Sucht und Sinn:Doping für den Alltag

Medikamente, Alkohol oder verbotene Stoffe - ohne Doping scheinen wir unseren Alltag nicht mehr bewältigen zu können. Suchtforscher Peter Raschke erklärt im SZ-Wissen warum.

H. Fuß

SZ Wissen: Herr Professor Raschke, können Sie sich eine Gesellschaft ohne Drogenkonsum vorstellen?

Sucht und Sinn: Mal wach, mal ruhig: Mit Pillen und anderen Drogen lassen sich Gehirn und Körper in die gewünschte Richtung stimulieren.

Mal wach, mal ruhig: Mit Pillen und anderen Drogen lassen sich Gehirn und Körper in die gewünschte Richtung stimulieren.

(Foto: Foto: iStock)

Peter Raschke: Nein. Eine rauschfreie Gesellschaft ist ein Mythos.

SZ Wissen: Warum?

Raschke: Wir Menschen haben unseren Alltag schon immer mit Drogen bewältigt. Dies können wir überall in der Kulturgeschichte beobachten. Auch heute brauchen große Teile der Bevölkerung in Deutschland Hilfsmittel, um sich zurechtzufinden, gegenwärtig vielleicht noch dringender als früher.

SZ Wissen: Offenbar scheint der Stress in unserer Gesellschaft immer mehr zuzunehmen. In ihrem Gesundheitsreport 2009 berichtet die Deutschen Angestellten Krankenkasse, dass zwei Millionen Deutsche schon einmal Psychopharmaka geschluckt haben, um ihre Leistungsfähigkeit am Arbeitsplatz zu steigern. 800.000 Menschen tun es angeblich sogar regelmäßig.

Raschke: Ich würde dennoch nicht sagen, dass der Drogenkonsum insgesamt gestiegen ist. Beim Konsum von Alkohol und Tabak etwa hat sich relativ wenig geändert. Zwar hat die Zahl der Raucher abgenommen, nicht jedoch die Anzahl verkaufter Zigaretten. Man könnte meinen, diejenigen, die noch rauchen, tun dies stellvertretend für jene mit, die aufgehört haben.

Bei Jugendlichen spielen ohnehin noch andere Motive mit. Die wollen erwachsen werden und greifen deshalb zur Zigarette. Viele hören wieder auf, wenn diese Entwicklungsphase vorüber ist. Einen bedenklichen Trend finde ich die Auflösung von überlieferten Konsumgemeinschaften, wie zum Beispiel dem geselligen Trinken, bei dem zumindest eine gewisse soziale Kontrolle gewährleistet ist.

SZ Wissen: Aber das Angebot an Substanzen ist in den vergangenen Jahren drastisch gewachsen, auch im legalen Bereich.

Raschke: Ja, es gibt mittlerweile zahlreiche Beruhigungs- und Aufputschmittel, Antidepressiva gegen die Traurigkeit, Ritalin zum Ruhigwerden, Modafinil für dauernde Wachheit, Präparate für die geistige und körperliche Fitness, Pillen gegen die Schüchternheit.

Und das alles lässt sich auf einfachste Weise konsumieren: Man muss nicht mehr mühselig viele Flaschen Bier trinken, bis man zugedröhnt ist, oder Zigaretten in Kette rauchen, sondern braucht bloß eine Pille zu schlucken, und schon hat man ein Stückchen Glückseligkeit erlangt.

SZ Wissen: Ein solches kleines Glück verheißt sogar ein gewöhnlicher Trinkjoghurt, der laut Hersteller das körpereigene Immunsystem ertüchtigen soll. In einem TV-Werbespot gesteht eine junge Frau: Meine Schwäche: eine Woche in einen Tag zu packen!" Dann wirbelt sie wohlgelaunt von Termin zu Termin, schlürft ihren Joghurtdrink und verkündet: "Perfekt für alle, die viel vorhaben!" Verwenden wir jetzt bereits Joghurtkulturen als Koks für den Darm?

