Venezuela:Ohne Kittel

35 Mal wurde in das Tropeninstitut der Universidad Central de Venezuela bereits eingebrochen. Wichtige Daten und Ausrüstung verschwanden. Die Forscher wollen trotzdem nicht aufgeben - auch wenn das bedeutet, die Arbeitsunterlagen mit nach Hause zu nehmen.

Von Valentina Oropeza

Als Belkis Alarcón am 7. März 2016 frühmorgens das venezolanische Institut für Tropenmedizin betrat, ahnte sie bereits, dass etwas Schlimmes passiert war. Sie sah Papiere und Ordner auf dem Boden verstreut, aufgerissene Schubladen und zerbrochenes Glas - das Werk von Einbrechern. Mehrere Dozenten warteten bereits auf die Direktorin des Instituts in der Hauptstadt Caracas, das international für seine Forschung an tropischen Infektionskrankheiten berühmt ist. Alarcóns Mitarbeiter waren außer sich und wollten melden, was ihnen gestohlen wurde. Fünf Sicherheitstüren waren zerstört worden. Der Anblick allein verriet Alarcón bereits, dass sie mit großen Verlusten rechnen musste.

Alarcón setzte sich, atmete tief durch. Dann erfuhr sie, dass aus der Abteilung für Immunologie sieben Computer gestohlen worden waren. Auf ihren Festplatten waren fast zehn Jahre Forschungsarbeit gespeichert, darunter Daten über die Ausbreitung der Chagas-Krankheit, die durch Parasiten hervorgerufen wird. Der Weltgesundheitsorganisation WHO zufolge infizieren sich sieben Millionen Menschen pro Jahr mit dem Erreger, vom Süden der USA bis nach Argentinien.

Im Jahr 2007 war der Erreger zum ersten Mal in Caracas aufgetaucht und die Forscher hatten ihn seither verfolgt, tausend Infektionen haben sie untersucht. Ausgerechnet diese wertvollen Daten waren verloren, musste die Direktorin Alarcón erfahren. Und das war nur der Beginn einer Einbruchswelle, die bis heute anhält.

Insgesamt 35 Mal wurde zwischen 2016 und dem ersten Halbjahr 2017 in das Institut eingebrochen. Die Täter haben Mikroskope mitgehen lassen, Computer, Drucker, Kopierer, Bauteile des Computernetzwerks, Klima- und Alarmanlagen. Sogar die elektrische Leitungen rissen die Diebe heraus. Die Abteilung für Schlangen, für Insekten und die Kardiologie mussten umgesiedelt werden, weil sie keinen Strom mehr hatten. Den Immunologen erging es ähnlich, sie konnten die Geräte, die im Labor die Arbeitsplätze steril halten, nicht mehr verwenden. Die Proben von Patienten konnten sie deshalb nicht mehr sicher verarbeiten und auch keine Zellkulturen mehr anlegen.

Seit einiger Zeit besteht die Direktorin Alarcón nicht mehr darauf, dass ihre Mitarbeiter im Labor die weißen Schutzkittel tragen. Ohne Klimaanlage laufen in der karibischen Mittagshitze die Schweißperlen rasch die Arme hinunter bis zu den Latexhandschuhe. Sie selbst allerdings zieht den Kittel weiterhin an. In ihrer Abteilung stehen inzwischen Computer, die eine deutsch-venezolanische Hilfsorganisation gespendet hat.

35 Mal hat die Universität Anzeige erstattet, doch keine einzige Apparatur wurde bislang wiedergefunden, niemand wurde verhaftet. Nur in jenen Monaten im Jahr 2016, als das Institut von einem Mäzen private Wachleute finanziert bekam, blieben die Diebstähle aus.

Das Institut ist abhängig von der Universidad Central de Venezuela (UCV), der ältesten staatlichen Universität und eine der wichtigsten im Land. Es befindet sich in einem weißen Gebäude mit weitläufigen Gängen auf dem Campus, der im Jahr 2000 von der Unesco zum Weltkulturerbe erklärt wurde. Die Schönheit konnte jedoch nicht verhindern, dass auch die Situation der Universität inzwischen verzweifelt ist. Während Professoren und Studenten auf finanzielle Unterstützung warten, müssen sie improvisieren, um den Betrieb am Laufen zu halten.

