SZ Wissen:"Der Kosmos schweigt uns an"

Naturphilosoph Bernulf Kanitscheider erläutert im SZ Wissen, warum er auch ohne den Glauben an einen Sinn des Lebens gute Laune hat.

Christian Weber

SZ Wissen: Sie wirken gar nicht unglücklich.

SZ Wissen: Kosmisches Zufallsprodukt und Sinnsymbol: Der vom Weltraumteleskop Hubble fotografierte Helixnebel NGC 7293 befindet sich etwa 650 Lichtjahre von unserer Erde entfernt. Esoteriker in Internetforen bezeichnen ihn als "Auge Gottes".

Kosmisches Zufallsprodukt und Sinnsymbol: Der vom Weltraumteleskop Hubble fotografierte Helixnebel NGC 7293 befindet sich etwa 650 Lichtjahre von unserer Erde entfernt. Esoteriker in Internetforen bezeichnen ihn als "Auge Gottes".

(Foto: Foto: AP)

Bernulf Kanitscheider: Wieso sollte ich denn?

SZ Wissen: In Ihren kosmologischen Schriften betonen Sie, dass wir Menschen auf unserer kleinen Erde eine einsame, schnell vorübergehende, periphere Existenz in einem unbedeutenden Durchgangsstadium eines sinnlosen Universums führen. Spätestens in vier Milliarden Jahren werde unser Planet den Wärmetod sterben.

Kanitscheider: Dies folgt schon aus dem gut bestätigten Standardmodell der Kosmologie, und die neuesten theoretischen Vorstöße in der Quantengravitation verschärfen diese Diagnose sogar noch. Begründete mathematische Spekulationen deuten darauf hin, dass wir sogar nur in einem von 10.500 Universen leben. Es ist natürlich trotzdem nicht völlig ausgeschlossen, dass wir irgendwann in unserer Galaxie auf irgendwelche anderen intelligenten Lebewesen stoßen.

SZ Wissen: Würde uns die Bekanntschaft mit Marsmännchen weiterbringen?

Kanitscheider: Wahrscheinlich nicht, zumal sie sich womöglich eher für das überaus aufregende Sozialleben der Ameisen auf der Erde als für uns Menschen interessieren würden. Ansonsten hätten extraterrestrische Intelligenzen wahrscheinlich die gleichen Sinnfindungsprobleme wie wir: Der Kosmos schweigt auch für sie.

SZ Wissen: Der französische Physiker und Philosoph Blaise Pascal seufzte deshalb: "Das ewige Schweigen dieser unendlichen Räume macht mich schaudern."

Kanitscheider: Pascal lebte in dieser Umbruchphase, als das endliche, sehr kleine vorkopernikanische Universum endgültig seinen Rand und seine Mitte verlor, und der unendliche Raum sichtbar wurde. Das musste die intellektuelle Welt des 16. Jahrhunderts in der Tat erst einmal emotional verarbeiten.

SZ Wissen: Also noch mal die Frage: Warum also sitzen Sie hier so gut gelaunt?

Kanitscheider: Ich habe akzeptiert, dass man aus dem Kosmos keine Handlungsanweisungen ableiten kann, auch sonst nicht aus der Natur. Wir sind in unserer endlichen Existenz auf uns selber zurückgeworfen. Man ist auf einem Irrweg, wenn man glaubt, dass nur das wirklich bedeutsam ist, was ewig währt. Es stimmt nicht, dass der Tod die einzige bedeutungsvolle Sache im Leben ist.

Wer immer nur auf das Ende des Daseins blickt, nimmt sich die Chance, sein Leben erfüllt zu gestalten. Man kann es auch umgekehrt sehen: Es ist gerade die Sterblichkeit, die ein menschliches Leben kostbar macht. Wenn wir unendlich viel Zeit zur Verfügung hätten, könnten wir jedes Ziel in die unbegrenzte Zukunft verschieben.

SZ Wissen: Wie kann man ohne Gott Ziele für sein Leben finden?

Kanitscheider: Der griechische Philosoph Aristippos von Kyrene hat bereits im fünften Jahrhundert v. Chr. die Denkschule des Hedonismus begründet. Sie geht von der Einsicht aus, dass alle Lebewesen - Menschen und Tiere - Schmerz vermeiden und nach Lust und Freude streben. Diesem Streben sollten wir nachgeben und uns überlegen, wie wir diese Lust steigern können.

Epikur hat diese Ethik verändert und die entscheidende Frage gestellt: Wenn wir das Streben nach Lust als Prinzip setzen, wie können wird darauf eine gedeihliche Sozialstruktur aufbauen, bei der die Interessen aller Menschen vereinbar werden?