Raschke: Natürlich ist das lachhaft, wobei der Konsum eines solchen Joghurts wahrscheinlich gesund, also nicht verwerflich ist. Aber eine solche Reklame drückt eben auch die Sehnsucht vieler Leute aus, die ihr Leben auf die Reihe bringen wollen ...

SZ Wissen: ... es aber allein ganz einfach nicht schaffen?

Raschke: Genau. Gerade weil wir so viele Möglichkeiten haben, packen wir sie uns auch auf. Hinzu kommt die Auflösung unserer gewohnten Tagesstrukturen im Sog steigender Rationalität und ökonomischer Effizienz. Wir können eben nicht mehr im Firmenbüro sitzen und ein bisschen dösen. Man schätzt ja, dass bis zu 40 Prozent der herkömmlichen Bürozeiten aus Plaudereien zwischen Kollegen besteht.

Gerade weil unsere Arbeitsstruktur weniger von außen diktiert wird, müssen wir sie uns selbst verordnen. Das schafft einen gewaltigen inneren Leistungsdruck. Also werden Kompensationen notwendig, die aber funktional sein müssen. Wir können nicht einfach Alkohol trinken, denn der vermindert die Leistungsfähigkeit und man versackt.

Alkohol ist eine Droge für den Abend, um sich vom Stress zu entspannen. Aber eine Pille kann eventuell helfen, über gewisse Tiefpunkte hinwegzukommen und punktgenau leistungsfähig zu sein. Sonst bleibt nur noch der Tabak, der ebenfalls hochfunktional ist, weil er entstresst und man gleichzeitig noch arbeiten kann.

Doping für die Freizeit

SZ Wissen: Ein ähnliches Leistungsprinzip wie in der Arbeit regiert zunehmend auch den Freizeitbereich.

Sucht und Sinn: Der Dalai Lama symbolisiert: Es geht auch ohne Drogen.

Der Dalai Lama symbolisiert: Es geht auch ohne Drogen.

(Foto: Foto: dpa)

Raschke: Das ist richtig. Früher hatte man einfach einen langen Arbeitstag und war froh, über die Runden zu kommen. Heutzutage haben wir einen langen Feierabend, freie Wochenenden und die Ferien, die uns immerzu die Idee vermitteln: Ich muss hier etwas machen! Wir können natürlich sinnvolle Dinge tun und Rad fahren, musizieren, uns sozial engagieren - wir können uns aber auch ins Partyleben stürzen oder irgendwelche Adrenalinsportarten ausüben.

Die Loveparade ist ein schönes Beispiel: Das ist eine Zwangsveranstaltung, um glücklich zu sein. Deswegen werden dort auch so viele Pillen konsumiert. Die gehören selbstverständlich dazu, damit man zum richtigen Zeitpunkt richtig gut drauf ist ...

SZ Wissen: ... und den Abtanz-Marathon überhaupt körperlich durchsteht.

Raschke: Sehen Sie, genau darauf beruht Alltagsdoping: auf der Zwangsidee, zu einem bestimmten Zeitpunkt einen genau definierten Zustand erreicht haben zu müssen. Die Frage ist, wie die Menschen mit diesen selbst gesetzten Zwängen umgehen.Die einen brauchen eben mehr Unterstützung durch Substanzen wie Drogen oder Medikamente. Andere machen Yoga, Meditation oder andere kluge Dinge.

SZ Wissen: Wollen Sie damit andeuten, dass buddhistische Psychologie ein Ausweg sein könnte?

Raschke: Vielleicht. Ich habe mir mal überlegt, warum der Dalai Lama eine solche Begeisterung bei vielen Menschen auslöst. Das liegt nicht allein an Tibet oder seiner Persönlichkeit. Entscheidend ist, so vermute ich, dass er vorführt, wie man glücklich sein kann ohne Hilfsmittel.

Er ruht in sich, ist freundlich, ist spirituell, trinkt keinen Alkohol und er nimmt, wie ich annehme, auch keine Pillen. Er symbolisiert: Es geht auch ohne! Damit verkörpert er eine Lebenshaltung, nach der sich viele Menschen sehnen.

