Tsunami-Gefahr:"Kein Ort am Mittelmeer ist sicher"

Das Mittelmeer braucht ein Tsunami-Warnsystem. Denn verheerende Flutwellen gibt es dort öfter als viele denken. Selbst eine Katastrophe wie 2004 in Südasien ist möglich, warnen Experten.

Axel Bojanowski

Im Morgengrauen des 21. Juli 365 bebte der Meeresboden vor Kreta so stark, dass sämtliche Siedlungen der Mittelmeerinsel verwüstet wurden. Die Küste hob sich dort schlagartig um zehn Meter; Häfen fielen trocken. Das Beben löste Tsunamis aus, die bis ins heutige Kroatien rollten.

Tsunami-Gefahr: Touristen af Mallorca.  Im Mai 2003 hatte ein Seebeben vor Afrika eine meterhohe Welle an die Küste der Insel geschickt.

Touristen af Mallorca. Im Mai 2003 hatte ein Seebeben vor Afrika eine meterhohe Welle an die Küste der Insel geschickt.

(Foto: Foto: dpa)

Die Wogen waren an der Küste Ägyptens noch so mächtig, dass sie Boote Hunderte Meter weit ins Land warfen. Zehntausende Menschen ertranken an den Gestaden des Mittelmeers. Es war der Auftakt zu einem sogenannten Erdbeben-Sturm, einem Dominoeffekt in der Erdkruste: Innerhalb von nur zwölf Jahren verwüsteten mehrere Starkbeben und nachfolgende Flutwellen die Mittelmeerregion.

Eine solche Serie von starken Erdeben könne sich jederzeit wiederholen, warnten Geologen kürzlich im Fachmagazin Nature Geoscience (Bd.1, S.268, 2008).

Dabei bräuchte es gar keine derart heftigen Erschütterungen wie jene des Jahres 365. Auch schwächere Erdstöße am Grund des Mittelmeers könnten Riesenwellen aufwerfen.

Im besonders gefährdeten östlichen Mittelmeer wurden in den vergangenen 510 Jahren 160 Tsunamis registriert. Doch die Anrainer können vor den mörderischen Wellen kaum rechzeitig gewarnt werden, klagen Geoforscher.

"Kein Ort am Mittelmeer ist sicher", sagt Stefano Tinti von der Universität Bologna. Ein Konsortium europäischer Geoforschungsinstitute will bis 2011 ein Tsunami-Warnsystem für das Mittelmeer einrichten. Doch der Plan ist ins Stocken geraten.

Fortschritte gebe es nur bei der Erdbebenmessung, berichtet Tinti. Seebeben im Mittelmeer können nun binnen drei Minuten erkannt werden. Ermöglicht wurde das vor allem durch Wissenschaftler um Winfried Hanka vom Geoforschungszentrum Potsdam GFZ, wo die Erdbebendaten für das Tsunami-Warnsystem ausgewertet werden.

Wenig Zeit für Warnungen

Doch selbst starke Seebeben treten zumeist keine Tsunamis los, denn häufig drückt sich der Bruch in der Erdkruste nicht bis zur Oberfläche des Meeresbodens durch. "Wir können uns nicht allein auf Erdbebenmessungen verlassen", sagt Tinti. Um feststellen zu können, ob ein Tsunami droht, müssten jede Menge Bojen mit Wasserstandsmessern zwischen dem Bosporus und der Straße von Gibraltar installiert werden.

Viel Zeit für eine Warnung bliebe auch dann nicht, denn das Mittelmeer ist schmal. Flutwellen müssten binnen weniger Minuten erkannt werden, betont der Geophysiker. Ganz gleich, wo im Mittelmeer ein Tsunami entsteht, nach wenigen Minuten trifft er auf eine Küste. Am 28. Dezember 1908 etwa stieß ein Beben den Meeresgrund in der Straße von Messina nach oben. Bis zu 20 Meter hohe Wellen krachten Minuten später gegen die Küsten Siziliens und Kalabriens. 80.000 Menschen starben.

Nur durch Zufall entgingen Mallorca und Ostspanien am 21. Mai 2003 einer Katastrophe. Ein Erdbeben vor der Küste Nordafrikas hatte die Wellen ausgelöst. Sie rasten mit etwa 300 Kilometer pro Stunde nach Norden. Um kurz vor neun Uhr abends klatschten einen Meter hohe Brecher auf Hafenanlagen und Boote in Mallorcas Hauptstadt Palma.

"Ein wenig stärkeres Beben hätte weitaus höhere Wellen erzeugt", sagt Tinti. Weil die Wellen mehrere hundert Kilometer lang sein können, spülen selbst zwei Meter hohe Tsunamis große Wassermengen mit starker Strömung an die Küste. Aus solchen Fluten gibt es meist kein Entkommen.

