Unaufgeklärte Morde:Was die Ermittlungen so schwierig macht

Plakat der Mordkommission am Tatort an der Isar

Mit einem Plakat am Tatort an der Isar in München bittet die Polizei um Hinweise aus der Bevölkerung

(Foto: Stephan Rumpf)

Morde werden in Deutschland fast immer aufgeklärt. Doch zu manchem Mörder fehlt jede heiße Spur. Wieso das so ist, lässt sich am Beispiel des "Isar-Mords" in München aufzeigen.

Von Markus C. Schulte von Drach

Bis heute gibt es keine Spur zum Täter. Dabei hatte die Münchner Polizei nun schon ein halbes Jahr Zeit, den Unbekannten zu finden, der an der Isar einen 31-jährigen Italiener erstochen hat. Vor dem Mord hatte der Täter der Freundin des Opfers ins Gesicht gespuckt, als das Paar auf dem Fahrrad an ihm vorbeifuhr. Der junge Mann kehrte daraufhin um, er wollte den Täter zur Rede zu stellen. Aus einer Entfernung von 50 Metern musste seine 28-jährige Begleiterin mit ansehen, wie ihr Freund getötet wurde. Danach verließ der Mörder den Tatort.

Bislang sind aus der Bevölkerung mehr als 600 Hinweise zur Tat eingegangen, von mehr als 3200 Männern wurden Speichelproben genommen. Es gibt eine - allerdings sehr vage - Beschreibung des Täters, und die Ermittler haben Blutspuren entdeckt, die der Mann am Tatort zurückgelassen hat. Doch all das ist nicht sehr viel, um den Mörder aufzuspüren.

Hohe Aufklärungsrate

Eigentlich ist die Aufklärungsrate der Polizei bei Morddelikten extrem hoch. In Deutschland wurden zum Beispiel im vergangenen Jahr von insgesamt 630 Morden 96 Prozent aufgeklärt. Schon seit 2000 ist die Rate etwa gleichbleibend hoch.

In Bayern wurden im vergangenen Jahr 307 Fälle von Mord und Totschlag sowie den entsprechenden Versuchen gezählt. Hier lag die Aufklärungsquote sogar bei insgesamt 99 Prozent. Und im Zuständigkeitsbereich des Polizeipräsidiums München ist es 2012 zu sechs Morden gekommen, die die Mordkommissionen alle aufklären konnten.

Wieso gestalten sich die Ermittlungen im Falle des Isar-Mordes so schwierig?

Mord unter Verwandten und Bekannten

Das liegt vor allem daran, dass der Mörder nicht aus dem Umfeld des Opfers stammt. Das ist selten: Dem Bundeskriminalamt ('BKA) zufolge gab es zum Beispiel 2012 nur für 21 Prozent der Fälle von Mord und Totschlag keine Vorbeziehung oder die Verhältnisse zum Täter blieben unklar.

Bei fast 70 Prozent dagegen waren es Beziehungspartner, Verwandte oder nähere Bekannte, die als mutmaßliche Täter ermittelt wurden. Dazu kamen flüchtige Bekannte in 7,6 Prozent der Fälle.

Noch höher ist die Wahrscheinlichkeit, den Täter im Umfeld zu finden, wenn das Opfer weiblich ist. So hat das BKA für die Polizeiliche Kriminalstatistik 2011 die Beziehungen zwischen Opfern und Tätern nach Geschlechtern aufgeschlüsselt. Dabei zeigte sich, dass bei weiblichen Opfern die mutmaßlichen Täter in fast 86 Prozent der Fälle Partner, Verwandte, Freunde oder wenigstens flüchtige Bekannte waren. Männliche Opfer wurden immerhin in zwei Drittel der Fälle von Verwandten oder Bekannten getötet. (Die Polizeistatistiken beziehen sich immer auf ermittelte Verdächtige, nicht auf verurteilte Täter.)

Mordkommissionen können also in den meisten Fällen davon ausgehen, einen Täter in einem sehr eingeschränkten Kreis von Verdächtigen aufzuspüren.

Im Fall des Mörders von der Isar deutet aber alles darauf hin, dass sich Täter und Opfer zufällig getroffen haben. Deshalb müssen die Polizisten den Schwerpunkt auf andere Methoden legen.

DNA, Fingerabdrücke, Profiling

DNA-Analyse

Um einen Verdächtigen zu identifizieren, haben natürlich DNA-Spuren eine große Bedeutung. Doch im Fall des Isar-Mörders helfen sie - noch - nicht weiter. Das DNA-Profil des Täters, das die Ermittler aus Speichel, Blut oder Körperzellen vom Tatort erstellen konnten, ist in Deutschland in keiner Datei gespeichert. Demnach handelt es sich nicht um einen der Polizei bereits bekannten Straftäter. Der Mann hat auch keine DNA-Spuren an anderen Tatorten in Deutschland hinterlassen. Zurzeit wird noch geprüft, ob sein genetischer Fingerabdruck in den Datenbanken eines der zwölf europäischen Länder vorliegt, die den "Prümer Vertrag" unterzeichnet haben.

