Tierseuche im Allgäu:Hirsche infizieren Rinder mit Tuberkulose

Allgäuer Braunvieh

Allgäuer Braunvieh. In der Region grassiert die Rindertuberkulose.

(Foto: dpa)

Im Allgäu grassiert die Rindertuberkulose. Jetzt mehren sich Hinweise, dass Hirsche die gefürchtete Tierseuche verbreiten - auch in andere Alpenregionen. Von Lindau bis Berchtesgaden werden nun Rinder getestet und Rotwild vermehrt abgeschossen.

Von Monika Offenberger

Den Allgäuer Bauern stehen schwere Zeiten bevor - im südlichsten Winkel Deutschlands grassiert die Rindertuberkulose. Dabei galt Deutschland seit 1997 als frei von der gefürchteten Tierseuche - bis im Herbst 2011 Fleischbeschauer drei infizierte Rinder entdeckten, die aus dem Oberallgäu stammten.

Seither lässt das zuständige Landratsamt den gesamten Rinderbestand im Landkreis und in der Stadt Kempten - rund 93.000 Stück Vieh - auf Tbc untersuchen. Das aktuelle Zwischenergebnis ist alarmierend: In jedem fünften der bislang kontrollierten Betriebe konnten die Veterinärmediziner bei einem oder mehreren Tiere eine Infektion nachweisen oder diese zumindest nicht ausschließen. Rund 530 Tiere wurden bereits gekeult, ihr Fleisch vernichtet.

Und das ist nur der Anfang. Auch in Baden-Württemberg melden Veterinäre erste Infektionen. Das bayerische Umweltministerium plant Reihenuntersuchungen in allen elf Landkreisen entlang der Alpenkette, von Lindau bis Berchtesgaden. Bestätigen sich die Befürchtungen, könnte das Bayerische Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (LGL) die Untersuchung auf das ganze Land ausdehnen.

Wenn der Hirsch hustet, steckt er alles um sich herum an

Bauern, deren Bestände sich nicht gleich beim ersten Test in vollem Umfang als gesund erweisen, tragen große Belastungen. Sie müssen erkrankte Tiere sofort töten lassen, die Entschädigungen entsprechen meist nicht dem Zuchtwert. Betroffene Betriebe bleiben monatelang gesperrt, bis jedes Tier mit fraglichem Gesundheitsstatus erneut getestet worden ist.

In dieser Zeit dürfen die Bauern auch die gesunden Rinder weder verkaufen noch schlachten. Die Milch darf nicht unbehandelt in Verkehr gebracht oder zu Rohmilchkäse verarbeitet werden. Hinzu kommt der Imageschaden: Wenn beim "Urlaub auf dem Bauernhof" die Milch nicht mehr frisch aus dem Stall auf den Tisch kommen darf, bleiben womöglich die Touristen fern.

Der Alptraum endet auch dann nicht, wenn die Ställe von den Tuberkelbazillen befreit sind. Sobald die Bauern im Frühsommer ihr Vieh auf die rund 600 Oberallgäuer Almen treiben, müssen sie bangen, dass sich ihre gesunden Tiere dort oben erneut infizieren. Denn der Erreger der aktuellen Tbc-Epidemie, Mycobacterium caprae, kann auch Wildtiere befallen.

Tatsächlich grassiert er jetzt auch beim Rotwild, 3000 Hirsche, Hirschkühe und -kälber leben im südlichen Oberallgäu. Molekularbiologische Analysen belegen, dass der Erregertyp bei beiden Tierarten identisch ist.

Wer wen angesteckt hat, lässt sich nicht mehr nachvollziehen. Unbestritten ist, dass Rinder und Hirsche gleichermaßen von M. caprae heimgesucht werden und sich auch künftig gegenseitig infizieren können. Auf vielen Almflächen äsen Wild- und Nutztiere Seite an Seite.

