Phytotherapie:Heilende Pflanzen

Es gibt eine ganze Reihe teils schon im Altertum verwendeter Pflanzen mit medizinischer Wirkung. Aber nicht alle als heilsam verkauften pflanzlichen Mittel halten, was versprochen wird.

Colin Goldner

Phytotherapie stellt, zumindest im deutschsprachigen Raum, das Naturheilverfahren schlechthin dar. Fast achtzig Prozent der Bevölkerung, so das Ergebnis einer aktuellen Umfrage, messen der Heilbehandlung (griechisch: therapeía) mit aus dem Pflanzenreich (griechisch: tà phytá) gewonnenen Stoffen größten Wert bei.

Phytotherapie: Hochgiftig - aber in der richtigen Dosis wirksam: der Fingerhut.

Hochgiftig - aber in der richtigen Dosis wirksam: der Fingerhut.

(Foto: Foto:oh)

Vor allem in der Vorbeugung, aber auch zur Therapie beziehungsweise Begleittherapie von Atemwegserkrankungen und Verdauungsproblemen halten sie Pflanzenpräparate für ausgesprochen hilfreich.

In der Tat gilt bei einer ganzen Reihe der teils schon im Altertum als solche bekannten Arzneipflanzen eine Wirkung als nachgewiesen. Im Einzelfall handelt es sich zwar nicht unbedingt um die traditionell behauptete Wirkung - aber immerhin:

Die heutige Naturapotheke umfasst etwa vierhundert Arzneipflanzen, sprich: zu Arzneidrogen verarbeitete Zwiebeln, Wurzeln, Samen, Rinden, Hölzer, Kräuter, Früchte, Flechten, Blüten und Blätter.

Die Pflanzen oder ihre Teile werden zu Mono- oder Kombiwirkstoffpräparaten unterschiedlichster Dosierung aufbereitet und in Form von Pillen, Pulvern, Elixieren, Säften, Sirupen und Tees oder als Linimente (salbenartige Mischungen), Öle, Salben, Tinkturen und dergleichen in den Handel gebracht.

Phytotherapeutische Heilmittel unterteilen sich in vier Kategorien:

1. Rationale Phytopharmaka

Als Rationale Phytopharmaka werden aus pflanzlichen Bestandteilen hergestellte Arzneimittel bezeichnet, die über einen nachweislich hohen Grad an Wirksamkeit verfügen.

Dazu gehören etwa Kamillenblüten, die als Tinktur bei Hautverletzungen, als Tee-Aufguss bei Magen-/Darmbeschwerden oder als alkoholisch-wässriger Extrakt bei Atemwegserkrankungen angezeigt sind.

Andere Beispiele sind Baldrianwurzel bei nervöser Unruhe, Efeu bei Atemwegserkrankungen oder Goldrute bei Harnwegsinfektionen.

Um eine Arzneimittelzulassung für ein bestimmtes Pflanzenpräparat zu erlangen, muss der Hersteller klinisch belegen, dass ein spezifisches Krankheitsbild damit effektiver zu bekämpfen ist als mit einem Placebo, und dass die Risiken und Nebenwirkungen in vertretbarem Verhältnis zur Heilungsaussicht stehen.

Die meisten Präparate dieser Kategorie kommen als Tabletten oder Tinkturen auf den Markt, der Vertrieb erfolgt über die Apotheke.

Zu den rationalen Phytopharmaka zählen neben derlei wirkbelegten und weitgehend unschädlichen (allerdings nicht unbedingt nebenwirkungsfreien) Mite-Präparaten auch die sogenannten Forte-Präparate, die neben einer spezifischen Heilwirkung mit erheblichem Nebenwirkungsrisiko behaftet sind.

Dazu gehören etwa der hochgiftige Fingerhut, eingesetzt bei Herzrhythmusstörungen, die gleichermaßen giftige Tollkirsche, eingesetzt bei Magenproblemen, oder der dem Betäubungsmittelgesetz unterliegende und gegen Reizhusten eingesetzte Schlafmohn.

2. Traditionelle pflanzliche Heilmittel

Unter dem Begriff Traditionelle pflanzliche Heilmittel werden all jene Phytopräparate zusammengefasst, deren Heilwirkung weder pharmakologisch noch klinisch nachgewiesen ist, deren Basispflanzen jedoch "seit jeher" in der Volksmedizin angewendet werden.

Dies trifft etwa für den Roten Sonnenhut zu, der bei Atem- und Harnweginfekten hilfreich sein soll. Entscheidend ist, dass das einzelne Mittel selbst bei fragwürdigster Dosierung und Mischung für den Patienten nicht gefährlich werden darf.