Bis auf Weiteres ist es auch nicht möglich, einen Kreis von Personen einzugrenzen, die sich einem DNA-Test unterziehen könnten.

DNA-Reihenuntersuchungen können zum Beispiel Sinn machen, wenn die Wahrscheinlichkeit hoch ist, dass ein Verdächtiger aus einer bestimmten Ortschaft stammt. Die Polizei kann in Deutschland allerdings niemanden zur Teilnahme an einem Massengentest zwingen.

DNS Untersuchung in der Rechtsmedizin der Münchner Universität, 2011

Aus Speichel, Blut oder Körperzellen können Rechtsmediziner zum Beispiel an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität Erbgut gewinnen und ein DNA-Profil erstellen

(Foto: Stephan Rumpf)

Erlaubt ist es den Ermittlern, mit Hilfe des Erbguts von einem Tatort das Geschlecht des mutmaßlichen Täters zu bestimmen - das aber kennen sie für den Isar-Mörder ohnehin schon. Die wenigen anderen Informationen, die sich aus DNA-Spuren ableiten lassen - derzeit etwa Augen- und Haarfarbe, Alter sowie bestimmte Krankheiten - dürfen in Deutschland bislang nicht verwendet werden. Das DNA-Profil wird also erst dann eine Rolle spielen, wenn es sich mit dem eines Verdächtigen vergleichen lässt.

Waffen

Wichtig sind natürlich auch Informationen zur Waffe. Da die meisten Morde Beziehungstaten sind, die nicht langfristig geplant wurden, werden sie überwiegend mit Gegenständen verübt, die leicht verfügbar sind. Die häufigste Mordwaffe ist das Küchenmesser. Ansonsten greifen die Täter meist nach Eisenstangen oder Hämmern. Eine Schusswaffe ist dagegen schon etwas Besonderes. Anders als in den USA gibt in Deutschland es relativ wenige Menschen, die über solche Waffen verfügen, was den Kreis der Verdächtigen schon einschränken kann. Und wurde eine Kugel gefunden, ist es häufig möglich, anhand der Spurenmuster auf dem Geschoss die konkrete Waffe zu identifizieren, aus der es abgefeuert wurde.

Da der Isar-Mörder dem Opfer der Polizei zufolge mehrere Stichverletzungen beigebracht hat - darunter einen tödlichen Stich ins Herz -, besteht die Hoffnung, Informationen über die Art der Stichwaffe zu erhalten. Größe und Form von Stichwunden sowie Stichkanäle und die Form von Schnittwunden können hier helfen. Handelte es sich um ein ein- oder zweischneidiges, um ein kurzes oder ein langes Messer oder vielleicht auch nur um einen Schraubenzieher? Dass sich der Täter selbst verletzt hat, spricht eher für ein Messer. Bislang hat die Polizei offiziell zwar noch keine Auskunft erteilt. Medienberichten, die von einem Messer sprechen, hat sie aber auch nicht widersprochen.

Fingerabdrücke

Ähnlich wie mit dem DNA-Profil ist es mit Finger- und Handflächenabdrücken. Es gibt beim BKA eine riesige Datenbank (Afis) mit 2,8 Millionen Fingerabdruckblättern und fast zwei Millionen Handflächenabdrücken von Straftätern. Wenn jemand jedoch dort zuvor noch nicht erfasst wurde, hilft die Datenbank nicht weiter. Erst wenn die Polizei einen Verdächtigen hat, kann sie mit Hilfe der einzigartigen Hautmuster auf den Fingerkuppen feststellen, ob er oder sie am Tatort war. Darüber hinaus lassen sich die Abdrücke nutzen, um festzustellen, was der Täter alles angefasst hat. Das kann Aufschluss darüber geben, was er am Tatort neben dem eigentlichen Verbrechen noch getan hat.

Ansonsten bleibt den Ermittlern derzeit kaum etwas übrig, als

  • die leider sehr vage Beschreibung des Täters zu veröffentlichen, die von der Freundin des Opfers stammt: etwa 30 Jahre alt, etwa 175 Zentimeter groß, dunkle oder blonde Haare; dunkel gekleidet, oberschenkellange Jacke, dunkle Umhängetasche.
  • nach weiteren Augenzeugen zu suchen, denen um die Zeit des Mordes herum in der Gegend der Tat irgendetwas Ungewöhnliches oder ein sich ungewöhnlich verhaltender Mann aufgefallen ist - vielleicht auch schon Tage vor dem Mord. Schließlich ist es äußerst ungewöhnlich, dass jemand scheinbar ohne Vorwarnung fremde Menschen anspuckt,
  • darauf hinzuweisen, dass sich der Täter bei dem Verbrechen offenbar selbst verletzt hat, da Blut am Tatort gefunden wurde, das nicht vom Opfer stammt. Deshalb bittet die Polizei um Hinweise auf Personen, "die seit dem 29.05.2013 Verletzungen, insbesondere Stich- oder Schnittverletzungen, aufweisen, diese aber nicht plausibel erklären können".
  • und anhand des Verhaltens des Täters ein Profil zu erstellen.