Studenten organisieren sich, um den Campus zu pflegen

Kürzlich haben sich 900 Medizinstudenten mit Macheten bewaffnet, um das Unkraut am Eingang des Instituts für Mikrobiologie, Parasitologe und Tropenmedizin zu entfernen. Ihre Hände schützen sie mit OP-Handschuhen. Die Universität hat kein Geld mehr, um Gärtner oder Hausmeister zu bezahlen. Motiviert durch lateinamerikanische Rhythmen, die aus den Lautsprechern eines Autos wummern, machen sich die Studenten an ihre Aufgaben: Sie kürzen das Gestrüpp, füllen es in schwarze Säcke, stapeln sie, damit die Müllabfuhr sie abtransportieren kann.

Ahiderlyn Rojas ist 20 Jahre alt und im zweiten Jahr ihres Medizinstudiums. Sie schwitzt, aber es beruhigt sie, etwas tun zu können. Frustriert muss sie erleben, wie der Stillstand an der Universität ihr Studium behindert. "Wichtige Praktika mussten bei uns ausfallen, weil die Labors nach jedem neuen Einbruch wieder nicht zu gebrauchen waren. Wir haben es satt, dass wir einfach ignoriert werden", sagt sie. Ihr blauer Handschuh bekommt Risse bei der Arbeit. Aber das macht ihr nichts aus, sie sagt: "Das hier ist die einzige Möglichkeit für uns weiterzumachen."

Auch zu Überfällen kam es inzwischen auf dem Campus. Um das Risiko von Übergriffen zu reduzieren, arbeiten die Wissenschaftler am Tropeninstitut deshalb nur noch bis 17 Uhr. Gleich nach ihren letzten Terminen oder Vorlesungen verlassen sie das Gebäude, auf jeden Fall vor Einbruch der Dunkelheit. Das war bislang immer die beste Zeit, um mit Kollegen über Projekte zu diskutieren. Ihre Laptops verstecken sie in ihren Taschen. Sie nehmen sie lieber mit nach Hause, um ihre Forschungsdaten zu schützen - für den Fall, dass die Büros mal wieder ausgeräumt werden. Dabei nehmen sie in Kauf, dass die Datenspeicher natürlich auch auf dem Weg über den Campus abhanden kommen können.

Den Vereinten Nationen zufolge steht Venezuela heute bei der Zahl der Gewalttaten weltweit an zweiter Stelle. Allein 2016 wurden dort 21 752 Menschen umgebracht. Der Kollaps des Ölpreises in den vergangenen Jahren machte es dem Staat fast unmöglich, Nahrungsmittel oder Medikamente zu importieren, brachte das Land in eine verzweifelte Lage.

An diesem Nachmittag zum Beispiel fragt eine Patientin am tropenmedizinischen Institut, ob man ihr Blut mit einem üblichen Standardtest auf Toxoplasmose, Röteln, Cytomegaloviren, Herpes und Hepatitis untersuchen könne. Alarcón muss ihr mitteilen, dass dafür momentan die nötigen Chemikalien fehlen und schickt die Patientin in die Uniklinik, vielleicht hat sie dort mehr Glück.

Nach jedem Wochenende fürchtet sie, dass wieder etwas fehlt

Die finanzielle Not, die Unsicherheit und die Auswanderung von Spezialisten in andere Länder haben den wissenschaftlichen Output des Instituts drastisch sinken lassen. Brachte es im Jahr 2008 noch 97 Publikationen in Fachjournalen unter, waren es 2016 nur 34. Immerhin haben die Wissenschaftler damit angefangen, die verlorenen Daten zur Chagas-Ausbreitung neu zu erheben. Sie untersuchen alte Proben nach dem Erreger. Dieses Mal speichern sie ihre Ergebnisse auf verschiedenen Computern und mobilen Datenträgern. Einiges deutet darauf hin, dass die Analyse des Erbguts eines Patienten etwas darüber aussagen kann, ob er sich von der Chagas-Krankheit erholen wird. Den Fachartikel über diesen Fund möchte Alarcón bald veröffentlichen. Doch jeden Montag, wenn sie nach dem Wochenende wieder ins Labor kommt, fürchtet sie, dass es wieder ausgeplündert wurde. Sie streicht ihren weißen Kittel glatt und lächelt tapfer. "Forschen ist unsere Leidenschaft, wir werden nicht damit aufhören."

Deutsche Bearbeitung: Astrid Viciano.

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