Bioenergetik:Die "orgastische Entladung"

Dem Freud-Schüler Wilhelm Reich zufolge lässt sich der Fluss der Lebensenergie mit einer "Orgontherapie" freisetzen. Allerdings glaubte Reich auch an einen Angriff von Außerirdischen auf unsere Atmosphäre.

Colin Goldner

Unter "Bioenergetik" werden gemeinhin all jene Ansätze verstanden, die den Körper in die psychotherapeutische Arbeit mit einbeziehen. Als Stammvater gilt der Freud-Schüler Wilhelm Reich (1897-1957), der mit der sogenannten Orgontherapie ein eigenes Behandlungskonzept entwickelte. Auch wenn dieses Konzept in seiner "originären" Form heute kaum mehr Verwendung findet, gelten die Reichschen Ideen - beziehungsweise der Verweis darauf - als Grundlage einer Vielzahl mehr oder minder eigenständiger Alternativheilverfahren.

Wilhelm Reich

Wilhelm Reich war einst ein Musterschüler Freuds

(Foto: Foto: S.M.)

Reich galt lange Jahre als Musterschüler Sigmund Freuds. Nach einer steilen Karriere innerhalb des psychoanalytischen Establishments wurde er allerdings seiner zunehmend unorthodoxen Vorstellungen wegen Anfang der 1930er Jahre daraus verbannt.

Reich entwickelte ein eigenständiges Konzept, das wesentlich auf der Beobachtung basierte, dass alle erfolgreich behandelten Klienten im Zuge ihrer Therapie ein befriedigendes Sexualleben entwickelten, die erfolglosen hingegen nicht.

Reich glaubte entdeckt zu haben, dass die Ursache für den Erfolg therapeutischen Bemühens die Fähigkeit des Klienten zu "orgastischer Entladung" sei, die sich in der Auflösung muskulärer "Panzerungen" und der Wiederherstellung des darin blockierten Flusses an Lebensenergie freisetze.

Diese Energie, eine angeblich physikalische und objektiv messbare Größe, bezeichnete Reich als "Orgonenergie". Seinem Verfahren zu deren Freisetzung gab er den Namen "Orgon-" oder "Vegetotherapie".

Unter "Panzerung" verstand Reich chronische muskuläre Verkrampfungen als körperliche Seite der Verdrängung frühkindlich psychosexueller Konflikte: Unterdrückung beziehungsweise Nicht-Befriedigung oraler, analer oder genitaler Bedürfnisse. Deren psychische Seite sollte sich in charakterlichen Verhärtungen darstellen.

Schreien und um sich schlagen

Zur Behandlung liegt der nicht oder nur leicht bekleidete Klient mit angewinkelten Knien auf einer Matte. Er wird angewiesen, bewusst durch den Mund zu atmen und seine Atmung zunehmend zu intensivieren.

Durch dergestalt energetische "Aufladung" des Organismus werde enormer innerer Druck auf die Panzerung ausgeübt, der durch äußere Einwirkung des Therapeuten weiter verschärft wird: mit größtem Krafteinsatz drückt dieser Daumen, Fäuste oder Ellbogen solange auf die "verpanzerte" Muskulatur, bis der Klient die Krampfspannung nicht länger aufrechterhalten kann und das darin festgehaltene verdrängte Gefühl sich in unwillkürlicher Entladung Bahn bricht.

Vom Kopf abwärts wird der Körperpanzer - nach Reich werden sieben ringförmige Muskelgruppen um Augen, Mund, Hals, Brust, Zwerchfell, Bauch und Becken unterschieden - systematisch bearbeitet.

Der Klient wird ermuntert zu schreien, um sich zu schlagen, in die Matratze zu beißen oder sich auf beliebige sonstige Weise hemmungslos gehen zu lassen. Insbesondere wird er angeleitet, seine Schließmuskeln wiederholt zu entspannen und zu kontrahieren. Sobald dies gelingt, bewegt sich das Becken nach jedem Ausatmen spontan nach vorn. Reich bezeichnet dies als Orgasmusreflex: Der Organismus sei nun in der Lage, sich vollständig hinzugeben und daher außerstande, eine Neurose aufrechtzuerhalten, da diese nur auf der Basis libidinöser Energiestauungen existierten.