Hedonismus bedeutet mehr als Wein, Weib und Gesang. Mehr dazu auf Seite zwei.

"Der Kosmos schweigt uns an"

SZ Wissen: Das postulieren Sie einfach so.

SZ Wissen: Bis 2007 lehrte Bernulf Kanitscheider Philosophie der Naturwissenschaften an der Universität Gießen. Er forschte vor allem über Kosmologie, Wissenschaftstheorie und moderne Physik. In den letzten Jahren publizierte er zu den Möglichkeiten einer naturalistischen Ethik und eines modernen Hedonismus. Vor Kurzem erschien im Hirzel Verlag sein Buch: "Entzauberte Welt. Über den Sinn des Lebens in uns selbst".

Bis 2007 lehrte Bernulf Kanitscheider Philosophie der Naturwissenschaften an der Universität Gießen. Er forschte vor allem über Kosmologie, Wissenschaftstheorie und moderne Physik. In den letzten Jahren publizierte er zu den Möglichkeiten einer naturalistischen Ethik und eines modernen Hedonismus. Vor Kurzem erschien im Hirzel Verlag sein Buch: "Entzauberte Welt. Über den Sinn des Lebens in uns selbst".

(Foto: Foto: Universität Gießen)

Kanitscheider: Es geht gar nicht anders. In keiner und schon gar nicht in einer naturalistischen Ethik kann es Letztbegründungen geben. Die ethischen Grundaxiome müssen als Forderungen gesetzt werden. Natürlich könnten wir auch postulieren, dass die Maximierung des Schmerzes das Ziel des Lebens sein sollte.

Manche christlichen Mönche haben das auch so gehalten, etwa die Anachoreten, die in der Wildnis nach der Abtötung des Fleisches suchten. Aber ich würde mit den Epikureern ganz pragmatisch fragen: Was spricht denn dagegen, dass wir unserem auch biologisch bedingten Streben nach Lust bei der Lebensgestaltung nachgeben?

SZ Wissen: Weil es vielleicht mehr im Leben geben könnte, als nur Spaß zu haben?

Kanitscheider: Das ist ein ebenso häufiger wie falscher Einwand gegen die hedonistische Lebenseinstellung, als ob es in ihr nur um Wein, Weib und Gesang ginge. Welche Glückserfüllung ein Mensch wählt, hängt von seinem Charakter ab. Außerdem gilt auch hier der Grundsatz der Vernunft: Die Lust ist im Hedonismus zwar das höchste Ziel, aber man darf ihr nicht immer folgen. Denn es geht um die Gesamtbilanz der freudvollen Ereignisse im Leben.

Insofern kann es durchaus sinnvoll sein, zeitweise Zurückhaltung zu üben, um später umso mehr Lust zu erfahren. Ebenso falsch ist auch der Vorwurf der Faulheit: Auch der Hedonist muss arbeiten gehen, um das Geld zu verdienen, das er dann wieder in die Objekte seiner Lusterfüllung stecken kann. Wenn er ein Musikliebhaber ist, und die Kammermusik seine Lebenserfüllung darstellt, wird seine Freude vielleicht in einem Steinway-Flügel bestehen, auf dem er dann Mozart-Sonaten spielt.

SZ Wissen: Viele werden sich lieber an den Strand legen und den Wellen zuschauen.

Kanitscheider: Wenn für sie die Inaktivität das höchste der Gefühle darstellt, warum denn nicht? Bereits Aristippos hat erkannt, dass die Natur des Menschen zu verschieden ist, um ihm inhaltliche Vorgaben zu machen. Für Aristoteles war die Erforschung des Weltalls das höchste Ziel des Lebens. Das wird man einem intellektuell weniger interessierten Menschen kaum vermitteln können. Ebenso wird man einen unmusikalischen Menschen nicht zum Geigespielen bringen.

SZ Wissen: Im allgemeinen Verständnis setzt man die hedonistische Lust eher mit dem sexuellen Vergnügen gleich.

Kanitscheider: Diese Einengung ist eine Folge der christlichen Diffamierung des hedonistischen Lebensziels, insbesondere durch die Kirchenväter. Augustinus nannte Epikur ein Schwein und Lüstling, weil dieser auch die Liebe positiv bewertete. Tatsächlich waren Epikur intellektuelles und kulturelles Erleben und die Freude an Kunstwerken genauso wichtig. Aber natürlich ist die Sexualität eine starke, biologisch verankerte Triebkraft und ein Quell großer Freude.

Es ist tragisch, dass unter dem Einfluss des Christentums und der Kirche das natürliche Sexualstreben der Menschen über Jahrhunderte geknebelt worden ist. Die Heftigkeit der Verfolgung ist unter anderem sicher auch durch das biblische Gebot im fünften Buch Mose zu erklären, das Inhumanitäten wie die Hinrichtung von Homosexuellen und Ehebrechern fordert.