SZ Wissen: Warum geben nicht mehr Menschen dieser Sehnsucht nach und meditieren, statt Beruhigungsmittel einzuwerfen? Ich würde auch gern meditieren, tue es aber nicht.

Raschke: Ich meditiere auch nicht.

SZ Wissen: Aber warum?

Raschke: Schwer zu sagen. Wir sind eben keine Tibeter, für die das Meditieren zum Alltagsleben gehört. Unsere Lebensgewohnheiten sind anders strukturiert. Wir haben andere sozialpsychologische Voraussetzungen, die aus unserer religiösen Vergangenheit herrühren.

Gerade hier in Hamburg sind wir geprägt von der protestantischen Ethik, die uns Fleiß und Pflichterfüllung abverlangt. Allerdings lösen diese Normen sich gerade auf, weil die übersteigerte Arbeitsdisziplin des 19. und auch des 20. Jahrhunderts gar nicht mehr zur heutigen Produktionsweise passt. Deshalb muss der gesellschaftliche Konsens neu definiert werden.

SZ Wissen: Ist Alltagsdoping auch der Ausdruck einer kollektiven Sinnkrise?

Raschke: Ja, sicher. Zu definieren, was Glück bedeutet, ist einerseits eine individuelle Leistung. Auf der anderen Seite ist es die Gesellschaft, die eine Glückssuche befördert und auch begrenzt. Darum kann es sein, dass man seiner eigenen Glückssuche mit Drogen nachhilft.

SZ Wissen: Eine Krise gab es auch in den Sechzigerjahren, als die 68er-Generation gegen den Muff der Adenauer-Republik rebellierte. Damals wurden Drogen konsumiert zur Bewusstseinsveränderung, und Kiffen galt als Gesellschaftskritik.

Raschke: Ja, das war so. Aber seit Anfang der Neunzigerjahre gibt es keine Utopien mehr, auch keine, die sich im Drogenkonsum manifestieren. Die Studierenden setzen auf ihre Ausbildungskarriere. Sie richten sich ein. Heute nimmt man Drogen, um zu funktionieren.

SZ Wissen: Ist die Funktionstüchtigkeit auch der Grund, weshalb das Alltagsdoping in Form von Aufputsch- und Beruhigungsmitteln nicht unter das Betäubungsmittelgesetz fällt?

Raschke: Ja, es geht immer um die Frage der gesellschaftlichen Funktionalität.Obwohl wir mehr als 40 000 Alkoholtote im Jahr haben, die Folgewirkungen durch Autounfälle, Aggressivität und Krankheiten enorm hoch sind, bleibt diese Droge erlaubt. Denn Bier und Schnaps sind wunderbare Mittel, um diese Arbeitswelt auszuhalten.

Auch Rauchen ist nicht verboten, obwohl es allein in Deutschland etwa 140.000 Tote pro Jahr gibt, etwa durch Lungenkrebs. Bei Cannabis dagegen haben wir weltweit keinen einzigen Toten. Dennoch ist es verboten. Aber Drogengesetze waren schon immer hochgradig irrational: In der Türkei war zeitweise sogar das Kaffeetrinken verboten und mit der Todesstrafe belegt.

Ziele statt Drogengebrauch

SZ Wissen: Können illegale Drogen die gesellschaftliche Funktionalität stören?

Raschke: Sie spielen eher die Rolle des Sündenbocks: Man braucht etwas zum Verbieten. Bei Heroin ist das sogar nachvollziehbar. Durch Freigabe dieser Droge würde die Gefahr tödlicher Dosierung wachsen, also besteht das Verbot zu Recht. Das Verbot von Cannabis resultiert nicht aus der tödlichen Bedrohung, sondern ist immer noch stark verbunden mit dem Bild der rebellischen Jugend.

