Traditionelle Chinesische Medizin:Heilung auf Treu und Glauben

Medizin aus China mit Kräutertees und Akupunkturnadeln boomt im Westen und sucht ihren Platz zwischen Tradition und Wissenschaft.

Christina Berndt

Die Professorin gilt als Koryphäe. Bei Wu Yuning vom Pekinger Krankenhaus für Traditionelle Chinesische Medizin sollen besonders Frauen mit gynäkologischen Problemen gut aufgehoben sein.

Traditionelle Chinesische Medizin: Bei manchen Leiden ist Akupunktur offenbar hilfreich.

Bei manchen Leiden ist Akupunktur offenbar hilfreich.

(Foto: Foto: dpa)

Ihr Ruhm hat sogar den Westen erreicht: Menstruationsstörungen, unerfüllter Kinderwunsch, Schwangerschaftsprobleme - Frau Professor Wu, so heißt es, bekommt all das mit ihren chinesischen Heilkräutern in den Griff.

Jüngst ist sie vor urbayerischer Kulisse aufgetreten. Sie ist zum Kongress über chinesische Medizin an die Evangelische Akademie nach Tutzing gekommen. Im Musiksaal des Schlösschens lauschten Ärzte und Heilpraktiker der melodischen Stimme von Professor Wu.

Mancher Zuhörer aber, der die kühle Schule der westlichen Medizin durchlaufen hat, begann sich zu wundern. Wenn Wu über ihre Erfolge bei der Behandlung von Menstruationsstörungen mit chinesischen Kräutern berichtete, verglich sie die Ergebnisse nicht mit denen von Frauen, die solche Kräuter nicht bekommen haben. Die Kontrollgruppen fehlten - jene unabdingbare Voraussetzung, mit der die Aussagekraft einer Studie zumindest im Westen untermauert werden muss.

Ein Vortrag über Einzelfälle

Wu erzählte von Einzelfällen. Wie sie einer Frau, bei der schon mit 29 Jahren die Wechseljahre begannen, noch zu einem "hübschen Baby" verhalf. Und wie sie das Ungeborene einer anderen Patientin mit Schwangerschaftsgestose rettete. Von insgesamt drei Mädchen berichtete sie, die dank ihrer traditionellen Heilkunst gesund auf die Welt kamen, obwohl die Mütter nicht die besten Voraussetzungen boten.

Doch solche Einzelfälle sind nach westlichen Kriterien bedeutungslos, wenn eine Therapie bewertet werden soll. Darum hat die fernöstliche Heilkunde in den Augen hiesiger Ärzte ein ernstes Problem: Ihre Heilkraft ist kaum belegt. Beweise nach schulmedizinischem Anspruch fehlen für die allermeisten Behandlungen. Und wenn es Studien gibt, dann stammen sie meist aus China - und sind billig gemacht.

"Der allergrößte Teil der Studien aus China erfüllt die westlichen Ansprüche nicht", sagt Klaus Linde vom Zentrum für naturheilkundliche Forschung an der Technischen Universität München. Auch Rainer Nögel, Präsident der Internationalen Gesellschaft für Chinesische Medizin (SMS), die zum Kongress nach Tutzing eingeladen hat, räumt ein: "Die Studien aus China sind keine Klasse-1-Studien."

Den Eindruck verstärkte ein weiterer Experte aus Fernost. Mit anhaltender Begeisterung listete Fang Chunyang eine Reihe von Krankheiten auf, bei denen die alte Heilkunde seiner Heimat durchschlagende Wirkung habe. Der Professor von der Akademie für Traditionelle Chinesische Medizin der Provinz Zhejiang war kaum zu bremsen.

"Meist ist das Problem schon nach ein, zwei Verordnungen gelöst", schwärmte er. Und das, obwohl die auf Plantagen gezüchteten Heilkräuter von heute so viel weniger potent seien als die wild gewachsenen Kräuter früher: "Da nimmt man einfach ein bisschen mehr, als im Rezept steht", sagte Fang.