Die Therapiedauer zur völligen Wiederherstellung "orgasmischer Potenz" liegt zwischen zwei und vier Jahren.

Unterstützt wird die Therapie Reichs durch die sogenannten Orgonakkumulatoren. Dabei handelt es sich um mit Eisenplatten abgedeckte, schrankähnliche Holzkästen - portablen Freiluftplumpsklos nicht unähnlich -, deren Innenwände mit mehreren Schichten abwechselnd organischen und anorganischen Materials ausgeschlagen sind.

Batterien zur Sammlung kosmischer Energie

Reich hielt diese Kästen, die er nach seiner Emigration in die USA (1937) entwickelte, für Batterien zur Sammlung und Speicherung kosmischer Energie. Er berichtete von phantastischen Heilerfolgen bei Patienten, die sich der gebündelten Orgonstrahlung ausgesetzt hatten. Insbesondere im Kampf gegen Krebs wollte er phänomenale Durchbrüche erzielt haben.

Reich stieß seiner Orgonexperimente wegen zunehmend auf Kritik, unter Wissenschaftlern galt er längst als geisteskrank. Die amerikanischen Behörden ließen Anfang der 1950er Jahre seine Akkumulatoren zerstören und seine gesamten Unterlagen vernichten. Da er sich nicht an das Verbot hielt, seine Orgonkästen einzusetzen, wurde er 1956 zu einer zweijährigen Gefängnisstrafe verurteilt. 1957, noch während der Haftzeit, starb er.

Ob Reich tatsächlich verrückt war (oder in späteren Jahren wurde), lässt sich nicht mehr beurteilen. Seine abstrusen Orgonakkumulatoren und seine zunehmende Verstrickung in Verschwörungstheorien - unter anderem glaubte er die Erde von bösartigen Außerirdischen bedroht, die die Atmosphäre mit tödlicher negativer Orgonenergie vergifteten - deuten allerdings sehr auf wahnhaftes Geschehen hin. 1954 wollte er gar ein feindliches UFO höchstpersönlich vertrieben haben.

Die psychoanalytischen Schriften Reichs, die er vor seiner Emigration in die USA verfasste, insbesondere seine Studie zur "Massenpsychologie des Faschismus" (1933), sind von seinen späteren Orgon-Verirrungen klar getrennt zu sehen; auch der Wert seiner in den späten 1920ern Jahren begründeten sozialistischen Sexualaufklärungsarbeit ist unbestritten.

Für die behauptete Wirksamkeit der Vegeto- oder Orgontherapie liegt bis heute kein ernsthafter Nachweis vor. Vielmehr sollte man sich des Risikos schwerster körperlicher und/oder psychischer Störungen bewusst sein, das mit den tiefen Eingriffen in das organismische Geschehen einhergehen kann. Besonders gefährlich sind die Techniken in der Hand mangelhaft qualifizierter "Neo-Reichianer", die nicht befähigt sind, mit möglicherweise auftretenden Krisensituationen angemessen umzugehen.

Dieselbe Kritik gilt für die zahlreichen Variationen und Fortentwicklungen des Reichschen Ansatzes, wie sie etwa die Bioenergetische Analyse nach Alexander Lowen, selbst Schüler Reichs, oder die Biosynthese nach David Boadella, der einen aufzulösenden "Gehirnpanzer" entdeckte.

Weitverbreitet ist auch das Verfahren der Biodynamik, entwickelt von der norwegischen Physiotherapeutin und Reich-Anhängerin Gerda Boyesen (1922-2005), das im wesentlichen aus einer tiefgreifenden Massage des Bauchbereiches besteht. Ziel ist es, den von Boyesen entdeckten Eingeweidepanzer zu "schmelzen". Eine Zunahme von Darmwinden wird als untrügerisches Zeichen gesehen, dass sich innere Verfestigungen lösen. Biodynamik wird üblicherweise in Form einmaliger Wochenend-Workshops angeboten.

Colin Goldner ist klinischer Psychologe. Er setzt sich seit etlichen Jahren kritisch mit alternativen Heilverfahren auseinander.

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