Die gesellschaftliche Funktionalität wird durch diese Drogen in keiner Weise infrage gestellt. Die Gruppe der Opiatkonsumenten ist sehr klein, und ob sie arbeitet oder nicht, ist aus gesellschaftlicher Sicht unwichtig. Die ungleich größere Gruppe der Cannabiskonsumenten praktiziert ihren Gebrauch in einer relativ kurzen Phase als Heranwachsende.

Auch hier sind die ökonomischen Auswirkungen irrelevant. Also sind beide Gruppen hervorragende Sündenböcke für die Hauptverursacher von Schäden - Alkohol, Nikotin und die einschlägigen Medikamente.

SZ Wissen: Hat die Dauerberieselung aus elektronischen Medien Ihrer Ansicht nach eigentlich auch Drogencharakter?

Raschke: Gewiss. Als Wissenschaftler kann ich nur nicht genau abschätzen, was es bewirkt. In jedem Fall bin ich aber dafür, den Zugang etwa zu Killerspielen altersgemäß zu begrenzen, zu erschweren und Eltern über die Risiken aufzuklären. Aber ähnlich wie bei Drogen sollte man sich keiner Illusion hingeben, dass durch das Verbot allein etwas vermieden werden kann. Es geht eher um Einsicht der Betroffenen.

SZ Wissen: Worin liegt die Gefahr?

Raschke: Das Nachdenken und die Selbstfindung der jungen Menschen ist durch diese fiktiven Welten mehr denn je erschwert. Die jungen Leute finden sich oft sehr gut zurecht in der äußeren Welt. Aber in ihrer inneren Welt häufig nicht so sehr.

SZ Wissen: Sehen Sie Auswege, um aus dieser Verunsicherung herauszukommen?

Raschke: Die Verunsicherung betrifft nicht nur die jungen Menschen, sondern uns alle. Es gibt eine extreme Spannung zwischen innen und außen. Es ist der aus der jeweiligen Perspektive unterschiedlich wahrgenommene Streit: Was bin ich? Und was sollte sein? Dieser Streit ist sehr dynamisch und drogenträchtig.

SZ Wissen: Wie sollte die Gesellschaft mit Drogen denn umgehen?

Raschke: Ich denke, zu spürbaren Veränderungen wird es erst kommen, wenn wir an die Grenzen des Bisherigen stoßen. Wenn wir nicht mehr so weiterwirtschaften können, wenn die ökologischen Schwierigkeiten nicht mehr ignoriert werden können, wenn die sozialen Gegensätze unerträglich werden.

Erst dann wird es auch zu individuellen Verhaltensänderungen im Alltag kommen. Solange wir uns einen Hilfsapparat leisten können, der die Opfer unseres Lebensstils einigermaßen auffängt, wird es zu keiner Krise kommen. Dann wird es erst mal so weiterlaufen wie bisher.

SZ Wissen: Was soll der Einzelne tun?

Raschke: Man kann sich Ziele suchen, die über das Individuelle hinausgehen, die aber für den Einzelnen durchaus existenziell bedeutsam sind. Man könnte sich gegen die Klimaerwärmung engagieren oder sich mit dem wahnsinnigen Reichtumsgefälle zwischen Nord und Süd beschäftigen.

Dafür würde es sich lohnen, sich einzusetzen, was ja auch in vielen NGOs, den Nicht-Regierungs-Organisationen, bereits geschieht. Es wäre eine Alternative zu dieser Entpolitisierung des öffentlichen Lebens, die der Philosoph Jürgen Habermas einmal den "familiär-beruflichen Privatismus" genannt hat.

Es tut einem selbst nicht gut, wenn man sich ausschließlich auf seine Familie, seinen Beruf und die engste Umgebung konzentriert und denkt - der Rest geht mich nichts an! Kein Mensch sollte auf Ziele verzichten, die auch die Gemeinschaft im Blick haben.

Peter Raschke, Jg. 1941, ist Emeritus für Politologie an der Universität Hamburg und stellvertretender Direktor des Zentrums für interdisziplinäre Suchtforschung am Universitätsklinikum Eppendorf in Hamburg.

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