Trau schau wem:"Lügen sind für das soziale Zusammenleben sehr wichtig"

Lügen ist eine Sünde. Trotzdem tut es jeder - jeden Tag. Warum wir lügen und Lügen anderer häufig auch akzeptieren. Ein Interview mit dem Sozialpsychologen Marc-André Reinhard.

Christopher Stolzenberg

Marc-André Reinhard ist Sozialpsychologe an der Universität Mannheim. Er hat seine Promotionsarbeit dem Thema Lügen gewidmet.

Marc-André Reinhard

Der Sozialpsychologen Marc-André Reinhard.

(Foto: privat)

sueddeutsche.de: Eine Studie des Allensbach-Insituts hat jüngst festgestellt, dass jüngere Menschen es heute eher akzeptieren, angelogen zu werden als ältere. Haben Sie dafür eine Erklärung?

Marc-André Reinhard: Ich könnte mir vorstellen, dass es mit dem Wertewandel zusammenhängt.

In der Religion zum Beispiel spielt das Lügen als Sünde eine wichtige Rolle. Weil es heute schwächere religiöse Bindungen in der Gesellschaft gibt, ist vielleicht auch das Lügen stärker akzeptiert.

Ich vermute, dass wir uns von den klassischen Normen Nicht-Stehlen, Nicht-Betrügen, Pünktlich-Sein, usw. wegbewegen. Auch vom Nicht-Lügen.

sueddeutsche.de: "Du sollst nicht lügen" ist uns als biblisches Gebot eingepaukt worden. Trotzdem tun wir es alle mehrere Male pro Tag. Wie kommt es zu diesem Widerspruch?

Reinhard: Der US-Psychologe Charles Bond von der Texas Christian University hat eine Theorie entwickelt, die von einem doppelten Standard ausgeht: Aus der Sicht des Belogenen gilt ganz klar das biblische Gebot. Angelogen zu werden ist sehr problematisch, weil dadurch Schaden entsteht. Weil dies ein klarer Vertrauensbruch ist.

Anders ist das aus der Sicht des Lügners. Jeder von uns hat im Alltag gute Gründe zu lügen. Es handelt sich dabei oft um Rationalisierungen im Nachhinein, etwa 'Ich habe den anderen belogen, um ihn zu schützen' oder 'Es war gar keine Lüge, sondern nur eine Notlüge'.

sueddeutsche.de: Der Begriff Notlüge ist doch aber sehr diffus.

Reinhard: Er dient möglicherweise dazu, das Gewicht der Lüge etwas abzufedern. Um sagen zu können: 'So schlimm war es doch gar nicht'.

In Studien von Bella DePaulo von der University of California und anderen zum Beispiel sollten die Teilnehmer Tagebuch über ihre Gespräche und ihre Lügen - und die Art der jeweiligen Lügen - führen. Es stellte sich heraus, dass die Leute häufig sagten: Das war eine Lüge, um den anderen zu schützen oder nicht zu verletzen.

sueddeutsche.de: Lügen erfüllt also eine soziale Funktion?

Reinhard: Auch. Einerseits will ein Lügner häufig einen Vorteil für sich erlangen. So lügt zum Beispiel jemand seinen Partner an, um die eigene Beziehung nicht zu gefährden. Oder er will ein bestimmtes Produkt verkaufen. Also stellt er es im besten Licht dar.

Zum anderen ist das Lügen aber für das soziale Zusammenleben sehr wichtig, weil wir den Selbstwert des anderen nicht schädigen wollen. Wenn alle immer nur die Wahrheit sagen würden, dann wäre unsere Welt sehr brutal.

sueddeutsche.de: Aber wir fordern doch von allen, das sie die Wahrheit sagen.

Reinhard: Ja. Aber wir wollen uns selber als eine positive Person sehen, die auch von anderen als positiv geschätzt wird. Dass andere uns möglicherweise nicht so sehen, möchten wir nicht zu jedem Zeitpunkt hören.

Stellen Sie sich eine Partnerschaft vor, in der Sie in jedem Moment ehrlich Ihre Gefühle äußern. Es kann ja mal vorkommen, dass Sie denken: "Heute finde ich meine Freundin nicht so hübsch". Aber das können Sie nicht sagen, ohne die Beziehung zu belasten. Insofern kann es wichtig sein, bestimmte Details wegzulassen oder zu verfälschen.

sueddeutsche.de: Es gibt demnach "gute" Lügen. Welche Lügen kann als eindeutig falsch definieren?

