Übertriebene Angst vor Allergien:Lass es dir schmecken, Baby!

Aus Angst vor Allergien verweigern viele Eltern ihren Kindern Fisch, Eier, Nüsse oder Weizen. Doch die Sorge ist übertrieben und die Diät kann nach hinten losgehen.

Christina Berndt

Vor Kurzem ist Martha ein Jahr alt geworden.

Babynahrung,

Ist eine strenge Diät in den ersten Lebensjahren der richtige Weg?

(Foto: Foto: dpa)

Da ist sie mit fünf Freunden durch die Wohnung gekrabbelt, alle haben wild gespielt, und zur Feier des Tages gab es einen Obstsalat. Besonders bunt war der allerdings nicht, denn alles, was Allergien auslösen könnte, haben die Eltern vorher aussortiert: Erdbeeren, Mandarinen, Kiwis oder etwa Pistazien gab es keine. Auch sonst lebt Martha in kulinarischer Hinsicht recht eingeschränkt.

Ein Frühstücksei hat die Kleine ihr Leben lang noch nicht probieren dürfen, und dass Milch richtig lecker sein kann, wird sie auch erst später erfahren. Bisher hat sie nur Milch aus der Fabrik gekostet - hypoallergene (HA-) Babynahrung, bei der die Eiweißbestandteile der Kuhmilch erhitzt und in kleine Bruchstücke zerlegt wurden.

Für die Sinne hat das einen gewaltigen Nachteil: Die Süße der Kuhmilch bekommt durch diesen Prozess einen bitteren Beigeschmack. Der Grund für Marthas Enthaltsamkeit: Das Kind soll es einmal besser haben. Marthas Vater leidet unter heftigem Heuschnupfen. In jedem Frühling, sobald die Natur zu neuem Leben erwacht, schnieft und trieft er. Wenn andere sich freuen, dass der Winter endlich vorbei ist, beginnt für ihn die schlimmste Jahreszeit.

Volksseuche Allergie

Dieses Leid will er seiner Tochter ersparen. Deshalb darf Martha nur glutenfreie Reiswaffeln und Milcheiweiß aus übel riechendem Pulver zu sich nehmen; deshalb hat sie mit 14 Monaten immer noch keine Ahnung, wie köstlich Fisch sein kann, welches Aroma Nüsse entfalten und welcher süße Zauber einer genüsslich klein gemampften Brezel zu entlocken ist.

Allergien sind eine Volksseuche geworden. 25 Millionen Deutsche leiden heute darunter. Und es werden nicht nur immer mehr, die Allergien scheinen auch immer aggressiver zu werden. Kein Wunder, dass die Neurodermitiker und Heuschnupfler ihre Kinder vor dieser Pein bewahren möchten.

Besondere Vorsicht in der Babyernährung mahnten Ratgeberbroschüren, Kinderärzte und Forscher viele Jahre an. Aber ist eine strenge Diät in den ersten Lebensjahren wirklich der richtige Weg? Lassen sich Allergien durch richtiges Essen überhaupt verhindern?

"Das kann nach hinten losgehen", warnt Mathilde Kersting, Expertin für Säuglingsernährung am Forschungsinstitut für Kinderernährung in Dortmund. Mit dem Essen ist es nämlich offenbar wie mit dem Dreck: Wenn der Körper schon früh möglichst viele Erfahrungen damit sammelt, muss sein Immunsystem später nicht so viele Kriege führen.

Allergien sind ein Irrtum des Immunsystems: Die körpereigenen Abwehrkräfte interpretieren harmlose Substanzen wie Walnüsse oder Sojakeime als gefährliche Krankheitserreger. Also mobilisiert das Immunsystem seine Krieger und kämpft - mit unangenehmen Folgen: Weil die Waffen so scharf sind, kommt es an verschiedenen Kriegsschauplätzen unweigerlich zu Kollateralschäden.

Die Augen tränen, die Nase läuft und auf der Haut und den Schleimhäuten bilden sich Pusteln. Im schlimmsten Fall wird der Kampf so heftig, dass es zum anaphylaktischen Schock kommt - mit Ohnmacht, Herzrasen und Atemnot. Daran kann ein Allergiker sterben.

