Tausendfüßer-Forschung:In der Welt der Myriapoden

Tausendfüßer sind eher lästig als schädlich, aber irgendwie auch unheimlich. In Görlitz tagen derzeit 90 Experten aus 28 Ländern, um über Evolution, Ökologie und Systematik der Myriapoden zu diskutieren.

Mark Hammer

Sie kommen nachts. Dann fallen sie in Massen über ein ganzes Dorf her, setzen sich in jede Ritze, bedecken den Boden, so dass es bei jedem Schritt knackt. Tausendfüßer suchen jedes Jahr den österreichischen Ort Röns beim Bodensee heim.

"Manchmal ist so ein Dorf über Jahre betroffen, dann sind die Tausendfüßer plötzlich wieder weg. Manchmal befallen sie nur einzelne Häuser, manchmal den ganzen Ort", sagt der Ökologe Klaus Zimmermann aus Dornbirn. Die Tiere sind eher lästig als schädlich, nur selten vergreifen sie sich am Gemüse in Gärten; sie ernähren sich von abgestorbenen Pflanzenteilen.

Natürliche Feinde haben Tausendfüßer nur wenige - sie schützt ein harter Panzer, manche von ihnen sondern stinkende und giftige Sekrete ab. Angriffen mit Pestiziden entgehen sie, indem sie sich im Boden verkriechen.

Das massenhafte Auftreten hängt mit den Vermehrungszyklen der Tiere zusammen. "Das gibt es auch bei Marienkäfern. In einem Jahr sind viele da, in anderen wenige", sagt Willi Xylander. Er ist Direktor des Naturkundemuseums im sächsischen Görlitz und hat in dieser Woche die weltweite Gemeinde der Tausendfüßer-Forscher zum Kongress eingeladen.

90 Experten aus 28 Ländern diskutieren Evolution, Ökologie und Systematik der Myriapoden, wie die Tiere in der Biologie heißen. Im Keller des Museums lagern 93.000 in Alkohol eingelegte Tausendfüßer, die Forschern und Studenten als Anschauungsmaterial dienen. Seit 50 Jahren arbeitet das Museum auf dem Gebiet der Myriapodologie.

Obwohl sie nahezu überall vorkommen, bekommt man Tausendfüßer selten zu Gesicht. Dabei stecken die Tiere zuhauf unter Steinen oder im Kompost. Sie leben im Boden, fressen abgestorbene Blätter und spielen - wie Regenwürmer - eine wichtige Rolle bei der Humusbildung.

Manche Menschen züchten die Tiere, von denen es in Deutschland an die 250 Arten gibt. Beliebt sind farbenprächtige Exemplare aus tropischen Gebieten, wie der Riesenkugler aus Madagaskar. Er rollt sich unter Gefahr wie eine Assel zusammen und ist dann so groß wie eine Orange. Manche von ihnen schillern in den buntesten Farben.

Der größte heute bekannte Tausendfüßer ist der afrikanische Archispirostreptus gigas mit 30 Zentimetern Länge. Das ist aber winzig im Vergleich zu einer Spezies, die einst in Deutschland gelebt hat: Arthropleura wurde zwei Meter lang, einen halben Meter breit und konnte Beutetiere in der Größe eines Rehs erlegen. Er machte vor 300 Millionen Jahren die Wälder unsicher. Wissenschaftler schätzen, dass es heute weltweit 80.000 Arten gibt, manche werden nur wenige Millimeter groß.

Keiner hat tausend Beine

Tausend Beine hat keiner der bisher bekannten Tausendfüßer - Illacme plenipes in Kalifornien kommt dem mit 750 Beinen noch am nächsten. Auch die Untergruppe der Hundertfüßer hat in den meisten Fällen weniger als 100 Beine; und selbst manche Arten mit 200 oder 300 Beinen zählen zu den Hundertfüßern. Diese jagen Insekten; ihre Zangen und das Gift darin können auch für Menschen unangenehm werden. Der in Südeuropa lebende europäische Riesenläufer kann schmerzhaft beißen.

"Arten, deren Biss tödlich ist, gibt es aber nicht", sagt Jason Dunlop, Kustos am Museum für Naturkunde in Berlin. Auch gibt es in Deutschland keine der bissigen Arten, sie leben in den Tropen und Subtropen. Die Tiere können sich nicht nur durch Bisse wehren. Manche Exemplare spritzen Gift einige Zentimeter weit auf Angreifer.

Das Sekret des in Europa und Nordafrika lebenden Saftkuglers enthält Blausäure. In Südamerika machen sich Kapuzineraffen die Gifte zu Nutze. Sie schlagen und quetschen den Tausendfüßer Orthoporus dorsovittatus und reiben sich mit dem Gift ein, um sich damit vor Insektenstichen zu schützen.

Seit mehreren Jahren wird auch das oberbayerische Obereichstätt von Tausendfüßern heimgesucht. Letztes Jahr haben die Bewohner den Tieren den Kampf angesagt; sie haben eine 30 Zentimeter hohe Blechwand rund um den Ort errichtet und sind jeden Tag einmal die Barriere entlang patrouilliert, um die Plagegeister einzusammeln. Um nicht weitere Tiere durch Licht anzulocken, blieb die Straßenbeleuchtung abgedreht.

Auch Klaus Zimmermann will in diesem Jahr Barrieren testen, die er mit seinem Kollegen Christian Ulrichs von der Humboldtuniversität in Berlin neu entwickelt hat. Diatomeenerde, die Quarzschalen fossiler Kieselalgen, löst die schützende Wachsschicht vom Panzer der Tausendfüßer und könnte sie so von den Häusern fern halten.

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