SZ Wissen: Es gibt die These, dass die Blütezeit der deutschen Literatur zwischen 1770 und 1830 auf den womöglich auch sexuell bedingten Neurosen von Genies beruht, die sie sich in ihrer Jugendzeit in protestantischen Pfarrhäusern zugezogen haben.

Kanitscheider: Die These halte ich für weit überzogen. Dazu gibt es zu viele Gegenbeispiele. Man denke etwa an Robert Schumann, der künstlerisch aufblühte und in kurzer Zeit seine "Frühlingssinfonie" schrieb, nachdem er endlich seine Clara heiraten durfte und eine erfüllte sexuelle Beziehung mit ihr führte. Auch Mozart war ein sehr triebhafter Mensch, der gelebte Sexualität mit hoher Kreativität verband.

Etwas überpointiert formuliert, könnte man eher eine Geburt der Kultur aus dem Geist der Refraktärphase konstatieren, denn die Befreiung von sexuellen Spannungen gibt dem Geist seine ihm gemäße Kraft. Sexualunterdrückung ist nicht nötig, um Kulturgüter zu schaffen. Das zeigte sich bereits in der Antike.

SZ Wissen: Inwiefern?

Kanitscheider: Die meisten griechischen Philosophen hatten ein reiches Sexualleben, sogar der in seiner Spätzeit lustskeptische Platon. Der aristokratische Grieche pflegte in aller Regel erotische Kontakte mit seiner Frau, mit Knaben, manchmal auch mit anderen Männern und vor allem mit Hetären: schönen, unverheirateten Frauen, die ihr Geld auch als Liebhaberinnen verdienten und dennoch gesellschaftlich hoch geachtet waren. Im antiken Griechenland gab es eigentlich überhaupt keine explizite Sexualmoral. Die einzige Regel war: Tue nichts im Übermaß.

Warum man den Menschen nicht einfach eine Ethik überstülpen kann, erläutert Kanitscheider auf Seite drei.

"Der Kosmos schweigt uns an"

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SZ Wissen: Sollten wir etwa wieder ein Hetärenwesen in Deutschland aufbauen?

Kanitscheider: Es gibt immer wieder Ansätze, die Prostitution aus der Rotlichtecke zu holen. In der Renaissance gab es den Versuch, mit den Kurtisanen das Hetärenwesen wiederzubeleben, selbst am päpstlichen Hof arbeiteten zahlreiche Kurtisanen. Doch dann wurde es unter dem Einfluss der lutherschen Moralkritik wieder weitgehend verboten. Und man kann so ein System natürlich nicht einfach installieren. Ein erster Schritt wäre vielleicht, dass der Staat die Bordelle übernimmt, vor allem um das Zuhälterwesen auszuschalten.

SZ Wissen: Was können wir sonst noch von den Griechen lernen?

Kanitscheider: Das Gleiche wie von der modernen Evolutionspsychologie: Wir Menschen sind keine kodierungsfreien Systeme, denen man aufgrund irgendwelcher theoretischer Überlegungen eine Ethik einfach überstülpen kann. Die meisten unserer Wünsche haben einen abstammungsgeschichtlichen Hintergrund und sind in den emotiven Zentren unseres Gehirns verankert, weil sie gewisse Überlebensvorteile brachten.

SZ Wissen: Was heißt das für unser Liebesleben?

Kanitscheider: Das heißt zum Beispiel, dass die Idee einer stabilen monogamen Beziehung zwischen Mann und Frau über viele Jahrzehnte hinweg in aller Regel der Natur widerspricht. Das zeigt sich darin, dass die serielle Monogamie mittlerweile die übliche Beziehungsform im Westen ist, seitdem die gesellschaftlichen und religiösen Restriktionen weggefallen sind. Ich halte die Idee einer offenen Ehe, die beiden Partnern erotische Freiheiten lässt, für eine bessere Lösung als eine ewige Zwangsgemeinschaft.

SZ Wissen: In der 68er-Generation wurde nicht sonderlich erfolgreich mit der freien Liebe experimentiert.

Kanitscheider: Das Problem bei den sexuell offenen Kommunen der 68er war, dass die Männer nicht einmal mehr wussten, wer welche Kinder gezeugt hatte. Niemand investiert gern viel Geld und Lebenszeit in fremde Gene.

SZ Wissen: Nun unterscheiden sich die Geschlechter in ihrer Sexualität?

