Technik:Vorsprung durch Porno

Ohne den Sexualtrieb des Menschen hätten es viele Medien schwerer gehabt, ein großes Publikum zu erreichen: Das gilt vom Buchdruck bis zum Internet.

Christopher Schrader

Das Ding wird der Hit der Cebit 2008: ein Handy mit einem 3D-Bildschirm. Man kann sich Musikvideos draufladen, Sportübertragungen oder ganze Folgen von Krimiserien; aus jedem Genre ist ein Beispielclip im fabrikneuen Gerät gespeichert. Wenn der Käufer das Gerät am gestreckten Arm vor sich hält, ragt plötzlich der Lauf einer Pistole aus dem kleinen Monitor.

Ein Hip-Hop-Sänger gestikuliert irgendwo über dem Handy mit seiner freien Hand, ein Basketballstar versenkt den Ball im Korb, und all das erzeugt im Hirn einen Raumeindruck, als säße man im Musikclub oder am Spielfeldrand. "Spacr" haben die Hersteller das Handy getauft.

Das Gerät ist überall sofort ausverkauft, und nach wenigen Wochen zeigt die erste Hitparade, welche Videoclips sich die Käufer auf ihren Spacr laden - für zunächst einen Euro pro Minute.

Der Liste zufolge ragen kaum Pistolen oder Musikinstrumente aus dem Bildschirmen der Geräte, sondern vor allem Körperteile: nackte Brüste, entblößte Pobacken, gelegentlich sogar Penisse.

Und während der Hersteller in Pressemitteilungen den Missbrauch seiner Technik durch skrupellose Geschäftemacher geißelt, reibt er sich insgeheim die Hände: Es hat geklappt, die Sexindustrie hat das Gerät als Plattform für ihre Dienstleistungen erkoren, der kommerzielle Erfolg ist gesichert. Denn das wäre der Ritterschlag für den (fiktiven) Spacr.

Pornografie als "Pfadfinder"

"Du weißt, dass deine Technologie gut und stabil ist, wenn sie sich in der Pornowelt bewährt", hat zum Beispiel Susan Struble erkannt, einst Sprecherin des Elektronikkonzerns Sun Microsystems.

Ähnlich sah es schon 1997 der englische Economist: Pornografie sei "ein Pfadfinder", schrieb das Magazin, sie helfe dem Internet wirtschaftlich zu reifen.

Das hat ja auch geklappt. Seit Jahrhunderten übt die Pornografie einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die technische Entwicklung aus, den man kaum überschätzen kann.

Sobald ein neues Medium, eine neue Technik den Konsum schlüpfriger Unterhaltung vereinfachte und privatisierte, erkannten Anbieter schnell die Marktlücke.

Ihre Kunden zahlten klaglos hohe Preise und ebneten den Weg zum großen Publikum. "Wenn das Thema nicht so anstößig wäre, würde die Pornoindustrie öffentlich gepriesen, weil sie neue Technologien schnell und erfolgreich entwickelt, aufgreift und verbreitet", sagt Jonathan Coopersmith, Historiker an der Texas A&M University.

"Pornografie hat das Leben von jedem verändert, der schon mal einen Zeitungskiosk, Videorekorder oder ein Computernetz benutzt hat."

Das zeigte sich schon beim Buchdruck. Zu den erfolgreichsten unter den frühen Werken, die mit Gutenbergs Erfindung entstanden, gehören Pietro Aretinos "Sonetti Lussuriosi".

Das Buch enthält 16 Gedichte, die in derber Sprache die körperliche Liebe schildern - inspiriert von Kupferstichen, die die "Stellungen" (so der deutsche Titel) anatomisch explizit darstellen.

"Solche Bücher haben mehr dazu beigetragen, die Druckerpresse zu verbreiten und die Menschen das Lesen zu lehren als scholastische Abhandlungen", urteilt Peter Johnson, Honorarprofessoran der New York Law School.

Auch die Fotografie wurde schnell dazu genutzt, den unbekleideten Körper abzubilden. Ihre Erfindung, schrieb 1986 das amerikanische Justizministerium, war "mit Abstand das wichtigste Ereignis in der Geschichte der Pornografie".