Leidet der Täter unter Realitätsverlust?

Profiling/Fallanalyse

Dafür sind in Bayern die Experten des Kommissariats 16, Operative Fallanalyse (OFA) im Polizeipräsidium München zuständig. Ihre Arbeit besteht zum Beispiel darin, aus dem Verhalten des Täters etwas über seinen Hintergrund zu erfahren - wobei vieles davon sich auf Vermutungen beschränkt. Manchmal können diese "Profiler" auf statistische Daten zurückgreifen, aus denen hervorgeht, dass bestimmte Verbrechen mit einer gewissen Häufigkeit eher von Tätern mit einem bestimmten Hintergrund verübt werden.

Im aktuellen Münchner Fall sind zwei Dinge besonders auffällig: Der Täter spuckte vor dem Mord einer ihm unbekannten Frau ins Gesicht, die auf dem Fahrrad vorbeifuhr. Dann stach er mehrfach auf ihren Freund ein.

Um sich die Arbeit der OFA-Fachleute vorzustellen, könnte man - rein hypothetisch - von diesen Ausgangspunkten starten: Jemanden anzuspucken ist in der Regel ein aggressiver Ausdruck von Verachtung. Doch wem galt sie in diesem Fall? Frauen im Allgemeinen? Radlern überhaupt oder in diesem Augenblick jedem beliebigen Menschen, dem der Täter begegnete? War er aus bestimmten Gründen wütend oder ist sein Verhältnis zu anderen Menschen - womöglich speziell zu Frauen - nachhaltig gestört?

Und warum reagierte der Täter mit tödlicher Gewalt, als er zur Rede gestellt wurde? Fühlte er sich in diesem Augenblick selbst bedroht? Vor allem aber: Warum führte er überhaupt eine Stichwaffe bei sich? Um jemanden zu töten? Er stach allerdings erst zu, als sein späteres Opfer ihn konfrontierte. Die Stichwaffe könnte deshalb auch ein möglicher Hinweis darauf sein, dass der Mörder selbst glaubt, sich gegen extreme Gefahren aus der Umwelt wappnen zu müssen. Wer aus einem realen Grund unter einer solchen Angst leidet (etwa bei Personen mit kriminellem Hintergrund), spuckt allerdings wohl kaum einfach so fremde Menschen an.

Spräche etwas für diese hypothetischen Annahmen, könnte man weiter spekulieren, dass der Täter unter Realitätsverlust leidet. In seiner Welt sieht er einen Anlass, Zorn und Verachtung gegen willkürliche Opfer zu richten und auf relativ harmlose Bedrohungen extrem zu reagieren. Ein solcher Realitätsverlust könnte mit einer psychischen Störung oder Drogenmissbrauch zusammenhängen. Er müsste nicht so gravierend oder permanent sein, dass der Betroffene im Alltag auf der Straße sofort auffällt. Der Verlust müsste aber so stark sein, dass er sich in bestimmten Situationen eben doch ungewöhnlich verhält. Deshalb bittet die Polizei auch um Hinweise auf irgendwelche besonderen Vorfälle in der Umgebung des Verbrechens - wobei Fälle, in denen ein Fremder Streit angefangen oder Fahrradfahrer oder Passanten angegriffen hat, natürlich besonders aussagekräftig wären. Auch ohne psychologisches Profil.

Tatsächlich hat die Münchner Polizei allerdings gezielt eine Reihe von Personen überprüft, die aufgrund einer geistigen Störung oder Erkrankung auffällig geworden sind.

Sonderfall Serienmord

Eine weitere Art von Verbrechen, die aus den hier beschriebenen Ursachen schwierig aufzuklären ist, ist der Serienmord. Unabhängig davon, aus welchen Motiven die Täter morden und welche Opfer bevorzugt werden, stammt der Mörder meist nicht aus dem Umfeld der Ermordeten. Serienmörder ergreifen in der Regel vielmehr Gelegenheiten, die ihnen günstig erscheinen, um ihre Verbrechen zu begehen. Die Getöteten gehören zwar häufig bestimmten Gruppen an - oft sind es zum Beispiel Prostituierte oder Kinder. Das einzelne Opfer wird jedoch nicht als individuelle Person gezielt ausgewählt.

(Der Text ist eine aktualisierte Fassung eines Artikels, der am 13.06.2013 online gegangen ist.)

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