Verbreitungswege von Seuchen:Die Mathematik der Viren

Verbreitungswege von Seuchen: Das weltweite Flugnetz gilt vielen Fachleuten heute als Hauptroute für die Verbreitung von Pathogenen in andere Länder

Das weltweite Flugnetz gilt vielen Fachleuten heute als Hauptroute für die Verbreitung von Pathogenen in andere Länder

(Foto: Brockmann et al)

Mit "verzerrten Karten" und komplexen Modellen versuchen Forscher vorherzusagen, wie Seuchen sich weltweit ausbreiten. Doch Epidemien wie Ebola sind extrem bewegliche Ziele - weil der Mensch so unberechenbar ist.

Von Christoph Behrens

Noch ahnt niemand von der drohenden Plage, doch das wird sich schnell ändern, denn die Pest hat Deutschland infiziert. 21 Erkrankte sind es bereits, und ihre Zahl wächst weiter. Mediziner rätseln über Symptome wie Beulen und geschwollene Lymphknoten. Nun isoliert ein Forscherteam den Keim "Perpoxia solaris" erstmals im Labor, die Zeitungen schreiben "rätselhafte neue Krankheit in Deutschland entdeckt."

Zeit also, das Tempo zu erhöhen. Der Erreger bekommt ein neues Gen verpasst: "Antibiotikaresistenz" wird die Forscher ein wenig aufhalten und der Seuche Zeit verschaffen. Ratten, Vögel, Schiffe, Flugzeuge tragen sie weiter nach Polen, Russland, China - in dicht besiedelten Gebieten mutiert die Beulenpest weiter zur schnell tödlichen Lungenpest. Der Keim wird immer gemeiner und hält jetzt auch großer Hitze stand - das ebnet ihm den Weg nach Afrika. Nach einer halben Stunde Spielzeit ist Perpoxia solaris in jedes Land der Erde vorgedrungen. Über den Nachrichtenticker läuft "Regierung der USA gestürzt" und "Anarchie in Asien". Der Fantasiekeim im Computerspiel "Plague Inc: Evolved" hat ganze Arbeit geleistet.

"Können Sie die ganze Welt anstecken?"

Die Aufgabe in diesem Spiel ist recht simpel: Ihr Pathogen hat gerade Patient Null infiziert. Können Sie die ganze Welt anstecken? Zur Auswahl stehen die Pest, Pocken, Spanische Grippe, Tuberkulose, so gut wie jede Plage lässt sich auf die Menschheit loslassen.

Ein fieses Vergnügen, aber auch ein lehrreiches. Denn wer das stark vereinfachte Plague Inc spielt, kann erahnen, mit welch komplexen Fragen sich Forscher herumschlagen, wenn sie berechnen wollen, welchen Verlauf eine reale Seuche nimmt. Wie viele Personen steckt jeder Infizierte an? Auf welchen Wegen verbreitet sich der Erreger, wie lange hält er Kälte, Hitze, Medikamenten stand? Wie schnell verändert er sich selbst durch Mutation und Selektion? "Am schwierigsten ist es aber", sagt Dirk Brockmann von der Humboldt Universität (HU) Berlin, "das Verhalten der Menschen abzuschätzen."

Brockmann operiert mit komplexen Gleichungen, um reale Seuchen wie derzeit Ebola für das Robert-Koch-Institut zu modellieren. Infektionsraten, Resistenzen und Inkubationszeiten - das alles kann der Physiker noch recht einfach mathematisch darstellen.

Verbreitungswege von Seuchen: Statt dem realen geographischen Abstand zwischen zwei Orten orientieren sich Epidemiologen zunehmend an "effektiven Distanzen", die auf Flugzeiten und Passagieraufkommen basieren. Hier ist eine solche Karte ausgehend vom Münchner Flughafen (MUC) dargestellt.

Statt dem realen geographischen Abstand zwischen zwei Orten orientieren sich Epidemiologen zunehmend an "effektiven Distanzen", die auf Flugzeiten und Passagieraufkommen basieren. Hier ist eine solche Karte ausgehend vom Münchner Flughafen (MUC) dargestellt.

(Foto: Brockmann et al / ROCS / HU)

Doch Menschen sind schwierig. Sie hören nicht auf Ärzte, handeln irrational und panisch. Oder sie laufen einfach weg. Wenn sie schnell genug laufen, dämmt das die Seuche vielleicht ein. Laufen sie zu langsam, tragen sie den Erreger über die ganze Welt.

"Explosive Dynamik" nennen die Experten so eine rasche Verhaltensänderung. So war das auch, als die Pest im 14. Jahrhundert Europa heimsuchte. Hätte man die Erde damals aus dem Weltraum betrachtet und jeden Infizierten mit einem roten Punkt markiert, man hätte sehr genau sehen können, wie die Seuche wellenförmig vom sizilianischen Messina aus über den Kontinent wälzt. Die Menschen reisten nicht viel, und wenn, dann meist zu Fuß. Historische Pandemien, so vermutet man, verliefen daher alle recht ähnlich: Gleichförmig wie eine Welle breiteten sie sich wohl von einem zentralen Punkt aus, weil die Menschen damals einfach nur einen begrenzten Bewegungsspielraum hatten.

Die Situation hat sich in den vergangenen Jahrzehnten radikal gewandelt. "Wir bewegen uns heute in komplexen Mobilitätsnetzwerken", sagt Brockmann, "in so einer stark vernetzten Welt spielt die Geografie keine Rolle mehr". Wer gestern noch in Liberia war, kann heute schon in New York sein und morgen in Hong Kong. Das macht Epidemien in den mathematischen Modellen der Forscher zu beweglichen Zielen. Man müsse daher "die Welt neu und verzerrt malen", sagt Brockmann. Grundlage für diese Kartierung des weltweiten Ansteckungsrisikos ist die Abschätzung, wie viele Güter, Tiere und Menschen zwischen zwei Orten unterwegs sind. New York wäre dann auf so eine Karte näher an London als ein kleines Dorf in Schottland.