Aber auch der umgekehrte Einfluss war enorm, denn Pornografie heizte das Interesse an der Technik an. Seit 1835 konnte man beliebig viele Abzüge von einem Negativ herstellen, aber die Menschen ließen sich nur zu seltenen Anlässen fotografieren.

Von Nacktbildern zur DVD

Gegen Ende des amerikanischen Bürgerkriegs 1865 jedoch musste der US Kongress ein Gesetz erlassen, das den Versand von Nacktbildern in der Feldpost untersagte.

Zehn Jahre später beschlagnahmte die Polizei in London bei einem gewissen Henry Haylor 130.248 obszöne Fotos. Mit den bewegten Bildern beschleunigte sich die Entwicklung.

1894 sah das Publikum in New York die ersten öffentlich vorgeführten Filme, an Guckkästen für jeweils einen Zuschauer; zwei Jahre später wurde der erste Pornofilm gedreht.

Später entwickelte sich der Markt für die Projektoren der Acht-Millimeter- Technik, weil es in gewissen Geschäften Schmuddelfilmchen auszuleihen gab.

Und bei den Videos festigte die Sexindustrie ihre Pionierrolle endgültig. 1977 kam der erste Porno auf einer Kassette heraus, ein Jahr vor dem ersten Hollywoodstreifen.

Noch heute richtet sich die ganze Welt nach den damaligen Vorlieben der Pornokonsumenten - beim Typ des Videorekorders im Wohnzimmer.

Als die Geräte neu und teuer waren, stand Sonys Betamax-Technik mit zunächst einstündigen Kassetten in Konkurrenz zu VHS-Geräten mit Bändern, auf die Spielfilme passten.

Und das war es, was die ersten Käufer wollten: ausgeliehene Filme gucken. Und das hieß - Pornos.

"Die ersten Geschäfte, die Videos verliehen, waren fast ausschließlich Pornoläden", schreibt Peter Johnson. Dieser Ablauf könnte sich demnächst wiederholen, im vollen Licht der Öffentlichkeit.

Zwei Firmenkonsortien aus Technikund Filmkonzernen propagieren zurzeit verschiedene Scheiben als Nachfolger der DVD.

Neue Perspektiven per Fernbedienung

Die Blue Ray Disc mit 50 Gigabyte Speicherkapazität wird von Sony, Philips und Disney favorisiert, sie erfordert aber Investitionen in neue Maschinen. Die billiger zu produzierende HD-DVD mit 30 Gigabyte Platz vertreten NEC, Toshiba und Warner Brothers.

Sollte sich die Pornoindustrie mit ihren 11.000 Neuerscheinungen pro Jahr auf eine Seite stellen, wäre der Kampf entschieden. Hollywoods Bosse warten daher zurzeit, wie sich die Kollegen der einschlägigen Labels festlegen werden, berichtet der Online-Dienst BizReport. Den Herren der Pornoindustrie gefällt die Aufmerksamkeit, doch auch ihre Welt ist noch gespalten.

Die kleineren Unternehmen fürchten die Investitionen und neigen darum zur HD-DVD, die größeren schwärmen von den Chancen, die die Blue Ray Disc eröffnet. Zum Beispiel: Der Zuschauer kann frei wählen, aus welcher Kameraperspektive er das Geschehen betrachten will.

Kein Zweifel, dass auch jugendfreie Filme diese Technik aufgreifen, wenn sich herumspricht, wie aufregend der Schwenk um ein kopulierendes Paar sein kann, den der Zuschauer mit seiner Fernbedienung lenkt.

Diese Technik würde vor allem ein mutmaßliches Bedürfnis der Pornokunden erfüllen: den Wunsch nach Interaktivität, dem Gefühl, an der Handlung teilzunehmen.

Das World-Wide-Sex-Web

Hierin liegt womöglich, neben der Anonymität, der größte Reiz, den das Internet auf die Freunde digitaler Lust ausübt; immerhin ist es das erste interaktive Massenmedium. Die Pornoindustrie hat ihre Innovationskraft daher auf das Netz konzentriert.

Zu den Onlinetechniken, die im Milieu des Sex-Gewerbes entstanden sind, gehören: sichere Bezahlsysteme, reversible, elektronische Wasserzeichen auf Fotos, das Streaming - also das Übertragen und gleichzeitige Abspielen von Filmen über das Netz - sowie Videokonferenzen im Computer.

