Tag der Organspende:"Den Hirntod sieht man nicht"

Tausende Leben können durch neue Organe gerettet werden - doch die Zahl der Spender ist gering. Warum Apelle an die Bevölkerung zu kurz greifen, erläutert Ethnologin Vera Kalitzkus.

Barbara Galaktionow

Zahlreiche Leben können heutzutage dank Organspenden gerettet werden - medizinisch ist vieles möglich. Trotzdem dümpelt die Zahl der Organspenden in Deutschland auf niedrigem Niveau. Der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO) zufolge standen im Jahr 2008 etwa 4000 gespendeten Organen in Deutschland 12.000 Menschen gegenüber, die auf ein Spenderorgan warteten. Zum "Tag der Organspende" am 4. Oktober werden deshalb erneut Rufe nach einer größeren Spendenbereitschaft laut. Vera Kalitzkus erläutert, warum diese Apelle zu kurz greifen. Die Ethnologin mit dem Forschungsschwerpunkt medizinische Anthropologie arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Allgemeinmedizin und Familienmedizin der privaten Universität Witten/Herdecke. Vor kurzem erschien im Suhrkamp-Verlag ihr Buch "Dein Tod, mein Leben. Warum wir Organspenden richtig finden und trotzdem davor zurückschrecken".

Tag der Organspende: Die lebensnotwendige Spende: Viel Patienten warten jahrelang auf ihr neues Organ.

Die lebensnotwendige Spende: Viel Patienten warten jahrelang auf ihr neues Organ.

(Foto: Foto: dpa)

sueddeutsche.de: Frau Kalitzkus, woran liegt die geringe Spendenbereitschaft? Sind wir ein Volk von Egoisten?

Vera Kalitzkus: Fehlende Spenderorgane werden oft als Hinweis darauf gedeutet, dass der Wille fehlt, anderen zu helfen. Ich glaube, dass das bei dieser Thematik zu kurz greift. Bei einer Organspende wird ja - beispielsweise im Gegensatz zur Blutspende - etwas hergegeben, was eine große Bedeutung für das Individuum hat.

sueddeutsche.de: Nach Angaben der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung befürworten 80 Prozent der Deutschen Organspenden - doch nur 17 Prozent haben einen Organspendeausweis. Ist das nicht einfach Gedankenlosigkeit?

Kalitzkus: Natürlich sind viele ein bisschen träge, was das Ausfüllen des Organspendeausweises angeht. Die Diskrepanz zwischen der hohen Zahl der Befürworter in der Bevölkerung generell gegenüber der Zahl der tatsächlichen Organspenden geht denn auch darauf zurück, dass eben meist kein Organspendeausweis vorliegt und daher erst die Angehörigen von plötzlich Verstorbenen über die Organentnahme entscheiden müssen. Sie werden mit einer Problematik konfrontiert, auf die sie nicht vorbereitet sind - und mit einer Form des Todes, die schwer zu verkraften ist.

sueddeutsche.de: Wie sehen diese Bedingungen denn aus?

Kalitzkus: Die Angehörigen werden, wie gesagt, meist mit einem plötzlichen Tod konfrontiert. Sie stehen unter Schock. In diesen Zeitraum fällt dann die Bitte um eine Organspende. In dem Moment, wo klar ist, dass der Patient ein Organspender werden könnte, wird zudem ein großes Aufgebot an pflegerischen und medizinischen Maßnahmen notwendig. Gewebe- und Blutproben müssen entnommen werden. Der Kreislauf muss stabil gehalten werden.

Dann kommen die ganzen organisatorischen Abläufe hinzu: Wo gehen die Organe hin? Wann ist ein OP frei? Die Angehörigen haben nicht mehr die Möglichkeit zu sagen: "Ok, wir sitzen jetzt hier solange am Bett unseres Verwandten wie wir wollen." Denn der Ablauf richtet sich danach, was medizinisch notwendig ist. Es gibt keine Ruhe mehr - und das in einer Situation, in der Angehörige den Tod eines Menschen verkraften müssen.

Hinzu kommt die Problematik, dass ein Organspender zwar hirntot sein muss, aber nicht vollständig verstorben sein darf. Er wird weiterhin beatmet und wirkt dadurch nicht wie ein toter Mensch. Der Hirntod ist nicht sinnlich erfahrbar. Das ist die Kernproblematik für die Angehörigen. Erst nach der Operation bekommen die Hinterbliebenen einen Menschen zu Gesicht, der erkennbar tot ist.

Organe - emotional besetzt

sueddeutsche.de: Wie kommen denn Menschen damit klar, die sich gegen eine Organspende entschieden haben?