Kanitscheider: Männer und Frauen haben in der Tat nicht ganz die gleichen Fortpflanzungsinteressen. Männer produzieren viele Spermien und können sie leicht verteilen. Sie sind deshalb tendenziell promisker. Frauen produzieren wenige Eizellen, haben eine lange Schwangerschaft und kümmern sich um die Säuglinge; sie sind deshalb vorsichtiger bei der Partnerwahl - obwohl auch sie das Potenzial zum Seitensprung haben, wenn sich ein paar gute Gene einfangen lassen. Da muss man einfach Kompromisse finden.

Auf Seite vier: Warum Kanitscheider Drogenkonsum nicht für verwerflicher hält als die Besteigung der Matterhorn-Nordwand.

"Der Kosmos schweigt uns an"

SZ Wissen: Was halten Sie von der Luststeigerung mit der Hilfe psychogener Substanzen?

Kanitscheider: Ich rate zur Vorsicht. Zwar können Drogen Lust verschaffen, aber zum hedonistischen Prinzip gehört auch, dass man auf seinen Körper achtet. Ich sage immer: Behandelt euren Körper wie eine biologische Stradivari. Spielt mit ihr, holt alle Lust aus ihr, aber zerstört sie nicht!

Allerdings denke ich, dass jeder Mensch das für sich selbst entscheiden muss. Wenn jemand der Ansicht ist, dass er für lustvolle Drogenerlebnisse eine Verkürzung der Lebenszeit in Kauf nimmt, sollte er das tun dürfen. Der Staat verbietet ja auch niemandem, dass er die Matterhorn-Nordwand im Winter durchsteigt.

SZ Wissen: Und wenn es eine gesundheitlich unbedenkliche Glücksdroge gäbe?

Kanitscheider: Ich hätte ein bisschen Sorge, dass Menschen in solche Drogen flüchten, um der Realität und der Arbeitswelt zu entfliehen. Wenn jemand die Kontrolle behält, hätte ich wenig dagegen einzuwenden. Natürlich bestünde die Gefahr einer psychischen Abhängigkeit, aber Sex macht auch süchtig. Ich wäre bereits jetzt für die Freigabe von LSD etwa in Altenund Pflegeheimen, wo viele Menschen keine Möglichkeiten mehr haben, auf die üblichen Weisen Freude zu erleben.

SZ Wissen: Ist in Ihrer Ethik etwa alles erlaubt?

Kanitscheider: Eben nicht, weil auf die empirische Natur des Menschen Rücksicht genommen werden muss, und die ist nicht beliebig. Zudem auch, weil es ja um das größtmögliche Glück für die größte Zahl geht oder um das geringste Leid für die Gesamtheit. Es wäre umgekehrt schrecklich, wenn unsere Ethik davon abhängen würde, dass Gott existiert. Dann würde bei jedem Zweifel am metaphysischen Überbau auch die Ethik brüchig.

Eine naturalistische Ethik dagegen ist kompatibel mit den Eigeninteressen der Menschen, sie ist spieltheoretisch begründbar und hat wahrscheinlich auch Grundlagen in der Natur des Menschen. Ich finde es seltsamer, wenn man seinen Nachbarn nur deshalb nicht bestiehlt, weil das so in den zehn Geboten der Bibel steht. Viel einsichtiger wird diese Regel, wenn man verstanden hat, dass ohne Diebstahl jeder besser lebt.

SZ Wissen: Immerhin deutet manche Studie darauf hin, dass Gläubige häufig eine hohe Lebenszufriedenheit haben.

Kanitscheider: Wenn sie einen festen Glauben haben, mag das manchmal so sein. Fatal wäre es allerdings, wenn jemand streng nach dem lustfeindlichen Katechismus der katholischen Kirche lebt, irgendwann vom Glauben abfällt und zu spät erkennt, was ihm an Lebensfreude entgangen ist.

SZ Wissen: Kann es Menschen nicht auch überfordern, dauernd glücklich zu sein?

Kanitscheider: Hedonismus ist doch kein Leistungssport, bei dem alle immer lächeln müssen. Das Ziel ist nur, dass man mit seiner emotionalen Gesamtbilanz zufrieden ist. Ich stelle mir vor, dass ich im Alter vor meinem Haus in der Sonne sitze und mir sage: Ich habe nichts wirklich Unsinniges gemacht, ich habe meine Potenziale genutzt, ich habe ein gelungenes Leben gelebt.

SZ Wissen: Das klingt fast zu idyllisch.

Kanitscheider: Es kann natürlich immer die Kontingenz des Universums dazwischenkommen, sei es eine Krankheit oder ein Unfall. Deshalb plädiere ich dafür, rechtzeitig mit einem freudvollen Leben zu beginnen, wie es Epikur vor 2400 Jahren gelehrt hat.

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