Auch wenn die Beweislage für die chinesischen Erfolgsmeldungen dünn ist: Kräuter und die Akupunkturnadeln, die seit rund zweitausend Jahren in China zur Behandlung von Krankheiten eingesetzt werden, sind in Deutschland sehr gefragt. Zwei Drittel aller Deutschen möchten sich Umfragen zufolge mit einer Kombination aus westlicher und fernöstlicher Medizin behandeln lassen, wenn sie krank werden.

Selbst Chefärzte an Unikliniken interessieren sich inzwischen für die chinesischen Arzneikräuter, Nadelstiche und Massagetechniken. Mehr als jeder vierte Klinikdirektor gibt neuerdings an, dass er offen dafür sei, Methoden der fernöstlichen Heilkunde in die Schulmedizin zu integrieren.

Begeisterte Patienten

Und die Patienten? Die meisten sind begeistert. Fast 90 Prozent wollen wieder eine chinesische Behandlung, wenn sie einmal Erfahrungen mit den übelriechenden chinesischen Kräutertees und den spitzen Nadeln gemacht haben. Dabei ist es für die Patienten offenbar entweder unerheblich oder sogar besonders attraktiv, dass die Theorie hinter der fernöstlichen Heilkunde für deutsche Ohren überraschend klingt.

Die Kräuter sollen Wind vertreiben, wenn ein Patient zu viel "feuchten Wind" hat, oder kühlen, wenn er unter "trockener Hitze" leidet. Dann muss er alles vermeiden, was "Hitze" verursacht, und damit ist kein Dauerlauf gemeint: In der chinesischen Medizin erzeugen energiegeladene Speisen Hitze - gebratenes Fleisch zum Beispiel, scharfe Gewürze oder Schalentiere.

Auch Süßes und Alkohol sind dann tabu. Kühlende, oft bittere Pflanzen wie das Baikal-Helmkraut unterstützen die Diät; Nadelstiche in die richtigen Akupunkturpunkte sollen die Wirkung noch verstärken. Sie bringen der chinesischen Lehre zufolge die Lebensenergie des Körpers, das Qi, zum Fließen. Dessen Fluss entlang der 14 definierten "Energieleitbahnen" (Meridiane) im Körper ist bei Krankheit gestört.

Heilung auf Treu und Glauben

Angesichts der anhaltenden Patienten-Euphorie mühen sich in Deutschland immer mehr Ärzte, der chinesischen Heilkraft auf den Grund zu gehen. "Die Akupunktur steht inzwischen studienmäßig nicht schlecht da", sagt Klaus Linde.

Dem stimmt auch Benno Brinkhaus zu: "Die Datenlage zur Akupunktur ist ziemlich gut", sagt der Arzt von der Berliner Charité. An dem Klinikum wurde vor etwa einem Jahr eigens eine Forschungsambulanz für Prävention und Integrative Medizin eingerichtet, kurz CHAMP, wo neben chinesischer Medizin auch Naturheilverfahren und Homöopathie erforscht werden.

Wo die Nadel trifft, ist nahezu egal

Brinkhaus verweist auf zwei große deutsche Akupunktur-Studien, die Aufsehen erregt haben: Die Gerac-Studien (für "German Acupuncture Trials") und die Art-Studien (für "Acupuncture Randomized Trials") waren die aufwendigsten und teuersten wissenschaftlichen Untersuchungen, die es weltweit je zur chinesischen Nadelkunde gegeben hat. Monatelang wurden Tausende Probanden dafür gestochen, nicht gestochen oder in die falschen Stellen gestochen.

Dabei zeigte sich, dass die Nadeltherapie gegen Migräne genauso gut hilft wie westliche Schmerztabletten und gegen chronische Knie- oder Rückenschmerzen sogar erheblich besser als die Pillen.

Allerdings gab es einen Schönheitsfehler: Für den Erfolg der Schmerztherapie war es fast egal, ob der Arzt in Akupunkturpunkte nach chinesischer Lehre stach oder einfach irgendwohin.

Dass die Nadeln auch an beliebigen Körperstellen halfen, spreche aber nicht gegen die Akupunktur, betont Brinkhaus. Schließlich würden die Akupunkturpunkte auch ein bisschen stimuliert, wenn eine Nadel nur in ihrer Nähe sitze.