Sieben europäische Forschungszentren beteiligen sich seit 2005 am Aufbau des mediterranen Alarmsystems. Prompt wird auch um das Prestige gerungen: Noch konnten sie sich nicht darauf einigen, wo das europäische Warnzentrum eingerichtet werden soll.

Ein Seebeben könnte ganz Cadiz vernichten

Immerhin gelang es den Forschern, mögliche Tsunami-Beben im Mittelmeer am Computer zu simulieren. Die Animationen zeigen beispielsweise, dass ein schweres Seebeben vor Südspanien dramatische Folgen für die Stadt Cadiz hätte - sie würde nahezu komplett überschwemmt.

Anlass für den Aufbau des Alarmsystems war die Tsunami-Katastrophe im Dezember 2004 in Südasien, bei der mehr als 200.000 Menschen starben. Eine Katastrophe ähnlichen Ausmaßes sei auch am Mittelmeer möglich, sagt Gerassimos Papadopoulos vom Nationalen Forschungszentrum in Athen.

An der Erdplattengrenze vor der Küste Griechenlands baut sich eine vergleichbar starke Spannung auf wie vor Indonesien. Ein Starkbeben an dieser Bruchzone könnte fünf Meter hohe Brecher an die Küsten schicken, schreiben Experten um Stefano Lorito vom Nationalen Zentrum für Geophysik und Vulkanologie INGV in Rom im Journal of Geophyical Research (Bd.113, S.B01301, 2008).

Doch Tsunamis können auch ohne Erdbeben entstehen. Große Gesteins- und Lavalawinen an Vulkanen können Riesenwellen auftürmen. Das erschwert die Früherkennung, denn Erdbeben-Sensoren scheiden als Detektoren aus. Bei der Explosion des Vulkans auf Santorini 1628 vor Christus stürzten Teile des Berges ins Meer und trieben bis zu 50 Meter hohe Wellen gegen die Küsten Griechenlands. Auch Kreta wurde getroffen; dabei ist womöglich die minoische Kultur im wörtlichen Sinne untergegangen.

Solche Katastrophen sind selten, aber jederzeit möglich. Vor rund 8000 Jahren löste eine Lawine am Ätna auf Sizilien eine Katastrophe im östlichen Mittelmeer aus. Eine Flanke des Vulkans stürzte ins Meer. Erst jüngst entdeckten Forscher am Meeresgrund die gewaltige Schuttlawine. Eine hufeisenförmige Narbe an der Ostseite des Vulkans zeugt noch heute von dem Kollaps.

Vor zwei Jahren rutschte auf Stromboli ebenfalls eine Flanke der vulkanischen Insel ins Meer. Behörden und Anwohner wurden überrascht. Wären die Wellen höher gewesen, hätte es wohl eine Katastrophe gegeben.

"Kein Ort am Mittelmeer ist sicher"

Besonders schwer zu überwachen sind Unterwasser-Vulkane. Die Tsunami-Katastrophe auf Sizilien im Jahre 1693, bei der Tausende starben, sei von einer Unterwasser-Rutschung ausgelöst worden, berichten Geoforscher um Andrea Billi von der Universität Rom im Fachblatt Geophysical Research Letters (Bd.35, S.L06301, 2008). Architektur-Experten erkennen auf Sizilien noch heute die Spuren der damaligen Welle. Im Süden der Insel sind alle Kirchen im "sizilianischen Barock" gebaut - der Baustil wurde beim Wiederaufbau entwickelt.

Vor der Küste Griechenlands und Italiens brodeln Hunderte Unterwasser-Vulkane. Viele dürften noch unentdeckt sein. Zuweilen blubbern Gasblasen im Meer und Bimssteine treiben an die Strände, ohne dass ein Ausbruch registriert worden ist.

Bei der Suche nach historischen Tsunamis wurden Meeresforscher in den vergangenen zehn Jahren zweimal fündig. Vor Sizilien entdeckten sie gewaltige Unterwasservulkane. Sie waren aufgrund ihrer immensen Ausdehnung übersehen worden. Was als Spalten und Erhebungen am Meeresboden gedeutet wurde, gehörte zu Vulkanen.

Bis 2011 sollen die Wellen rechtzeitig erkannt werden, das Tsunami-Warnsystem fertig sein. Um den Verlauf der gefährlichen Wellen vorherzusagen, benötigen die Forscher jedoch komplizierte Computerberechnungen. Die Struktur des Meeresbodens steuert Tsunamis und kann Wellen verstärken oder schwächen.

Noch würde eine Warnung viele Küstenbewohner aber gar nicht erreichen, es fehlen Ansprechpartner, etwa beim Küstenschutz. "Wir brauchen Katastrophenpläne", sagt Massimo Cocco, Tsunami-Experte vom INGV in Rom. Die Bevölkerung müsse das Risiko kennen und wissen, was zu tun sei. "Evakuierungen müssen ständig geübt werden", fordert Cocco, "jede Sekunde zählt".

(SZ vom 28.05.2008/mcs)

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