Lass es dir schmecken, Baby!

Immunzellen verhalten sich ähnlich wie Menschen: Wer schon in jungen Jahren weit gereist ist und die Welt kennt, ist meist toleranter gegenüber Fremdem. So sind die Immunzellen von Kindern, die auf dem Bauernhof aufwachsen oder früh in der Kinderkrippe auf allerlei Dreck, Krankheiten und Körpersekrete von anderen Krabblern treffen, sehr entspannt. Solche Kinder leiden nachweislich seltener unter Allergien. Sie kennen das alles ja schon.

Ernährung Baby, Dt. Apothekenverbände

Kinder sollten möglichst vier bis sechs Monate lang voll gestillt werden.

(Foto: Foto: obs/Techniker Krankenkasse)

Vier bis sechs Monate lang voll stillen

Ähnlich ist es auch mit dem Essen: Wenn der Körper bereits im zarten Alter der Nahrungsvielfalt ausgesetzt ist, muss er sie später nicht bekämpfen.

Wohl deshalb ist Muttermilch bisher als beste Allergieprävention bekannt: "Kinder sollten möglichst vier bis sechs Monate lang voll gestillt werden", empfiehlt Mathilde Kersting. "Stillen schützt nicht hundertprozentig vor Allergien, Asthma und Neurodermitis - aber recht gut." In die Muttermilch gelangen reichlich Spuren aus dem ungarischen Gulasch genauso wie vom Sushi-Weißfisch oder vom Zitronengras aus dem Thai-Curry.

Obwohl ein Säugling also monatelang vermeintlich jeden Tag die gleiche Nahrung bekommt, ist sein Speiseplan indirekt doch bunt und abwechslungsreich. Sinne und Immunsystem lernen die Nahrung in all ihrer Vielfalt kennen.

Und was, wenn eine Frau nicht stillen kann oder will? Für solche Fälle gibt es Säuglingsnahrung zu kaufen, denn Kuh- oder Ziegenmilch sind in den ersten Lebensmonaten für ein Baby tatsächlich nichts.

"Diese Milch enthält zu viel Eiweiß und zu viel Salz", sagt Berthold Koletzko, Leiter der Abteilung für Stoffwechselstörungen und Ernährung am Haunerschen Kinderspital der Universität München.

Nichtgestillte Kinder sollten also ein halbes Jahr lang ganz normale Säuglingsnahrung bekommen. HA-Nahrung sei "nur etwas für besonders allergiegefährdete Babys", erläutert Koletzko. Als gefährdet gelten Kinder, deren Eltern oder Geschwister bereits unter Allergien leiden.

Für sie ist wichtig, dass das Kuheiweiß in der Nahrung erhitzt und zerkleinert wurde. Denn die entstehenden winzigen Bruchstücke können von den IgE-Antikörpern des Immunsystems, den Vermittlern allergischer Reaktionen, nur noch schwer erkannt werden.

"Spätestens nach einem halben Jahr kann aber Schluss sein mit der HA-Nahrung", betont Mathilde Kersting. Mit sechs Monaten dürfen alle Kinder das Gleiche essen: allergiegefährdete wie Kinder von gesunden Eltern. Dann wird zugefüttert, bis das Stillen beziehungsweise die Säuglingsnahrung wegfällt; die HA-Nahrung, die je nach Hersteller und Hunger des Babys bis zu 100 Euro pro Monat kostet, ist von nun an nicht mehr nötig.

Lass es dir schmecken, Baby!

SZ Wissen

Selbst Kuhmilch gehört nach sechs Monaten auf Babys Speiseplan, allerdings nur einmal am Tag und nicht pur. Und mit einem Jahr dürfen Kinder alles mit den Eltern zusammen essen, wenn auch weniger gesalzen und gewürzt. "Man tut gar nicht gut daran, den Kindern Lebensmittel allzu lang vorzuenthalten", sagt Kersting. "Dann haben sie keine Chance, sich an die Allergene zu gewöhnen."

