Teilchenphysik:Teilchen, wechsel dich

Erstmals haben Wissenschaftler direkt beobachtet. wie Neutrinos im Flug ihren Charakter ändern. Diess bestätigt einmal mehr, dass es im Weltbild der modernen Physik noch viele Unstimmigkeiten gibt.

Henning Pulss

Physiker haben erstmals direkt beobachtet, dass sich ein Myon-Neutrino in ein Tauon-Neutrino wandelt. Schon seit vielen Jahren liefert die Forschung Hinweise darauf, dass diese rätselhaften kleinen Teilchen ihren Charakter ändern können. Bisher hatte man allerdings nur beobachtet, wie Myon-Neutrinos verschwinden, aber nicht wie Tauon-Neutrinos auftauchen. Der experimentelle Nachweis dieser sogenannten Neutrino-Oszillation in einem italienischen Untergrundlabor bestätigt einmal mehr, dass es im Weltbild der modernen Physik noch viele Unstimmigkeiten gibt.

Die Neutrinos, die im riesigen "Opera"-Detektor in den Tiefen der italienischen Abruzzen eingefangen werden, fliegen 730 Kilometer entfernt und 2,4 Millisekunden vorher im Genfer Kernforschungszentrum Cern los. Dort erzeugen Wissenschaftler einen Teilchenstrahl aus Myon-Neutrinos und richten ihn auf das Gran-Sasso-Labor jenseits der Alpen. Dort maßen die Forscher in den vergangenen zwei Jahren sechstausend der Teilchen, obwohl pro Jahr zwanzig Billionen Myon-Neutrinos den Detektor treffen.

Diese außerordentlich kleine Erfolgsquote beruht auf einer entscheidenden Eigenschaft der flinken Neutrinos: Sie stoßen nur sehr selten mit anderen Teilchen zusammen. In erster Linie liegt es daran, dass sie keine elektrische Ladung tragen und deshalb nicht elektromagnetisch wechselwirken. Aus diesem Grund passieren die meisten Neutrinos nicht nur die 730 Kilometer Gestein zwischen Genf und Gran Sasso mühelos, sondern auch die hier aufgestellten Messgeräte. Noch weniger der doch eingefangenen Teilchen sind Tauon-Neutrinos, die irgendwo unterwegs aus einem Myon-Neutrino entstanden sind: Bis zum jetzigen Zeitpunkt haben sie ein einziges in den ausgewerteten Daten gefunden.

Obwohl die Forscher im sprichwörtlichen Dunkeln stochern, spiegelt dieses Ergebnis recht genau das wider, was die Forscher erwartet hatten. Für die Messungen aus den fünf Jahren, die das Opera-Experiment laufen soll, sagt die Theorie elf entsprechende Ereignisse voraus; das gefundene Tauon-Neutrino stammte aus dem ersten halben Jahr der Laufzeit.

Wenn die Messungen weiter erfolgreich sind, wissen die Physiker zumindest eines: Neutrinos haben eine Masse, denn ohne diese könnten sie ihren Charakter nicht ändern. Im aktuellen Konzept der Teilchenphysik dagegen, dem Standardmodell, ist die Neutrinomasse nicht vorgesehen. Die experimentellen Befunde widersprächen also dem theoretischen Modell und rüttelten am Weltbild der Physik. Andererseits könnte die Neutrino-Oszillation ein Problem lösen. Sie deutet darauf hin, dass es bisher unentdeckte Teilchen gibt. Diese könnten dazu beitragen, dass das Universum viel mehr Masse enthält, als von der Erde aus zu sehen ist. Ein Kandidat für diese sogenannte dunkle Materie: schwere Neutrinos.

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