Derzeit versucht das Team von der Charité herauszufinden, ob die chinesischen Nadelstiche auch gegen Heuschnupfen helfen. Gefördert wird die Arbeit von der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Die staatlichen Gelder sind für Studienleiter Stefan Willich "gewissermaßen eine Revolution": "Das ist eine ganz wichtige Etappe auf dem Weg zur Anerkennung", sagt er.

Doch die Verwissenschaftlichung der chinesischen Medizin behagt nicht jedem. Die fernöstliche Heilkunde verarme zusehends, bedauerte Heiner Frühauf von der School of Classical Chinese Medicine in Portland (Oregon) während des Kongresses in Tutzing.

Der Professor ist oft und lange durch Fernost gereist und hat dort fast vergessene Heilmethoden kennengelernt: Wie man Krankheiten an den Fingernägeln erkennt; dass ein Schamane die Krankengeschichte eines Menschen allein anhand des Geburtsdatums voraussagt; und wie Heiler aus Wasser Medizin machen, einfach weil sie wollen, dass es helfen möge.

"Diese Art der Medizin ist für mich fast mehr als die chinesische Medizin, die ich in den Krankenhäusern Chinas erlebt habe", sagt Frühauf, der sich "in einer Höhle eines heiligen Berges" auf seinen Vortrag in Tutzing vorbereitet hat - er wollte sich dort sammeln.

"Leider musste ich während meiner Reisen feststellen, dass die Qualität der chinesischen Medizin in China nachlässt", sagt er. "Auch wenn große Krankenhäuser für die traditionelle chinesische Medizin gebaut werden, ist es drinnen doch oft hohl."

Heilung auf Treu und Glauben

Das hat Frühaufs Ansicht nach vor allem mit Ideologie zu tun: Die traditionelle Heilkunde sei nicht zuletzt von Mao Zedong beschädigt worden. Mitte der 1950er Jahre entdeckte der Gründer der Volksrepublik China die alte Medizin neu, die er kurz zuvor noch als "Quacksalberei" beschimpft hatte.

Er wusste, dass die traditionellen Heiler für die medizinische Versorgung der Bevölkerung unabdingbar waren. Doch sie sollten fortan frei von vormarxistischem Aberglauben handeln.

TCM - ein künstliches Konstrukt

Grundlegende Widersprüche zum westlichen Denken wurden aus der alten Heilkunde getilgt: Niemand sollte mehr lebendes Rattenhirn auf die Einstichstelle schmieren, wenn einmal eine Akupunkturnadel brach. Und auch gebrauchte Galgenstricke durften nicht mehr als Arzneimittel verschrieben werden.

Die "Traditionelle Chinesische Medizin" (TCM) war geboren - trotz des traditionell anmutenden Namens ein künstliches Konstrukt, das der Volksrepublik heute Devisen und auch einiges Prestige einbringt.

Angesichts dessen erscheint noch erstaunlicher, was Patienten und Ärzte immer wieder berichten: Dass die chinesische Medizin vielen Kranken noch helfen kann, wenn westliche Mediziner längst am Ende sind. "Die Erwartungshaltung der Patienten hat darauf gewiss großen Einfluss", sagt Benno Brinkhaus. Doch dass die Kraft der Medizin über einen reinen Placebo-Effekt hinausgehe, hätten die Akupunkturstudien belegt.

Nur: Die Akupunktur ist in der chinesischen Medizin eigentlich nur ein Nebenaspekt. "Bei Schmerzen wird sie oft als Erstbehandlung genutzt", sagt Brinkhaus. "Aber im Allgemeinen ist sie die Begleitung der viel wichtigeren Arzneimitteltherapie."

Deren Erforschung aber gestaltet sich noch erheblich schwieriger als die der Akupunktur: "Man kann in Deutschland quasi keine Kräuterstudie durchführen, weil die Kräutermischungen als Arzneimittel gelten", sagt Klaus Linde. Dadurch würden die Anmeldeverfahren für Studien unendlich kompliziert.

Rainer Nögel stört das nicht. "Für die Integration der chinesischen Medizin in die westliche Welt brauchen wir zwar Studien", sagt der SMS-Präsident. "Aber im Grunde genommen hat nicht die chinesische Medizin ein Studienproblem. Die fehlenden Studien sind das Problem des Westens."

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