"Die Übertragung erfolgt hauptsächlich über Tröpfcheninfektion. Wenn ein Hirsch Tbc hat, dann hustet der mit 120 Atü und steckt alles um sich herum an", sagt der Innsbrucker Veterinärdirektor Josef Kössler. Der oberste Amtstierarzt des Landes Tirol kennt sich aus. So wurden im Winter 2008/9 dort rund 45.000 Rinder auf Tbc getestet, im Kreis Reutte mussten damals mehr als 100 Kühe getötet werden. "Danach haben wir unsere Tbc-freien Tiere auf die Almen gebracht. Im Herbst waren zwei Bestände wieder infiziert", erinnert sich Kössler.

Streit um die Infektionsquelle

Nach Ansicht des Veterinärs können sich die Rinder nur beim Rotwild angesteckt haben, und nicht, wie Jäger behaupten, an kranken Artgenossen. "Wir können anhand unserer Rinderdatenbank ausschließen, dass wir da oben Vieh aus verdächtigen Beständen hatten. Das war der Grund, warum wir dann mit der Tuberkulose-Bekämpfung beim Rotwild angefangen haben", so Kössler.

Hirsche lassen sich freilich nicht so einfach auf Tbc testen wie Zuchttiere, die an Menschen gewöhnt sind. Deshalb entnehmen die Ärzte nur bei totem Wild Proben. Seit 2009 werden in Österreich, Deutschland, Italien und der Schweiz erlegte Wildtiere sowie Fallwild auf die Erreger untersucht, allein in Tirol wurden bis 2011 knapp 500 Stück Rotwild getestet. Dabei zeigten sich lokal stark schwankende Befallsraten: Ein Hotspot liegt in der Region Steeg in Tirol; dort waren fast 40 Prozent aller über fünf Jahre alten Hirsche infiziert.

Die Tiroler Landesveterinärinspektion erklärte das Gebiet kurzerhand zur Bekämpfungszone und ordnete den Abschuss des gesamten Rotwildbestands an. "Anfangs haben sich die Jäger geweigert", berichtet Josef Kössler. "Doch dann haben wir denen gesagt: Was ihr nicht jagt, das lassen wir eben im Gatter keulen. Da haben sie es dann doch lieber selbst gemacht." So wurden allein im Winter 2010/11 insgesamt 722 Stück Rotwild erlegt. Im folgenden Winter wurde die Bekämpfungszone vergrößert und weitere 1300 Tiere zur Strecke gebracht.

Drastische Maßnahmen, die wirken

Die drastischen Maßnahmen zeigten Wirkung: Schon im ersten Jahr sank die Tbc-Durchseuchungsrate auf 20 Prozent, heute liegt sie unter zehn Prozent. Damit der Befall nicht wieder ansteigt, wollen die Tiroler ihren Wildbestand auch weiterhin niedrig halten. "Das muss jetzt auch auf der deutschen Seite stattfinden", fordert Kössler.

Denn unmittelbar hinter der Landesgrenze, im Rappenalptal nahe Oberstdorf, rotten sich besonders viele Hirsche an zwei großen Wildfütterungen zusammen und wandern frei zwischen Bayern und Tirol hin und her. Dass die Tuberkelbazillen durch diesen Wildwechsel ins Allgäu eingeschleppt werden, vermutete Nikolaus Urban bereits 2009.

Jetzt hat sich die Befürchtung des Revierjagdmeister und Forstwirts bestätigt. Nicht nur deshalb stören ihn die hohen Rotwildzahlen. Das viele Rot-, Reh- und Gamswild frisst die Beeren am Boden und wichtige Teile der Waldverjüngung weg. Es gefährdet so die Lebensräume der Rauhfußhühner und trägt zu einer Vergrasung der Flächen bei. "Eine ordnungsgemäße Land- und Forstwirtschaft ist bei diesen Wildbeständen nicht mehr möglich", warnt Urban.

