Umwelt in China:Fast alles wieder verloren

In China dachten viele, ein Sieg im Klassenkampf plus Wachstum löse alle Sorgen. Umweltprobleme konnte sich keiner vorstellen. Eine Außenansicht aus Pekings Umweltbehörde.

Pan Yue

Seit einem Jahrzehnt fragt sich die Welt, wann Chinas Führer die gravierende Umweltkrise bemerken werden, die auf ihr Land zukommt.

Dieses Jahr haben wir eine Antwort: In einem neuen Fünfjahresplan wird dem Umweltschutz Priorität eingeräumt. Es folgte ein Sturm grüner Propaganda, und jetzt spricht die Regierung davon, die Entwicklung anhand eines "grünen Bruttoinlandsprodukts" zu messen. Doch wird all dieses Gerede zu wirklichem Fortschritt führen?

Obwohl die Zentralregierung einige der Umweltschäden eingesteht, die durch das rapide Wirtschaftswachstum verursacht wurden, ist ihre Darstellung unvollständig.

Die Staatliche Umweltschutzbehörde hat angegeben, dass es allein 84·Milliarden Dollar kosten würde, die im Jahr 2004 verursachte Umweltverschmutzung zu bereinigen - was drei Prozent des BIPs dieses Jahres entspricht.

Doch realistischere Schätzungen beziffern die Umweltschäden auf acht bis 13 Prozent des jährlichen BIP-Wachstums. Mit anderen Worten: China hat fast alles, was es seit den späten siebziger Jahren gewonnen hat, durch Umweltverschmutzung wieder verloren.

So komplex die Ursachen auch sein mögen - letztlich können Chinas Umweltprobleme auf unser Verständnis des Marxismus zurückgeführt werden. In unserer jüngeren Geschichte sahen wir im Marxismus meistens nur eine Philosophie des Klassenkampfs.

Wir glaubten, dass wirtschaftliche Entwicklung alle Probleme lösen würde. Diese Fehldeutung von Marx verwandelte sich in der Reformperiode in eine ungehemmte Jagd nach materiellen Vorteilen. Die traditionelle chinesische Kultur, mit ihrer Betonung der Harmonie zwischen Mensch und Natur, wurde verworfen.

Wirtschaft von Umweltverschmutzern dominiert

Das Ergebnis ist, dass Chinas Wirtschaft von rohstoffhungrigen Umweltverschmutzern dominiert wird, von Kohle- und Erzminen, Textil- und Papierfabriken, petrochemischen Fabriken und Baustoffproduzenten.

Unsere Städte explodieren, saugen die Wasser-Ressourcen auf und schaffen entsetzliche Verkehrsstaus. Jeder dritte Chinese trinkt Wasser, das nicht dem Mindeststandard entspricht, jeder dritte Städter atmet stark verunreinigte Luft. Durchschnittlich jeden zweiten Tag erleidet China einen großen Gewässerunfall.

Obwohl China das Kyoto-Protokoll sowie 50 weitere internationale Umweltabkommen unterzeichnet hat, tun wir wenig, um sie umzusetzen. Obwohl der neue Fünfjahresplan schöne Ziele nennt, ist es vielen Provinzen nicht einmal gelungen, die wichtigsten Umweltschutzziele des vergangenen Fünfjahresplans zu erreichen.

Es stimmt zwar, dass China in den vergangenen drei Jahrzehnten ungefähr die wirtschaftlichen Fortschritte erzielt hat, für die es in westlichen Ländern 100 Jahre brauchte. Doch hat China in 30 Jahren auch Umweltschäden erlitten, die für ein Jahrhundert gereicht hätten.

Anders als die westlichen Länder können wir es uns nicht leisten, zu warten, bis unser jährliches BIP 10.000 Dollar pro Kopf erreicht, bevor wir unsere Umweltprobleme angehen. Unsere Experten sagen voraus, dass die Umweltkrise bereits ein kritisches Stadium erreicht haben wird, wenn Chinas jährliches BIP gerade mal 3000 Dollar pro Kopf beträgt.

Verschlimmert wird die Lage dadurch, dass es uns nicht gelungen ist, die besseren Aspekte der modernen Zivilisation aufzunehmen, während wir die edleren Elemente unserer traditionellen Kultur abgelegt haben.

Das Konzept eines "Gesellschaftsvertrags" - mit Rechten und Pflichten - ist weitgehend unbekannt. Infolgedessen werden Umweltschutzprojekte bei der Berechnung von Produktionskosten häufig nicht berücksichtigt. Kaum jemand macht sich die Mühe, die Umweltkosten für die Armen und Schwachen des Landes zu berücksichtigen - oder deren Rechte.

Es ist unbedingt erforderlich, dass Umweltfaktoren in Chinas makroökonomischer Planung eine reale Rolle spielen. Dazu muss bei der Planung großer Industrieprojekte und energiehungriger Unternehmen eine rationalere Strategie entworfen werden.

China braucht eine neue Energiestrategie

Wir brauchen genaue Studien, die feststellen, wie viel Energie, Land, Mineralien und biologische Ressourcen zur Verfügung stehen, bevor Projekte begonnen werden. Die Flächennutzungsplanung muss überholt werden, wobei Industriemonopole zerschlagen und Entwicklungsziele nach Bevölkerung, Ressourcen und der Kapazität, Umweltverschmutzung zu absorbieren, festgelegt werden müssen.

Schließlich braucht China eine neue Energiestrategie. Die Industrienationen haben Atom-, Sonnen-, Wind- und Biogasenergie sowie andere erneuerbare Energien entwickelt und hervorragend eingesetzt.

Chinas technologische Kapazitäten in diesem Bereich bleiben sogar hinter jenen anderer Schwellenländer wie Indien und Pakistan zurück, und Chinas Abhängigkeit von Kohle stellt eine der größten Bedrohungen für das globale Klima dar.

Derzeit gibt es einfach keine Alternative. Doch langfristig ist saubere Energie die einzige Möglichkeit, Wachstum zu erreichen, ohne irreparable Umweltschäden zu verursachen.

Die Regierung kann diese Probleme nicht allein lösen. Für die chinesische Bevölkerung steht am meisten auf dem Spiel, deshalb muss sie zur treibenden Kraft werden. Lokale Gemeinschaften, Nichtregierungs-Organisationen und Unternehmen müssen alle ihren Teil dazu beisteuern.

Sie können sich nicht einfach aufs Kontrollieren und auf Beschwerden an die Behörden beschränken. Sie müssen andere Wege einschlagen, um Aufmerksamkeit zu bekommen: Öffentliche Anhörungen, Klagen, mehr Medienberichte und so weiter.

Doch letztlich liegt die Macht bei der Regierung. Chinas Führer müssen konkrete Schritte einleiten und die reine Rhetorik hinter sich lassen. Sie müssen Umweltbeamten echte Befugnisse einräumen, um bestehende Gesetze durchzusetzen und Schlupflöcher zu schließen.

Dies kann nur geschehen, indem Gesetze eingeführt werden, die diejenigen belohnen, die die Umwelt schützen, während Umweltverschmutzer zahlen müssen.

China befindet sich gefährlich nah an einer Krise. Die gewaltigen Umweltschulden des Landes müssen auf die eine oder andere Art bezahlt werden. China muss mit dem Abzahlen seiner Schulden beginnen, solange sie noch überschaubar sind, anstatt sie sich weiter anhäufen zu lassen - bis sie am Ende zu einer Bedrohung werden, die uns alle in den Ruin treiben könnten.

©Project Syndicate, Übersetzung: Anke Püttmann.

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