Verhaltensbiologie:Vögel können Gesichter unterscheiden

Tauben und Krähen erinnern sich ganz genau daran, wer sie einmal gefangen oder gescheucht hat. Um sie zu täuschen, reicht es nicht, sich umzuziehen. Die Tiere erkennen uns am Gesicht.

Wer im Park einmal die Tauben oder Krähen verscheucht hat, muss sich nicht wundern, wenn die Vögel beim nächsten Mal einen Bogen um ihn machen - selbst wenn er oder sie völlig andere Kleidung trägt. Die Tiere sind offenbar zu einer Leistung in der Lage, die selbst manchen Menschen schwer fällt: Sie können einzelne Personen am Gesicht identifizieren.

Brunnen im Schlossgarten

Tauben, Krähen und andere Vögel können Menschen anhand des Gesichts identifizieren.

(Foto: picture-alliance/ dpa)

Forscher der Université Paris Ouest Nanterre La Défense hatten Tauben in einem Park in der französischen Hauptstadt gefüttert. Anschließend wurden die Tiere von einer der zwei Wissenschaftlerinnen verjagt, während die zweite sie in Ruhe fressen ließ.

Beide Frauen waren sich äußerlich ähnlich - trugen jedoch Laborkittel unterschiedlicher Farbe. Wenn sie später erneut in dem Park auftauchten, vermieden die Vögel immer jene Forscherin, die sie gestört hatte - auch wenn beide Frauen die Tiere ignorierten. Und dies war auch der Fall, wenn beide Frauen zuvor ihre Kittel getauscht hatten.

"Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Tauben die Wissenschaftlerinnen an ihren Gesichtern erkannten, denn beide Individuen waren Frauen mit ähnlichem Alter, Figur und Hautfarbe", interpretiert Dalila Bovet von der Université Paris ihre Ergebnisse, die auf einer Tagung der Society for Experimental Biology Annual Conference in Glasgow vorgestellt wurden. "Interessanterweise nutzten die Tauben spontan, ohne Training, die bedeutsamsten Merkmale der Personen - wahrscheinlich die Gesichter - anstelle der Laborkittel, die 90 Prozent ihres Körpers verdeckten."

Doch könnten es nicht auch typische Bewegungsmuster oder Gesten der Menschen sein, die Vögel unterscheiden?

Dagegen sprechen die Beobachtungen von US-Forschern an Krähen. Wie John Marzluff von der University of Washington in Seattle in den Proceedings of the Royal Society B berichtet, reagieren die Amerikanerkrähen auf dem Universitätsgelände aggressiv auf Personen, die die Maske eines Höhlenmenschen tragen.

Seit Marzluff vor fünf Jahren einige der Tiere getarnt mit einer solchen Maske gefangen und später wieder freigelassen hat, schimpfen sie jeden aus und verüben sogar Scheinangriffe, wenn er das auffällige Gesicht aufweist. Fachleute sprechen dabei vom "Hassen", einem Verhalten, mit dem viele Vogelarten auf potentielle Feinde reagieren.

Andere Masken lösten diese Reaktionen nicht aus. Auch kann Marzluff sich von den Vögeln unbehelligt auf dem Campus bewegen, solange er die Maske nicht trägt.

Besonders bemerkenswert ist, dass seit dem ersten Versuch nicht nur jene Tiere entsprechend auf das künstliche Gesicht reagieren, die selbst kurz in Gefangenschaft waren. Auch Krähen, die beobachtet hatten, wie Artgenossen gefangen wurden, beteiligten sich am Hassen. Zwei Wochen nach dem Beginn des Experiments zeigten 26 Prozent der Krähen auf dem Gelände das entsprechende Verhalten angesichts der Maske - darunter viele Vögel, die diese Reaktion von anderen gelernt hatten.

Fast drei Jahre später beobachteten die Wissenschaftler das Hassen bereits bei 66 Prozent. Und inzwischen hat sich das Gebiet, auf dem jeder, der sich entsprechend verhüllt, gehasst wird, deutlich ausgeweitet. Sogar junge Krähen, die vor fünf Jahren noch gar nicht geboren waren, haben das Verhalten von ihren Eltern übernommen.

Dass Krähen, Tauben und andere Vögel Menschen unterscheiden können, wird von Fachleuten schon längere Zeit angenommen. Im Mai erst hatten Wissenschaftler der Staatlichen Universität Seoul berichtet, dass Dohlen einen Studenten verfolgten, der Kameras in ihren Nestern installiert hatte. "Ich versuchte, die Dohle hereinzulegen, indem ich meine Kappe an jemand anderen gab", berichtete Won Young Lee. "Aber das funktionierte nicht. Wenn ich weglief, folgte der Vogel mir, und nicht dem Kollegen mit meiner Kappe."

Warum das so ist, ist umstritten. Die Wissenschaftler in Frankreich vermuten, dass diese Fähigkeit eine Anpassung der Tiere an das Zusammenleben mit den Menschen sein könnte. Ähnlich sieht es Marzluff. "Wenn man lernen kann, wem man aus dem Weg gehen und wen man aufsuchen sollte, dann ist das erheblich einfacher als ständig verletzt zu werden", erklärte er der New York Times. "Ich denke, das erlaubt diesen Tieren, mit uns zu überleben - und sogar Vorteile aus unserer Gesellschaft zu ziehen - auf eine sehr sichere und effektive Weise."

Wer die University of Washington in Seattle in Zukunft aufsuchen will, ohne unter den Krähen für Unruhe zu sorgen: Bitte keine Maske eines Höhlenmenschen tragen. Und wer schon aussieht wie ein Höhlenmensch sollte sich wenigstens eine Pappnase aufsetzen.

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