Auch das Bayerische Landwirtschaftsministerium stuft in einem Forstlichen Gutachten 2012 die Verbissbelastung in den Hegegemeinschaften - den Gemeinschafts-Revieren - des Landkreises Oberallgäu als zu hoch ein und empfiehlt, mehr Wild abzuschießen.

Tatsächlich haben die örtlichen Jäger bislang nicht einmal die amtlichen Abschusspläne erfüllt: Sie brachten in den Jahren 2006 bis 2010 durchschnittlich stets weniger als 90 Prozent der geforderten Stück Rotwild zur Strecke, in den gemeinschaftlich bewirtschafteten Jagdrevieren waren es sogar nur knapp 81 Prozent. Auch in der vergangenen Jagdsaison hatten die Hegegemeinschaften zu wenig Tiere erlegt. Erst auf Druck des Sonthofener Landrats Gebhart Kaiser kamen sie ihren Verpflichtungen nach.

Für die kommende Saison fordert Kaiser um 50 Prozent höhere Abschusszahlen. Wildbiologen der TU München schlagen in einem 2012 vorgestellten Managementplan sogar vor, die Hirsche auch außerhalb der Schonzeit im Wintergatter abzuschießen. Allein in der Hochwildhegegemeinschaft Sonthofen gibt es 19 solcher eingezäunter Flächen, in denen das Rotwild während der kargen Jahreszeit gefüttert wird, bis es im Frühjahr wieder ausreichend Nahrung in freier Wildbahn findet. Sie werden als Ersatz für natürliche Überwinterungsgebiete wie Auen oder schneefreie Südlagen eingerichtet, die es heute kaum noch gibt, und sollen den Verbiss im Wald minimieren.

Ethisch und tierschutzrechtlich bedenklich?

Jäger streiten, ob man Hirsche im Wintergatter schießen darf. Der Bund Bayerischer Berufsjäger hält das für ethisch und tierschutzrechtlich bedenklich. Auch das Jagdgesetz erlaubt einen Abschuss im Gatter nur unter besonderen Umständen. Im Nationalpark Bayerischer Wald praktiziert man diese Form der Wildregulierung hingegen schon seit drei Jahrzehnten. Geschulte Jäger gehen dabei so vor, dass die nicht betroffenen Tiere ungestört bleiben. So können die Hirsche gezielt nach Alter und Geschlecht entnommen werden, um die Population auf dem gewünschten Niveau zu halten.

Auch im Allgäu streitet man über die Gatterabschüsse. Erich Erbgraf von Waldburg-Zeil, erster Vorsitzender der Hochwildhegegemeinschaft Sonthofen, sperrt sich nicht grundsätzlich. Die Jäger scheuten sich nicht, entsprechende Maßnahmen durchzuführen, so Waldburg-Zeil, doch verlangten diese klare Antworten: Wie hoch muss die Zahl der Proben sein, um eine statistisch brauchbare Aussage zu bekommen? Ab welchem Durchseuchungsgrad droht eine Epidemie?

Einige Revierinhaber haben bereits in diesem Winter rund 50 Tiere getötet, um Gewebeproben zu entnehmen. Somit sind im Oberallgäu insgesamt 475 Hirsche untersucht worden, bei 21 von ihnen fanden sich Tuberkelbazillen. Das entspricht einer Durchseuchungsrate von 4,4 Prozent. Im Raum Oberstdorf war jedes sechste erwachsene Tier infiziert. Die örtlichen Waldbesitzer halten die bisherigen Untersuchungen für unzureichend, wie Peter Fink als Sprecher der Arbeitsgemeinschaft der Jagdgenossenschaften betont: "Wir haben den Landrat im Januar schriftlich aufgefordert, in jedem Wintergatter 30 Prozent der alten Tiere erlegen zu lassen. " Veterinäre sollen dann die Orte der größten Verseuchungsgefahr bestimmen.

