"Tödliche Medizin":Vom weltweiten Phänomen zur Nazi-Willkür

Das Hygiene-Museum Dresden zeigt in einer Ausstellung des United States Holocaust Memorial Museum den Weg von der medizinisch motivierten "Selektion" zum rassistisch fundierten Massenmord.

Thomas Thiemeyer

Die Nationalsozialisten pflegten die rhetorische Camouflage. Sie sprachen von "Vergeltungsaktion" und meinten Pogrom, nannten das Töten der Schwächsten "Überleben der Stärksten" und bezeichneten das dreckige Geschäft der Vertreibung und Ermordung als "Rassenhygiene".

Besonders perfide war ihre Verwendung der Begriffe "Eugenik" ("gute Geburt") und "Euthanasie" ("Gnadentod"). Damit bezeichnete das NS-Regime die beiden Enden seiner todbringenden Auslesepraxis: die Geburtenkontrolle durch Sterilisation der Unerwünschten und (zunächst nur) die Ermordung der Behinderten, "Irren" oder Alkoholkranken.

Bereits 1883 hatte der englische Wissenschaftler Francis Galton den Begriff "Eugenik" geprägt, der darauf zielte, günstige Erbanlagen in der menschlichen Population zu sichern. Den Lehren des Sozialdarwinismus verhaftete Mediziner und Genetiker interpretierten die Eugenik alsbald restriktiv.

Sie glaubten die Lösung für soziale Probleme darin zu finden, dass nur die Gesunden und Starken Nachkommen haben sollten. In ihren Augen waren die Ursachen von Kriminalität, Alkoholismus oder Prostitution hauptsächlich im Erbgut zu suchen. Zwangssterilisationen, die erste 1897 in Chicago, waren die Folge.

Spätestens als auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs die vermeintlich Besten eines unnatürlichen Todes starben, wurden die Rufe nach "eugenischen Maßnahmen" besonders in der Weimarer Republik lauter. Die Angst vor einer "degenerierten" Nachkriegsgesellschaft wuchs, deren Kinder von den daheimgebliebenen "Minderwertigen" gezeugt würden.

Der Weg zur Endlösung

War die Eugenik ein weltweites Phänomen, so radikalisierte sich die menschgemachte Auslese unter den Nationalsozialisten in einem einzigartigen Ausmaß, bis diese sich schließlich nicht mehr mit der Geburtenkontrolle begnügten, sondern in unfassbarer Willkür Hunderttausende in den "Gnadentod" schickten.

Was als medizinische Utopie begonnen hatte, schlug hart in der Realität auf: 400.000 Menschen wurden bis 1945 zwangssterilisiert, 200.000 in "Euthanasie-Zentren" ermordet. Hier vergaste das NS-Regime im Namen der Wissenschaft erstmals Menschen, bevor es diese Methode für den Massenmord an den Juden übernahm.

Von dieser schlimmen Zeit zwischen "guter Geburt" und "gutem Tod", zwischen "Eugenik" und "Euthanasie" und von dort geradewegs in die "Endlösung", handelt die Ausstellung "Tödliche Medizin - Rassenwahn im Nationalsozialismus" im Deutschen Hygiene-Museum in Dresden.

Vom United States Holocaust Memorial Museum in Washington konzipiert und uraufgeführt, hat das Hygiene-Museum die Schau mit Blick auf die eigene Rolle im Dritten Reich, als es sich vollständig in den Dienst von Propaganda und Politik stellte, nach Dresden übernommen.

Die von Susan Bachrach kuratierte Präsentation zeigt den Weg von der medizinisch motivierten "Selektion" zum rassistisch fundierten Massenmord und zeichnet sich durch dreierlei aus: Sie hat Mut zur Interpretation, sucht die Zuspitzung und das plakative Bild und setzt den Besucher einem permanenten Wechsel zwischen Distanz und Nähe aus.

Dabei gelingt es ihr, und das ist vielleicht ihre bemerkenswerteste Leistung, nie in Voyeurismus abzugleiten. Selbst das Kabinett, das die medizinischen Experimente des Dr. Mengele behandelt, wahrt die Würde der Opfer.

Weniger treffsicher sind einige gestalterische und dramaturgische Entscheidungen. Die Ausstellungsarchitektur hat keine einheitliche Linie. Materialien, Farben und Bodenbeläge wechseln beinahe so häufig wie die Kabinette und wirken in ihrer Auswahl bisweilen beliebig.

Ganz bewusst angelegt ist hingegen der regelmäßige Wechsel zwischen kühlen und hoch inszenierten Räumen, das Changieren zwischen emotionaler Nähe und distanzierter Betrachtung.

Immer wenn die Ausstellung das medizinisch kontrollierte Töten aus der Nahperspektive präsentiert und das Wirken einzelner Protagonisten in den Blick nimmt, macht sie von ihrem Recht auf Kommentar durch Gestaltung Gebrauch.

Dann bewegt sich der Besucher durch Räume, deren Böden und Wände mit Fliesen ausgekleidet sind, die offensichtlich die Atmosphäre medizinischer Versuchsanstalten einfangen sollen. Der NS-Massenmord erscheint so als keimfreie, saubere Angelegenheit - nichts ist falscher.

Den wirklichen Zuständen näher kommt da die ganz naturalistisch nachgebaute Gaskammer mit ihrem dreckigen Boden und den grauen Wänden, unter deren bröckeliger Putzschicht Backsteine hervorschauen.

Hier will die Kulisse die Geschichte lebendig machen und scheitert. Den Schrecken dieses Ortes kann sie nicht einfangen, weil die offenen Durchgänge ihm jede Bedrohlichkeit nehmen.

Irreführend wird der Hang zur Emotionalisierung, wenn die Kuratoren dem plakativen Bild zuliebe Objekte für Aussagen verwenden, die dem Exponat fremd sind.

In einem der bewegendsten Ausstellungsräume wird diese Gratwanderung zwischen Effekt und Effekthascherei besonders deutlich: In dem dunklen Raum hängen, sehr gekonnt mit Licht in Szene gesetzt, Fotos von Kinder eines Heimes in einer langen Reihe.

Alle Kinder, so erfährt der Betrachter am Ende, fielen der "Euthanasie" zum Opfer. Der Eindruck ist ungeheuer stark.

Umso weniger ist einzusehen, warum in diesem Raum noch ein Kinderbettchen aufgebaut werden musste, das zwar nie in einem Euthanasiezentrum gestanden hat, aber mit seiner fleckigen Matratze die Vorstellung von den schlimmen Zuständen im Heim auf das Schönste illustriert.

Bleibende Eindrücke

Derlei Manipulation ist allerdings selten, und die sehenswerte Schau hat dies auch nicht nötig. Ihre Inszenierungen und ihr Mut zur Verdichtung machen sie zu einem streitbaren, aber wirkungsvollen Unternehmen.

Diese Ausstellung vermittelt ihre Botschaft und hinterlässt bleibende Eindrücke, weil sie die großen Bilder sucht. Ohne Berührungsängste verortet sie ihr Thema mit visueller Suggestionskraft zwischen Wissenschaft und Ideologie, zwischen Propaganda und Realität.

Die falschen Vorstellungen, die Begriffe wie "ethnische Säuberung", "Gnadentod" und "Auslese" bis heute hervorrufen, werden in Dresden eindrucksvoll widerlegt.

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