Zu diesem Schluss kommt auch die Europäische Pädiatrische Ernährungskommission in ihrer jüngsten Stellungnahme. Zwar gebe es Nahrungsmittel wie Nüsse, Eier und Fisch, die besonders leicht Allergien auslösen. "Es gibt aber keinerlei überzeugende Belege dafür, dass ein Verzicht auf diese Nahrungsmittel Allergien verhindern kann." Vielmehr könne die verspätete Einführung mancher Nahrungsmittel das Allergierisiko sogar erhöhen, warnt Koletzko.

Zum Beispiel sollte auch die Einführung von Getreide, das das Klebereiweiß Gluten enthält, nicht zu spät beginnen: "Kinder sollten davon möglichst schon kleine Mengen bekommen, wenn sie noch gestillt werden, um einer Weizenallergie vorzubeugen." Eine Anti-Allergie-Diät kann auch noch andere Folgen haben. Zum einen werden den Kindern besonders gesunde Lebensmittel wie Fisch vorenthalten. "Außerdem ist ein breiter Speiseplan für die Geschmacksprägung des Kindes von großer Bedeutung", sagt Koletzko.

Während deutsche Eltern ihren Babys oft aus Angst vor Allergien tagelang dasselbe füttern, ist in Frankreich Abwechslung angesagt. Koletzko: "Die Eltern wollen selbst ja auch nicht zehn Tage lang dasselbe essen." Montag Brokkoli, Dienstag Karotten, Mittwoch Mais: Wer schon früh so ernährt wird, ist offener für Grünes und wird langfristig mehr Gemüse essen als jemand, der nur Einheitsbrei bekommt. Manche Kinder essen häufig nicht einmal mehr Karotten, sondern Pastinaken. Pastinaken? Bis vor Kurzem kannte kaum jemand mehr die weißlich-gelben Rüben, die mit Petersilie verwandt sind. Mittlerweile werden sie zu Mangelware, denn die Rüben sind als Babynahrung so beliebt, dass Firmen ihren Pastinakenbrei mit Kartoffeln verlängern, um die Nachfrage zu stillen.

Der Run auf die Rüben begann, als ihnen irgendwer plötzlich das Siegel "allergiearm" verlieh. Zugleich gerieten Karotten in den Verdacht, Allergien auszulösen. Dabei wurden Generationen von Babys mit dem orangeroten, aber schmackhaft-süßlichen Brei aufgezogen, ohne dass sie davon Ausschläge irgendwelcher Art bekamen. "Es ist ewig her, dass ich zuletzt ein Kind mit einer Karottenallergie gesehen habe", sagt Berthold Koletzko.

Nüsse frühestens zur Pensionierung

Die Panik der Eltern, die ihre Jüngsten auf Diät setzen, kommt aber nicht von ungefähr. "In der Wissenschaft hat erst jetzt ein Umdenken stattgefunden", sagt die Ernährungsspezialistin Kersting. "Man war einfach übervorsichtig. Alles, was dem Kind fremd war, wurde sicherheitshalber von ihm ferngehalten." Das galt besonders für Kinder von Allergikereltern. So hat das Dortmunder Forschungsinstitut für Kinderernährung bis vor Kurzem noch zwei Broschüren herausgegeben - zum einen "Empfehlungen für die Ernährung von Säuglingen" und zum anderen "Empfehlungen für die Ernährung von allergiegefährdeten Säuglingen".

Heute gibt es nur noch die erste Broschüre, und darin findet sich lediglich ein kleines Kapitel für die Kinder aus belasteten Familien. Auch Berthold Koletzko räumt ein: "Man hat den Leuten richtig Angst gemacht." Nüsse seien zum Beispiel so verteufelt worden, dass der Eindruck entstand, man dürfe sie frühestens nach der Pensionierung essen. "Neulich", erzählt Koletzko, "ist eine Mutter in meiner Sprechstunde in Tränen ausgebrochen, weil ihr Baby bei der Oma Fisch bekommen hat. Die Leute stehen so unter Druck. Das ist vollkommen unnötig."

Weitere spannende Themen aus dem SZ Wissen finden Sie hier. Das neue Heft bekommen Sie jetzt am Kiosk.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: