Super-GAU in Fukushima-1:"Es wird verschwiegen, vertuscht und beschönigt"

Tschernobyl, Deepwater Horizon und Fukushima-1 - sind solche Katstrophen der Preis, den wir für unseren Lebensstil zahlen müssen? Vieles hätte man vermeiden können, sagt der Risikoforscher Klaus Heilmann. Aber die Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft belügen uns lieber, als das einzugestehen.

Markus C. Schulte von Drach

Klaus Heilmann war Professor für Medizin an der TU München. Als Risikoforscher hat er zahlreiche Unternehmen, Verbände und Organisationen in Kommunikationsfragen beraten, darunter die deutsche Energiewirtschaft nach dem Reaktorunfall in Tschernobyl und die deutsche chemische Industrie nach der Verseuchung des Rheines nach dem Brand in Schweizerhalle (Basel). In seinem jüngsten Buch "Die Risikolüge. Warum wir nicht alles glauben dürfen" hat sich Klaus Heilmann damit beschäftigt, wie die Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft mit Katastrophen umgehen, die mit Großtechnologien zusammenhängen.

Fukushima Daiichi nuclear power station

Besuch in Fukushima-1. Nach dem Super-GAU von Tschernobyl hatte man genug über die Kernkraft gelernt, um zu wissen, dass die Technik zu riskant ist, sagt Klaus Heilmann.

(Foto: dpa)

Süddeutsche.de: Sie haben in Ihrem Buch "Die Risikolüge" aufgezeigt, wie es zu furchtbaren Katastrophen wie Tschernobyl, dem Chemieunfall 1984 im indischen Bhopal mit tausenden Toten, der Explosion der Bohrinsel Deepwater Horizon im Golf von Mexiko 2010 und vor einem Jahr dem Super-GAU von Fukushima-1 gekommen ist. Sind solche Ereignisse der Preis, den wir zu zahlen bereit sein müssen für unseren Lebensstil? Oder wären solche Katastrophen vermeidbar?

Klaus Heilmann: Sie sind nicht prinzipiell vermeidbar. Das liegt im Wesentlichen jedoch nicht an technischen Problemen, sondern an der kriminellen Energie der Verantwortlichen. Das würde ich für alle diese großen Katastrophen der vergangenen Jahrzehnte sagen. Wir kennen inzwischen Einzelheiten darüber, was die Verantwortlichen gewusst und getan haben, was sie hätten tun können oder tun müssen. Vieles hätte vermieden werden können, man hätte die Auswirkungen begrenzen können. Aber die Menschen wurden belogen von den Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft. Und es wird weiterhin verschwiegen, vertuscht und beschönigt.

Süddeutsche.de: Haben die Verantwortlichen keine Skrupel oder kein Gewissen? Oder meinen die tatsächlich vorher, ihre Anlagen seien sicher?

Heilmann: Vor einer Katastrophe sagen Betreiber und Politiker immer, ihre Anlagen seien sicher, weil ja auch die Kontrollbehörden, die diese Anlagen abnehmen, das bestätigen. Aber wir wissen ja zum Beispiel aus Japan, dass im Zusammenhang mit den Atomanlagen Dokumente gefälscht wurden. Der Betreiber hat die Regierung belogen, die Regierung hat etwas genehmigt, das nicht hätte genehmigt werden dürfen - beide waren in der Sache Komplizen.

Oder denken Sie an die Nuklearkatastrophe von Sellafield in Großbritannien 1957. Die Bevölkerung wurde erst informiert, nachdem der Brand in der Anlage gelöscht war. Erst nach 30 Jahren wurde überhaupt offiziell zugegeben, dass es in dem Kernkraftwerk gebrannt hat. Und nach dem Super-GAU in Japan gab es in Großbritannien eine Diskussion zwischen der Regierung und den Reaktorbetreibern mit dem Ergebnis, dass die Situation heruntergespielt werden sollte. Man wollte nicht, dass die Akzeptanz der Briten für die Kernkraft gestört wird. Man macht also das gleiche Spiel wieder. Man hat dort nichts gelernt, gar nichts.

Süddeutsche.de: Der Super-GAU von Fukushima-1 war der zweite innerhalb von 25 Jahren. War die Situation in Japan so anders als in der Ukraine 1986, dass man nichts aus Tschernobyl lernen konnte?

