Verhaltensbiologie:Warum Ratten sich helfen

Ratte

Unterscheiden sich nicht sehr vom Menschen: Ratten sind sehr soziale Tiere - aber nur manchmal. Das ergab eine neue Studie.

(Foto: Arno Burgi/dpa)

Die Nager sind in ihrem Zusammenleben überaus kooperativ. Dass es dabei nicht immer ganz gerecht zugeht, hat für Biologen einen tieferen Sinn.

Von Katrin Blawat

Besser, man zeigt sich beim ersten Treffen von der guten Seite. Der andere hätte gern etwas zu essen? Dann zahlt es sich aus, ihm zu einem Leckerbissen zu verhelfen. Denn der Grundsatz, wonach man sich immer zwei Mal im Leben sieht, gilt auch für Ratten. Und wer weiß, vielleicht ist der andere später ausgerechnet dann zur Stelle, wenn es im eigenen Fell juckt und ein Partner zum Kraulen hilfreich wäre. Ratten beherrschen solch faire Tauschgeschäfte mit verschiedenen Dienstleistungen - zum Beispiel Futterbeschaffung gegen Fellpflege - hervorragend, wie Manon Schweinfurth und Michael Taborsky von der Universität Bern mithilfe von Experimenten im Fachblatt Current Biology zeigen. Selbst wenn sie von Nagetieren stammen, können derartige Erkenntnisse auch Aufschluss geben über die Natur des Menschen - der kooperativsten Spezies überhaupt.

Bisher wurden vor allem Primaten in Versuchen daraufhin getestet, ob sie sich auf einen gegenseitigen, fairen Handel mit verschiedenen "Währungen" einlassen. Schimpansen sind Meister solcher Deals: Sie tauschen Kraul-Einheiten gegen soziale Unterstützung, diese wiederum gegen einen Happen Fleisch und Fleisch gegen Sex.

Doch worauf ein solch kooperatives Verhalten beruht, erschließt sich Wissenschaftlern meist nicht auf den ersten Blick. Vielleicht ist der Helfer ja einfach ein netter Typ, der anderen gerne Gutes tut. Oder aber er führt eine mentale Buchhaltung nach dem Motto "Wie du mir, so ich dir".

Gemäß dieser Logik dürfte nur Hilfe erfahren, wer selbst den anderen in der Vergangenheit nicht hängen gelassen hat. "Wir Biologen haben lange mit diesem im Englischen Tit for Tat genannten Prinzip geliebäugelt, weil es erklären kann, warum Kooperation nicht durch Schnorrer unterhöhlt wird", sagt Peter Hammerstein. An der Humboldt-Universität Berlin erforscht er mithilfe mathematischer Modelle, wie sich Kooperation entwickeln konnte. "Leider haben mehrere Jahrzehnte biologischer Forschung wenig Aufschluss über die mentale Buchhaltung bei Kooperation geliefert", sagt der theoretische Biologe. Die aktuelle Studie nennt er einen "erfrischenden Beitrag" zu dieser Debatte.

Manche Tiere kooperierten erst recht nicht, wenn ihnen Gutes widerfahren war

Schweinfurth und Taborsky testeten 37 Paare weiblicher Ratten. Jedes Tier bekam nacheinander die Rolle des möglichen Helfers und die des Hilfsbedürftigen zugewiesen. In letzterer Situation erlebten die Tiere sowohl, dass ihnen die gewünschte Unterstützung gewährt wurde, als auch, dass der andere nicht auf ihre Nöte reagierte. Die erfahrene Hilfe konnten die Ratten in jeweils der anderen "Währung" erwidern: Wer zuvor gekrault worden war, konnte sich durch Futterbeschaffung für den Partner revanchieren und umgekehrt. Überwiegend ließen sich die Ratten auf diese Tauschgeschäfte ein. Wer Hilfe erfahren hatte, zeigte sich auch selbst kooperativer.

Bemerkenswert an den Ergebnissen war jedoch, dass Ratten ihre Entscheidung für oder wider gegenseitige Deals nicht nach dem Alles-oder-nichts-Prinzip fällen. So steigerte sich nicht bei jedem Tier die Bereitschaft, einem Artgenossen zu Futter zu verhelfen, wenn dieser es zuvor im lästig juckenden Nacken geleckt hatte. Etwa jeder dritter Nager zeigte sich daraufhin im Gegenteil sogar weniger hilfsbereit.

Auf den ersten Blick laufen diese Ergebnisse dem Tit-for-Tat-Prinzip zuwider; einige Ratten scheinen sich in ihrer mentalen Buchhaltung zu verrechnen. Die Autoren halten jedoch eine andere Erklärung für wahrscheinlicher. Demnach funktioniert das Tit-for-Tat-Prinzip nicht trotz, sondern gerade wegen einer gewissen Fehlertoleranz. Schließlich kann niemand immer zur Stelle sein, wenn seine Hilfe gebraucht wird, oder er mag einen Hilferuf einmal schlicht überhören. Nur wenn die Mitglieder einer Gruppe auch solche Situationen wegstecken, ohne lange Zeit beleidigt zu sein, kann sich Kooperation überhaupt entwickeln.

In dieser Beziehung unterscheidet die Ratte nicht viel von einem Menschen, der eine Antwort auf seine E-Mail erwartet. Möglich, dass sich der Adressat aus böser Absicht nicht rührt. Vielleicht funktioniert aber auch bloß sein Server nicht, oder er ist zu beschäftigt, um zu reagieren. Das mag ärgerlich sein. Die gesamte Zusammenarbeit daraufhin jedoch sofort einzustellen, wäre sicher nicht der klügste Weg. Mit solch kleinlicher Erbsenzählerei wäre die Evolution der gegenseitigen Hilfe nicht weit gekommen. Vielmehr gilt es, in der mentalen Buchhaltung der gegenseitigen Gefälligkeiten die richtige Mischung aus Sorgfalt und Großzügigkeit anzuwenden: Den Einzelfall nicht überbewerten, die Statistik dagegen genau im Blick halten. Ratten beherrschen das.

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