Reinhard: Man muss das genau unterscheiden. Eine "schlechte Lüge" ist die bewusste falsche Weitergabe von Informationen. Aussagen, von denen man eindeutig weiß, dass sie nicht wahrhaftig sind, und die dazu dienen, einen eigenen Vorteil zu erlangen.

Lügen, die weniger problematisch sind, dienen beispielsweise dem Schutz des Selbstvertrauens einer nahe stehenden Person.

sueddeutsche.de: Nehmen wir einmal eine weitere Umfrage zum Berufsprestige. Demnach genießen Ärzte ein hohes Ansehen, Journalisten und Politiker rangieren dagegen im unteren Bereich. Hat deren geringes Prestige etwas mit dem Ruf zu tun, gerne die Wahrheit zu beugen?

Reinhard: Ich glaube nicht, dass Prestige und Lügen unbedingt zusammenhängen. Man kann sich gut vorstellen, dass auch Ärzte lügen. Nämlich dann, wenn es dem Wohl des Patienten dient. Etwa wenn man ihm verschweigt, wie schlimm es um ihn steht, um ihm nicht den Lebensmut zu nehmen. Da ist es vielleicht sogar moralisch geboten zu lügen.

Jemand, der sich um die Gesundheit und das Leben anderer Menschen bemüht, hat aber grundsätzlich ein höheres Prestige als etwa jemand, der in der Sozialpsychologie forscht.

"Lügen sind für das soziale Zusammenleben sehr wichtig"

sueddeutsche.de: Wie ist das bei Politikern? Ihr Prestige ist nicht gut und sie lügen angeblich häufig. Aber sie entscheiden auch über die Existenz vieler Menschen.

Reinhard: Bei einem Arzt erwartet man, dass er etwas verschreibt, das Heilung verspricht. Von Politikern hat die Öffentlichkeit dagegen den Eindruck, dass das Versprochene sehr oft nichts mit der Wirklichkeit zu tun hat. Sie werden eher als machtlos angesehen.

sueddeutsche.de: Und deshalb akzeptieren die Bürger, dass Politiker lügen?

Reinhard: Ich glaube, dass viele von uns schon selbst die Erfahrung gemacht haben, dass es in bestimmten Situationen nicht um die Wahrheit geht. Wir wissen, dass Wahlkampf und Werbung nicht dazu dienen, Wahrheit zu vermitteln. Ihr Ziel ist es, ein Produkt im positiven Licht erstrahlen zu lassen.

Aber auch Situationen wie ein Bewerbungsgespräch werden von vielen Menschen wie eine Art Spiel verstanden, bei dem es nicht verwerflich ist, nicht die Wahrheit zu sagen. Es ist vielmehr ein Teil des Spiels. Man muss aber diesen Bereich ganz klar von dem intimen Bereich unterscheiden, wo sie ja die Wahrheit erfahren wollen.

Es gibt Forscher, die betrachten soziale Interaktion überhaupt als eine Art Spiel.

sueddeutsche.de: Muss man intelligent sein, um erfolgreich zu lügen?

Reinhard: Dem aktuellen Forschungsstand zufolge nicht. Aber dazu gibt es noch nicht viele Daten. Außerdem müsste man zunächst Intelligenz definieren. Sie erwarten vermutlich, dass sozial intelligente Personen geschickter lügen als etwa mathematisch intelligente Menschen.

Bei einer Studie, die zeigen sollte, wer gut lügt und Lügen identifiziert, hat sich aber herausgestellt, dass Strafgefangene darin überdurchschnittlich gut sind. Und wir können kaum davon ausgehen, das die eine besondere Bildung oder einen besonderen Status haben.

sueddeutsche.de: "Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht ..." - kann man durch Lügen angerichteten Schaden wieder gut machen?

Reinhard: In der Sozialpsychologie gibt es die Idee, dass "Ehrlichkeit" nur dem zugeschrieben wird, der grundsätzlich ehrlich ist. Wer diesen Bonus aber verspielt, hat erst einmal ein Problem.

Ein Beispiel: Den stärksten "Wahrheits-Vorsatz" finden wir in Partnerschaften. Man nimmt von seinem Partner an, dass er in wichtigen Dingen immer die Wahrheit sagt. Wenn man jemanden jedoch bei einer Lüge ertappt, dann dreht sich das um.

Das bedeutet, man verliert den "Wahrheits-Vorsatz" und es wird äußerst schwierig, den anderen wieder zu überzeugen.

Je intimer eine Beziehung ist, desto stärker ist die Annahme, dass der andere nicht lügt. Desto schwerer wiegt deshalb auch der Vertrauensbruch durch eine Lüge, und umso schwieriger fällt es, dem Lügner wieder zu vertrauen.

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