Da das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte bei derartigen Präparaten die Angabe spezifischer Krankheitsindikationen nicht erlaubt, behelfen sich die Hersteller und Vertreiber mit Floskeln wie "zur Besserung des Allgemeinbefindens", "zur Unterstützung der Blasenfunktion" oder "zur Stärkung von Herz und Kreislauf".

Die Präparate dieser Kategorie sind frei verkäuflich. Sie werden nicht nur über Apotheken vertrieben sondern auch über Drogerien, Reformhäuser und vor allem über das Internet.

Überzeugte Pflanzenheiler beziehen sich gerne auf die mittelalterliche Benediktiner-Äbtissin Hildegard von Bingen (1098-1179), die sich neben allerlei theologischen Auslassungen und Prophezeiungen auch zu medizinischen Fragen und Heilmethoden geäußert hatte.

Im Mittelpunkt ihres Heilkonzepts standen Beten und Fasten, daneben empfahl sie bestimmte Pflanzen- und Edelsteintinkturen, deren jeweilige Rezeptur sie "von höherer Warte" empfangen haben wollte. Für keines der heutigen Hildegard-Produkte gibt es einen ernstzunehmenden Wirknachweis.

3. Nahrungsergänzungsmittel auf pflanzlicher Basis

In weiterem Sinne müssen auch all die Nahrungsergänzungsmittel den Phytotherapeutika zugerechnet werden, die ganz oder überwiegend auf pflanzlicher Basis hergestellt sind. Diese Mittel sind per definitionem aus dem Arzneimittelrecht ausgeklammert und dürfen daher keinerlei Heilwirkung verheißen. Es ist den Herstellern allerdings unbenommen, ebensolchen, zumindest "zwischen den Zeilen" ihrer Werbeverlautbarungen, zu suggerieren.

Vielfach werden in Alternativheilerkreisen Phytoprodukte der indisch-ayurvedischen, tibetischen oder traditionell-chinesischen Heilkunde eingesetzt. Unabhängig davon, dass keines der genannten Heilsysteme wissenschaftlichem Standard entspricht und von daher den Behauptungen über die Wirkkraft der einzelnen Präparate prinzipiell zu misstrauen ist, kann noch nicht einmal darauf vertraut werden, dass wenigstens die Inhaltsstoffe korrekt angegeben sind.

In vermeintlich harmlosen "Natur- und Pflanzenheilmitteln der östlichen Medizin" wurden bereits vielfach große Mengen hochtoxischer Arsen-, Kadmium- und Quecksilberverbindungen gefunden; viele Präparate wiesen zudem extreme Pestizidbelastungen auf.

4. Pflanzlichen Hausmittel der Volksheilkunde

Auch die sogenannten Pflanzlichen Hausmittel der Volksheilkunde gehören der Phytotherapie an. Sie stellen freilich keine Handelsware dar. Vielmehr werden sie aus Arznei- oder sonstigen Pflanzen selbst hergestellt.

Die Maßgaben zu Indikation und Verabfolgung entstammen entweder tradiertem Familienwissen oder sind einem der zahllosen Ratgeber entnommen, die auf dem Buchmarkt erhältlich sind. Oftmals stammen diese allerdings von phytopharmakologisch völlig unkundigen "Naturheilern" und "Kräuteraposteln".

Präparate sämtlicher Kategorien können grundsätzlich eine Heilwirkung entfalten, einen wissenschaftlich tragfähigen Nachweis gibt es indes nur bei den rationalen Phytotherapeutika.

Nebenwirkungen gibt es auch bei Phytopharmaka

Diese Medikamente greifen - ungeachtet ihrer Etikettierung als "sanfte" und "natürliche" Heilmittel - teils radikal in das Geschehen im Organismus ein und gehen im Einzelfall mit einem erheblichen Nebenwirkungsrisiko einher.

Sie sollten deshalb nur von einem fachkundigen Arzt nach genauer Diagnostik und Indikationsstellung verordnet werden. Wie bei jedem anderen Medikament ist eine exakte Dosierung vorzunehmen und der Behandlungsverlauf ständig zu kontrollieren.

Präparate der Kategorien zwei bis vier dürfen allenfalls als zeitlich eng begrenzter Besserungsversuch bei nicht-krankheitswertigen Befindlichkeitsstörungen eingesetzt werden - im Einzelfalle auch als Begleitmedikation eines wissenschaftlich anerkannten Heilverfahrens.

Von einer Behandlung ausschließlich mit "traditionellen", "nahrungsergänzenden" oder "volksheilkundlichen" Pflanzenmitteln ist dringend abzuraten - unabhängig von der Erkrankung oder Funktionsstörung.

Colin Goldner ist klinischer Psychologe. Er setzt sich seit etlichen Jahren kritisch mit alternativen Heilverfahren auseinander.

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