleich mit den Kontroll-Probanden aus. Ihnen hatten die Forscher ausdrücklich gesagt, dass es sich bei den Pillen um wirkungslose Scheinpräparate handelte. In der Pause rauchten diese Probanden nur etwa halb so viel wie ihre Kollegen, die auf die gesundheitsfördernde Kraft der Präparate setzten.

"Die Probanden führten sich selbst hinters Licht", sagt Studienleiter Chiou. Er kennt diese Art der Selbsttäuschung aus früheren Studien, in denen sich seine Testpersonen weniger bewegten, nachdem sie Nahrungsergänzungsmittel genommen hatten. Daran änderten auch die Hinweise der Forscher nichts, dass Pillen niemals den gleichen gesundheitlichen Nutzen bringen wie körperliche Aktivität.

Was auf den ersten Blick wie ein höchst unvernünftiges Verhalten wirkt, ist offenbar tief im Menschen verankert. Fühlt er sich auf der sicheren Seite, setzt er sich im daraus folgenden Hochgefühl unbewusst Gefahren aus. "Wir wollen kein Null-Risiko", sagt der Psychologe Rüdiger Trimpop von der Universität Jena. "Das beobachten wir in allen Lebensbereichen."

Sogar in so alltäglichen wie dem eigenen Haushalt, wie eine amerikanische Studie zeigte. Als es in den USA zur Pflicht wurde, Packungen starker Arzneimittel mit einem kindersicheren Verschluss zu versehen, erlitten im gleichen Jahr 3500 Kinder mehr als durchschnittlich in den Jahren zuvor eine Medikamentenvergiftung. Offenbar wähnten die Eltern ihre Kinder wegen der aufwendigeren Verschlüsse in größerer Sicherheit und ließen die Packungen sorgloser in der Nähe von Kindern liegen - häufig wohl auch unverschlossen, so die Erklärung der Forscher.

Wer sich sicher fühlt, geht größere Risiken ein. Dies gilt sogar dann, wenn die empfundene Sicherheit in Wirklichkeit gar nicht besteht, wie im Fall der vermeintlichen Vitaminpillen. Der kanadische Psychologe Gerard Wilde hat für dieses Verhalten den Begriff der Risiko-Homöostase geprägt.

Demnach funktioniert die menschliche Psyche wie ein Thermostat, stets darauf bedacht, ein gleichbleibendes Maß an Unsicherheit zu wahren. Wo das Niveau dieses Wohlfühl-Risikos liegt, ist bei jeder Person verschieden. Doch für alle gilt: Droht das - unbewusst als angenehm empfundene - Risiko durch gut gemeinte Maßnahmen zu schwinden, steuert der Mensch durch sein Verhalten gegen.

Mehr Unfälle mit ABS

Zum Beispiel, indem er schneller und enger um Kurven fährt, schärfer bremst und stärker beschleunigt. So verhielten sich in einer berühmt gewordenen Studie Münchner Taxifahrer, nachdem ihre Autos Ende der 1980er Jahre mit ABS ausgestattet worden waren.

Vermeintliche Fahrgäste, die in Wirklichkeit Forscher waren, ließen sich vor und nach der Aufrüstung eines Teils der Taxiflotte durch die Stadt kutschieren. Dabei wussten die Forscher nicht, ob sie in einem Auto mit oder ohne ABS saßen. Dies wurde ihnen jedoch schnell anhand der aggressiveren Fahrweise jener Personen klar, die ein Taxi mit ABS steuerten. In der Gewissheit, dass sie durch die neue Technik besser geschützt waren, verhielten sich diese Fahrer deutlich riskanter.

Zahlreiche weitere Beispiele aus dem Straßenverkehr stützen die Theorie von der menschlichen Lust am Risiko. So sollten Probanden eine gut 100 Kilometer lange Strecke sowohl mit als auch ohne angelegten Sicherheitsgurt fahren. Waren sie angeschnallt, schienen sich die Fahrer fast unverwundbar zu fühlen, wie die Forscher schreiben. Mit angelegtem Gurt überholten die Testpersonen rasanter, führen insgesamt schneller und dichter auf andere Autos auf.

Weitere Untersuchungen zeigten, dass auch breite Straßen und eine helle nächtliche Beleuchtung zu einem riskanten Fahrstil verleiten, während die Menschen umgekehrt in Tunneln und an unübersichtlichen Kreuzungen besser aufpassen. Dem Verkehrspsychologen Bernhard Schlag von der Technischen Universität Dresden zufolge setzen viele Menschen Sicherheit gleich mit dem Gedanken, sich mehr erlauben zu können.

Manchmal allerdings auch zu viel, wie das Beispiel der Münchner Taxifahrer zeigte. Sie trauten dem Antiblockiersystem offenbar mehr Schutzwirkung zu, als gerechtfertigt gewesen wäre. Obwohl zunächst nur ein Viertel aller Taxis die technische Aufrüstung erhalten hatte, waren die ABS-Autos nach drei Jahren in knapp die Hälfte aller Taxi-Unfälle verwickelt. Auch Fahrradfahrer, die mit Helm unterwegs sind, fahren einer weiteren Studie zufolge dichter an Autos vorbei und benehmen sich im Straßenverkehr insgesamt risikofreudiger als zu Zeiten, in denen sie noch keinen Kopfschutz trugen.

Fatal ist nur, dass es Menschen extrem schwerfällt, Gefahren richtig einzuschätzen. Deshalb können auch noch so ausgefeilte technische Hilfsmittel und Sicherheitsvorkehrungen Unfälle nicht vermeiden. Dennoch verteidigen Psychologen den Drang zum Risiko und sehen ihn als wichtigen Antrieb. "Risiken sind die Würze des Lebens", sagt Trimpop. "Erst das Wechselspiel zwischen einer riskanten Situation und der Kontrolle darüber ermöglicht einer Gesellschaft den Fortschritt."

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