Mit einer solchen verzerrten Karte hat Brockmanns Team nun berechnet, welche Route der Ebola-Erreger am ehesten nehmen könnte, sollte er es denn schaffen, aus Westafrika zu entkommen. Mit Abstand die größten Risiken einer Ansteckung tragen afrikanische Staaten wie der Senegal, Gambia oder Ghana.

Das erste europäische Land auf dieser Liste des "relativen Importrisikos" ist Großbritannien auf Platz sieben, Deutschland steht an 16. Stelle. Der Pariser Charles-de-Gaulle-Flughafen nimmt als Verkehrsknotenpunkt eine herausragende Rolle ein - hier landen viele Passagiere aus Afrika und steigen dann in andere Maschinen um. Im Gegensatz zu vielen Entwicklungsländern bestehen in westlichen Staaten jedoch ganz andere Möglichkeiten, Erkrankte zu behandeln, oder sie in Quarantäneeinrichtungen unterzubringen. Dass Ebola in Industriestaaten zur ernsthaften Gesundheitsgefahr wird, dürfte deshalb noch deutlich unwahrscheinlicher sein als das Risiko dafür, dass vereinzelte Infizierte einreisen.

Den Modellen von Seuchen fehlt es oft an empirischen Daten

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Und noch eine Frage beantwortet die Simulation: Wäre es nicht möglich, einfach alle Fluglinien nach Westafrika zu kappen, um Europa vor der Epidemie zu bewahren? "Das wäre sehr gefährlich", sagt Dirk Brockmann von der HU Berlin. Denn die Welt sei heute so vernetzt, dass die Einschränkungen von Fluglinien eine Epidemie höchstens um einige Wochen verzögere. Weil Reisende wohl auf andere Routen ausweichen würden, könnten Reiseeinschränkungen auch kontraproduktiv wirken. "Dann hätte man in drei Monaten deutlich mehr Infizierte", sagt der Physiker.

Häufig nutzen Forscher zur Modellierung von Epidemien Erkenntnisse aus der Netzwerkforschung, mit denen auch virale Phänomene auf sozialen Netzwerken wie Facebook und Twitter untersucht werden. Übertragen auf Epidemien werden dann statt einzelnen Facebook-Nutzern zum Beispiel die Flughäfen mit ihrem jeweiligen Passagieraufkommen zu den "Knoten" des Netzwerks. Aus den Reiserouten und der Anzahl der beförderten Passagiere - den "Kanten" des Netzwerks - können Forscher dann für jeden Ort die Wahrscheinlichkeit berechnen, dass ein Infizierter weitere Personen ansteckt.

Alle ausgefeilten Modelle bleiben vor allem eins: Modelle

Ein Rat, der sich aus den Rechnungen gut ableiten lässt, ist zum Beispiel, dass es weitaus schlauer ist, Seuchen schon im frühen Stadium an Ort und Stelle zu bekämpfen, bevor sie große Metropolen erreichen. Es sei sogar ökonomisch sinnvoll, schreibt Dirk Helbing von der ETH Zürich in einer Analyse, Impfstoffe kostenlos an Entwicklungsländer zu verteilen, bevor die Kosten für die Bekämpfung einer Epidemie rasant ansteigen.

Doch so ausgefeilt die Modelle der Forscher auch sind, sie bleiben vor allem eins: Modelle. Und in den Gleichungen können die Wissenschaftler auch viele Tücken einer Epidemie einfach übersehen. So war für die Schweinegrippe-Epidemie, die im Herbst 2009 die USA erfasste, wohl nicht der Flugverkehr das treibende Moment.

Vielmehr verbreiteten hauptsächlich Schulkinder den Erreger H1N1 auf äußerst kurzen Distanzen, etwa bei Fahrten mit dem Schulbus, schreiben Forscher im Fachblatt Plos Computational Biology. Die Mathematiker und Mediziner hatten massenweise Abrechnungen von Krankenversicherungen ausgewertet, um die Grippeepidemie nachzuvollziehen. Ihre Daten deckten so 90 Prozent der Bevölkerung in 48 Bundesstaaten ab. Anders als es die modernen Modelle voraussagen würden, wälzte die Epidemie demnach vom Südosten der USA ausgehend drei Monate lang relativ gleichmäßig durchs Land.

"Das Gros der Pandemie-Welle war sehr langsam, sie kam ungefähr 22 Kilometer pro Tag voran", sagte die Studien-Leiterin Julia Gog von der Universität Cambridge. Dass die Pandemie trotz Flugverkehr und hoher Mobilität auf den Straßen so gemächlich war, "stellt unsere Ansicht von modernen Pandemien infrage". Tatsächlich wisse man nach wie vor sehr wenig davon, wie Pandemien sich verbreiten, kritisiert Gog. Viele Modelle basierten auf Meinungen und Vermutungen.

"Uns fehlt noch das volle Verständnis für die Dynamik dieser Phänomene", schreibt auch ETH-Forscher Helbing. Gerade rasche Änderungen in einem System seien noch viel zu wenig verstanden. Epidemien abzuschätzen bleibt also ein schwieriges Geschäft. Anders als viele Kollegen haben die Komplexitätsforscher dabei ein fundamentales Problem, so der Physiker Dirk Brockmann: "Wir können kaum ins Labor gehen und eine Epidemie kontrolliert nachstellen."

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