Organspende, Vera Kalitzkus, oH

Die Ethnologin Vera Kalitzkus hat die psychischen Begleitumständen von Organtransplantationen untersucht - bei Angehörigen von Spendern und den Organempfängern.

(Foto: Foto: oH)

Kalitzkus: Auch in dem Moment, wo man sich gegen eine Organspende entscheidet, wirkt diese ganze Problematik nach. Viele zweifeln hinterher, ob sie richtig entschieden haben. Hätte der oder die Verstorbene es vielleicht doch gewollt? Haben sie aus egoistischen Motiven gehandelt? War es der Schock, der sie zu einem Nein bewog?

sueddeutsche.de: Werden manche Organe leichter gespendet als andere?

Kalitzkus: Zahlen dazu habe ich nicht, aber diese Unterscheidungen gibt es. Man kann die Entnahme auch auf bestimmte Körperteile begrenzen. Denn Organe sind natürlich kulturell und emotional unterschiedlich besetzt. Es kommt häufig vor, dass Menschen sagen: "Ja ist ok, Sie können ihn zur Organspende haben, aber bitte nicht die Augen, denn das kann ich nicht ertragen." Auch das Herz ist schwierig - es wird von vielen als Sitz der Gefühle wahrgenommen. Die anderen Organe sind meist weniger emotional besetzt.

sueddeutsche.de: Unterscheiden auch die Organempfänger zwischen einem neuen Herzen und einer neuen Leber?

Kalitzkus: Beim Herz ist der Prozess der Aneignung deutlich schwieriger. Denn ein Herz können die Menschen mit jedem Schlag spüren. Leber und Niere sind eher "stille Organe", an die die Empfänger nicht ständig erinnert werden.

sueddeutsche.de: Sind die Empfänger einfach nur froh über ihr "zweites Leben" - oder haben auch sie mit psychischen Nachwirkungen der Transplantation zu kämpfen?

Kalitzkus: Das lässt sich nicht pauschal sagen. Es gibt Patienten, die robuster gestrickt sind oder rationaler mit dem Vorgang umgehen, und andere, die damit mehr Probleme haben. Eine zentrale Frage ist auf alle Fälle die der eigenen Identität. Die Empfänger müssen ein fremdes Organ, einen vitalen Körperteil eines anderen Menschen in den eigenen Körper integrieren. Das geht nicht immer problemlos vonstatten. Deshalb erhalten Organempfänger auch psychologische Betreuung.

sueddeutsche.de: Wie gehen die Menschen damit um, dass sie das Organ eines anderen Menschen, eines Verstorbenen in sich tragen?

Kalitzkus: Ich denke, hier gibt es eine Art Schutzmechanismus. Ein Nierenempfänger sagte mir einmal, er habe mit dem neuen Organ kein Problem - zunächst. Denn später setzte er hinzu, dass es auch kein Problem sein dürfe, da dies letztlich eine suizidale Frage wäre. Denn wenn jemand sein Spenderorgan tatsächlich ablehnen würde, bliebe ihm in vielen Fällen nur der Tod.

So gibt es bei Organempfängern auch das Phänomen des versteckten Suizids. Dabei entziehen diese sich den Therapien, die nach einer Transplantation notwendig sind. Andere Organempfänger weigern sich, sich mit ihrem neuen Organ auseinanderzusetzen, können zum Beispiel ihr neues Herz nicht auf dem Ultraschall angucken oder ihre neue Niere nicht abtasten.

sueddeutsche.de: Wie können Empfänger und die Angehörigen der Organspender besser mit der Situation klarkommen?

Kalitzkus: Organempfänger gedenken häufig ihrem Spender und seiner Familie, zum Beispiel am Jahrestag der Transplantation. Eine Organspende ist einfach etwas ganz anderes als ein Herzschrittmacher, denn dadurch wird eine Verbindung mit einem anderen Menschen und dessen Familie geschaffen, auch wenn ich sie nie kennenlernen werde. Es ist sehr wichtig, das anzuerkennen.

Auch für die Hinterbliebenen ist die persönliche und gesellschaftliche Würdigung ihrer Entscheidung von Bedeutung. Organempfänger können anonyme Dankesbriefe schreiben, die dann vermittelt werden. Ein solcher Brief wird von Hinterbliebenen als sehr tröstlich empfunden. Für die Angehörigen wäre neben der persönlichen aber auch eine stärkere öffentliche Anerkennung wünschenswert - beispielsweise am heutigen "Tag der Organspende". Hier könnte sehr viel mehr getan werden. Denn die Entscheidung zur Organspende ist ein freiwilliger Akt, der sehr viel Selbstüberwindung erfordert.

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