Allmählich wächst der Druck auf die zuständigen Minister für Landwirtschaft und Umwelt. Die agrarpolitische Sprecherin der SPD, Maria Noichl, etwa plädiert seit Januar für konkrete Maßnahmen gegen die Rotwild-Tuberkulose. In der vergangenen Woche gelang es ihr, die Kollegen von CSU und FDP zu überzeugen. Daraufhin beschloss der Umweltausschuss des Landtags einstimmig, die Rotwildbestände noch vor Auflösung der Wintergatter auf Tuberkulose zu untersuchen. "Jetzt müssen die zuständigen Minister klare Ansagen machen, wie viele und welche Tiere entnommen werden müssen - und was geschehen soll, wenn sich x Prozent als infiziert erweisen", sagt Noichl.

Hintergrund:
Rindertuberkulose

Die Tuberkulose ist eine von Bakterien ausgelöste Infektionskrankheit, die neben dem Menschen verschiedene Haus-, Zoo- und Wildtiere befallen kann. Beim Menschen wird sie in den meisten Fällen durch Mycobacterium tuberculosis verursacht. Beim Rind kommen zwei verschiedene Erreger in Betracht: Mycobacterium caprae und M. bovis. Bis zur Mitte des vergangenen Jahrhunderts war die Rindertuberkulose in Deutschland eine verbreitete Infektion. Die Tiere stecken sich über verseuchtes Futter, Wasser oder per Tröpfcheninfektion an. Bei erwachsenen Rindern sind oft die Lungen befallen. Die Tiere magern ab und sterben häufig, wenn sie nicht vorher getötet werden. Erkrankte Kühe geben deutlich weniger Milch.

Über Rohmilch können die Erreger auch auf den Menschen übergreifen, was früher häufiger der Fall war. Pasteurisieren tötet die Tuberkulose-Erreger in der Milch jedoch ab, daher ist das Ansteckungsrisiko heute gering. Im Allgäu ist bislang kein Fall einer Ansteckung bekannt geworden. Trotzdem müssen infizierte Rinder getötet werden, um das Infektionsrisiko für Mensch und Tier zu minimieren. Daher kann es für den Landwirt großen wirtschaftlichen Schaden bedeuten, wenn in seinem Betrieb die Rinder-Tuberkulose ausbricht. Um die Ausbreitung der Seuche zu verhindern, ist es verboten, gesunde Tiere vorsorglich gegen die Erreger zu impfen oder erkrankte Tiere zu heilen.

Weil die aktuelle Epidemie im Allgäu ausschließlich auf M. caprae zurückgeht, ist der Status der Tbc-Freiheit in Deutschland laut EU-Recht nicht gefährdet. Denn dieses Mycobacterium wird erst seit 2003 als eigenständige Art eingestuft. Vorher galt es als Unterart von M. bovis und wird daher in der von 1964 stammenden EU-Tuberkulose-Verordnung nicht als anzeigepflichtiger Seuchen-Erreger geführt.

An der Umsetzung des Landtagsbeschlusses arbeitet nun ein Expertenstab des LGL. In den nächsten Tagen sollen die Landratsämter Auskunft geben, wie viele Wintergatter in den einzelnen Landkreisen bestehen, wo genau sie liegen und wie viel Stück Rotwild darin stehen. Anhand dieser Daten will das LGL dann die Anzahl der Hirsche festlegen, die erlegt und untersucht werden müssen, um statistisch gesicherte Aussagen treffen zu können.

Die Daten sollen in ein umfassendes Tbc-Monitoring entlang der Alpenkette einfließen. Der Plan sieht vor, in der kommenden Saison insgesamt 1661 Stück Rotwild aus der regulären Jagdstrecke zu testen. Dahinter steckt die Sorge, dass infizierte Hirsche die Tuberkulose auch in die Nachbarregionen des Allgäus einschleppen, - und die Seuche dort ebenfalls auf die Rinder übergreifen könnte. Denn auch in Miesbach oder Inzell treiben viele Bauern ihr Vieh im Sommer auf die Almweiden. Sie wollen nicht dieselbe Misere erleben wie ihre Kollegen im Allgäu.

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