Heilmann: Nein. Man hätte alles, was wir in Japan gesehen haben, schon aus Tschernobyl lernen können. Das ist ja das Deprimierende. Unser Leben besteht aus lauter Experimenten und bei vielen geht etwas schief. Das ist ganz normal, und wir können und müssen aus jedem Fehler lernen. Aber es sollte reichen, einen Fehler einmal zu machen. Auch die Nutzung der Kernenergie gehört zu diesen Experimenten, aber schon nach Tschernobyl hatte sich gezeigt: Die Folgen einer nuklearen Katastrophe sind so dramatisch und anhaltend, dass nichts es rechtfertigt, derartige Experimente fortzuführen. Der Nutzen für die Gegenwart rechtfertigt nicht den Schaden für die Zukunft.

Süddeutsche.de: Nach Tschernobyl hieß es doch, dass so etwas wie dort in modernen Atomkraftwerken nicht passieren könnte. Und in Japan kam es - anders als in der Ukraine, zu einem schweren Erdbeben und einem Tsunami.

Heilmann: Manche Ingenieure sagen auch jetzt wieder, sie könnten alles noch sicherer machen. Aber das Restrisiko, und das sind der Mensch in seiner Unzulänglichkeit und einige Betreiber und Politiker mit ihrer kriminellen Energie, an dem ändern wir gar nichts. Angesichts der dramatischen Folgen ist Atomkraft die einzige Technologie, von der ich definitiv sagen würde: Davon müssen wir die Finger lassen.

Süddeutsche.de: Deutschland hat seine Lektion gelernt. Die Regierung unter Bundeskanzlerin Angela Merkel steigt aus der Atomenergie aus.

Heilmann: Merkel war für den Ausstieg, weil sie sicher sein konnte, dass die Bevölkerung das zum großen Teil wollte. Sie ist einem politischen Kalkül gefolgt, und nicht weil sie an die Sicherheit der Menschen gedacht hat, sondern an das eigene politische Überleben. Und sie hat ja auch nicht die Wahrheit gesagt, wenn es um die Konsequenzen des Ausstiegs geht. Sie hätte sagen müssen, dass wir für eine bestimmte Zeit stärker auf Energieträger angewiesen sind, die auch Schaden an der Umwelt anrichten, etwa Braunkohle, dass wir auch abhängig werden können von andern Staaten. So sollte man mit Sicherheitsfragen, die die gesamte Nation betreffen, einfach nicht umgehen.

Welche Verantwortung tragen die Verbraucher?

Süddeutsche.de: Sind nicht auch wir Verbraucher und Wähler mitverantwortlich? Schließlich lassen wir uns das gefallen und handeln selbst häufig unverantwortlich.

Klaus Heilmann

"Die Situationen, die zu Unglücken führen, entstehen auch durch unsere Maßlosigkeit", sagt der Risikoforscher Klaus Heilmann.

(Foto: privat)

Heilmann: Es gibt freiwillige Risiken, denen wir uns selbst aussetzen. Das sind die allermeisten Risiken des täglichen Lebens, vom Rauchen über häusliche Unfälle bis zum Straßenverkehr. Aber es gibt auch Risiken, wie die in der Energiegewinnung, für die die Hauptverantwortung bei den Unternehmen und den Politikern liegt. Und über die erfahren wir nicht die Wahrheit. Die Moral der Verantwortlichen ist da leider sehr, sehr schlecht. Dabei haben Untersuchungen gezeigt, dass Menschen in einem hochtechnisierten Land, wie beispielsweise Deutschland, durchaus verstehen, dass man Fortschritt nicht haben kann, ohne einen gewissen Preis für ihn zu zahlen.

Süddeutsche.de: Also wären wir bereit, Katastrophen als Preis für unseren Lebensstil in Kauf zu nehmen, wenn wir nur ehrlich und umfassend darüber informiert würden?

Heilmann: Wenn die Vorteile für alle groß genug sind - nicht nur für die Unternehmen -, dann sind wir bereit, ein bestimmtes Risiko einzugehen. Aber wir wollen keinen Sand in die Augen gestreut bekommen. Wir wollen die ganze Wahrheit auf dem Tisch haben. Dann können wir entscheiden, ob uns ein Risiko für einen bestimmten Fortschritt zu groß oder akzeptabel ist.

Süddeutsche.de: Wir sind also nicht mitverantwortlich, sondern nur hinters Licht geführt worden?