Lange bevor sich Manager so austauschten, fanden hier Stripperinnen und Zuschauer zueinander. Auch Dienste, die den Nutzern Anonymität beim Surfen gewähren, aber im entscheidenden Moment ihre Identität (das Alter und die Kreditkarten-Angaben) aufzeichnen, haben tiefe Wurzeln in der Pornoszene.

Ganze Onlinedienste verdanken dem Sexualtrieb ihren Erfolg. Das französische Minitel-System zum Beispiel, ein schwarzweißer Internetvorläufer ohne grafische Komponente, wurde durch "messageries roses" populär. Die erotische Kommunikation machte zeitweise die Hälfte des Datenverkehrs aus.

Auch AOL wird nachgesagt, es habe seinen Konkurrenzkampf gegen Compuserve nur gewonnen, weil es relativ unregulierte Chaträume für "adult topics" erlaubte.

So durchdringend ist der Einfluss der Pornografie auf die technische Entwicklung, dass man eine Gegenfrage stellen muss: Wieso konnte manche Kommunikationstechnik darauf verzichten? Telefon, Fernsehen, der iPod?

Nun, das Telefon übertrug zwar wahrscheinlich von Anfang an anzügliche Säuseleien, aber für den organisierten Pornokonsum musste erstens die Technik reifen, zweitens die öffentliche Kontrolle abnehmen.

Sobald private Telefongesellschaften hohe Minutentarife erlaubten, entstanden Telefonsex- Hotlines - schneller als Ansagedienste für Wetter und Kinoprogramm.

Ähnlich beim Fernsehen: Die Sendeanstalten glichen anfangs Behörden, waren öffentlich- rechtlich organisiert und kontrolliert. Für Anstößiges war kein Platz und kein Bedarf - es gab ja Fußballübertragungen und Francis Durbridge.

Erst das Privatfernsehen brachte in Deutschland nackte Brüste in großer Zahl auf den Bildschirm, angefangen mit der legendären Spielshow Tutti-Frutti. Bleibt der iPod, der pornofrei zu seinem Kultstatus kam - obwohl es von Anfang an möglich gewesen wäre, schlüpfrige Hörspiele für das Gerät zu vertreiben.

Pornographie als Grundrecht

"Der iPod hat ein anderes, ähnlich verbotenes Bedürfnis erfüllt: Man konnte schwarz aus dem Internet geladene Songs aus Tauschbörsen draufladen", sagt Kolumnistin Annalee Newitz, die für das amerikanische Magazin Wired und die Bürgerrechtsbewegung "Electronic Frontier Foundation" gearbeitet hat.

Ein Laster hat also offenbar für den Erfolg gereicht. Aber längst versieht der Player auch erotische Dienste. Seit Apple über das Programm iTunes auch Podcasts, also Sprachaufnahmen und Videos vertreibt, lässt sich das Gerät zur nichtmusikalischen Stimulation nutzen.

Zum Beispiel mit Videoclips, auf denen junge Frauen vorführen, wo sich unter ihrer Kleidung Tattoos und Piercings verbergen. "Pornografische Podcasts gehören zu den populärsten Angeboten", ergänzt Newitz. Für die Kolumnistin ist diese Entwicklung konsequent - und im gesellschaftlichen Sinne gesund.

Newitz gehört zu der wachsenden Zahl von Beobachtern, die eine weitere Regulierung, sprich: Kriminalisierung, der Pornografie bekämpfen. Dafür gibt es drei Argumente.

Erstens: Pornografie muss durch die Grundrechte genauso geschützt werden wie Kommentare in Tageszeitungen oder Demonstrationen gegen Atomtransporte.

Zweitens: Sie hat, wie gesehen, eine positive Wirkung auf die Weiterentwicklung der Technologie. Drittens, und das ist Annalee Newitz' Fokus: Was sich im Umfeld der Pornografie entwickelt, wird jeder dringend brauchen, der seine Privatsphäre vor der Datensammelwut kleiner und großer Brüder schützen möchte.

"Wir alle brauchen die Pornografie", sagt sie, weil diese Techniken die Anonymität hervorbringen. Dieses Argument übrigens wird 2008 für den Spacr sprechen: Was auch immer mandrauflädt, nackte Brüste oder subversive Literatur - die Transaktion bleibt anonym.

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