Heilmann: Keinesfalls. Die Situationen, die zu Unglücken führen, entstehen auch durch unsere Maßlosigkeit. Wir wollen immer mehr, alles soll besser werden, aber wir wollen keinen höheren Preis dafür zahlen. Im Gegenteil, alles soll billiger werden. Denken Sie an günstige Flugreisen oder Ferien auf Kreuzfahrtschiffen. Glaubt der Verbraucher wirklich, dass sich die günstigen Preise durch das Einsparen einer Tasse Kaffee an Bord eines Flugzeugs erklären lassen? Das läuft doch auf eine Reduzierung der Sicherheit hinaus. Deshalb werden auch in Zukunft Flugzeuge vom Himmel fallen, werden weitere Fähren untergehen, wird es zu weiteren Industrie-Katastrophen kommen. Damit Preise möglich werden, die die Konsumenten zu zahlen bereit sind.

Süddeutsche.de: Nach einer Katastrophe wie in Fukushima-1 geht man davon aus, dass sich jemand dafür verantworten müsste. Aber man hat nicht den Eindruck, dass zum Beispiel jetzt in Japan die Betreiber des Atomkraftwerks und die Regierung wirklich zur Rechenschaft gezogen werden. Und das gilt für viele Katastrophen der Vergangenheit. Wie kann das sein?

Heilmann: Das frage ich mich auch. Nehmen Sie die Ölkatastrophe im Golf von Mexiko. Das ist wie bei der Finanzkrise. Da fahren Leute den Karren in den Dreck und am Schluss kommen sie auch noch mit unvorstellbar hohen Boni aus der Sache heraus. Das ist schon merkwürdig.

Süddeutsche.de: Wäre es dann nicht Sache des Wählers oder Verbrauchers, den Verantwortlichen die Quittung zu präsentieren?

Heilmann: Das wäre es, ist aber nicht immer ganz einfach. Aber natürlich kann man Parteien und Politikern zum Beispiel die Stimme verweigern. Oder denken Sie an Seveso 1976. Die Chemiefabrik dort, aus der die Giftstoffe ausgetreten waren, wurde von einer Firma betrieben, die zu Hoffmann - La Roche gehörte: Damals haben viele Menschen deren Produkte nicht mehr gekauft oder sich Medikamente einer anderen Firma verschreiben lassen. Damit haben sie ein Signal gesetzt. Wenn die Verbraucher so Widerstand leisten, geht schon etwas. Aber im Falle des Ausstiegs aus der Kernenergie und den mit ihm verbundenen Problemen, zum Beispiel der zunehmenden CO2-Belastung, würde es ja schon etwas bringen, wenn wir alle Strom sparen und weniger Auto fahren würden.

Süddeutsche.de: Das also ist letztlich die Lehre, die wir aus den Katastrophen ziehen müssen? Konsumverzicht zur Risikominimierung?

Heilmann: Es ist auch eine Änderung unserer Mentalität in Bezug auf Konsum und Wahlverhalten notwendig. Und es gibt Anzeichen dafür, dass sich da zunehmend etwas tut. Schauen Sie auf die Occupy-Bewegung, die große Aufmerksamkeit erzielt. Das Internet und die sozialen Netzwerke wie Facebook bieten Möglichkeiten, sich zusammenzutun und Druck auf die Verantwortlichen auszuüben. Das bedeutet allerdings auch eine gewisse Kampfbereitschaft.

Süddeutsche.de: Auf der anderen Seite vergessen wir Katastrophen, die uns nicht direkt betroffen haben, schnell wieder.

Heilmann: Ja, es ist schon auffällig, dass zum Beispiel das Interesse an Fukushima-1 in Deutschland nur noch minimal ist. Die Menschen denken: wir sind ausgestiegen, haben also alles getan. Das ist erschütternd, wenn man daran denkt, welche Konsequenzen der Super-GAU für die Menschen in der Region hat.

Süddeutsche.de: Was lernen wir daraus?

Heilmann: Zum menschlichen Charakter gehört das Verdrängen. Und das ist auch wichtig. Wir könnten ja kaum leben, wenn wir ständig an alle möglichen Risiken denken. Wenn man in einen Lift steigt, denkt man zum Glück nicht daran, dass das Seil tatsächlich reißen könnte. Das ist sinnvoll. Aber in Bezug auf die furchtbaren Katastrophen sollten wir das Verdrängen bewusst vermeiden. Leider haben wir das bislang noch nicht gelernt.

Klaus Heilmann, Die Risikolüge - Warum wir nicht alles glauben dürfen, Heyne Taschenbuch, 160 Seiten, ISBN: 978-3-453-60245-8, € 8,99

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