Streit um das US-Raketenschild:Zu langsam und am falschen Ort

Amerika will sich bei der Raketenabwehr nicht auf eine russische Radarstation verlassen. Aus gutem Grund: Die Anlage würde iranische Angriffe zu spät melden. Doch das US-Schild hat noch andere Löcher.

Hubertus Breuer

Der russische Präsident Wladimir Putin schätzt diplomatische Winkelzüge. Wochenlang hatte er vor dem G-8-Gipfel in Heiligendamm den von den USA geplanten, gegen Staaten wie Nordkorea und Iran gerichteten Raketenabwehrschild scharf kritisiert.

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(Foto: Grafik: SZ)

Dann überraschte er die Welt und offenbar auch die Amerikaner bei der Konferenz mit einem scheinbar versöhnlichen Vorschlag. Statt eine Radarstation in Tschechien zu installieren, solle das US-Militär eine von Russland kontrollierte Anlage in Aserbaidschan mitbenutzen.

Und als Standorte für die Abfangraketen böten sich die Türkei, das Mittelmeer oder gar der Irak doch viel eher an als Polen.

Kommentatoren werteten das Angebot als geschickten Schachzug, mit dem sich Russland flexibel zeigte und Amerika in Zugzwang brachte. Vor wenigen Tagen hat der US-Verteidigungsminister Robert Gates jedoch klargestellt, sein Land wolle an den ursprünglichen Plänen festhalten. Er könne sich aber vorstellen, die Anlage in Aserbaidschan "ergänzend" zu nutzen. Amerikanische Experten würden das jetzt analysieren.

Ob Gates' militärtechnische Argumente genügen werden, den politischen Konflikt der Großmächte zu entschärfen, ist fraglich. Schließlich haben auch immer wieder vorgetragene, grundsätzliche Einwände gegen den Raketenschild weder die Amerikaner zu einem Verzicht darauf bewegt, noch die Russen beruhigt.

Das Abwehrsystem ist längst nicht einsatzfähig - und kein Mensch kann garantieren, dass es jemals verlässlich funktioniert, obwohl es deutlich einfacher geplant ist als das Vorläuferprojekt in den achtziger Jahren, Reagans weltraumgestützte Raketenverteidigung SDI (Strategic Defense Initiative).

Der neue Abwehrgürtel setzt weitgehend auf bodengestützte Abfangraketen, "Ground Based Interceptors" (GBI). Sie sollen offiziell keiner Armada von Atomraketen aus der Sowjetunion die Stirne bieten wie Reagans System. Stattdessen richten sie sich gegen einzelne Langstreckenwaffen aus kritisch beobachteten Ländern wie dem Iran oder Nordkorea.

Vor 2015 wird das System nicht einsatzfähig sein

Der Plan lautet, sie auf halben Wege zum Ziel außerhalb der Atmosphäre frontal zu treffen und zu zerstören. So eingängig das Konzept klingt, so schwierig ist es zu verwirklichen, rasen die Geschosse doch mit der Geschwindigkeit von rund 25000 Kilometern pro Stunde dahin.

Zudem sind der oder die Sprengköpfe einer Rakete in dieser Phase von Täuschkörpern umgeben, die die Leitzentrale als harmlos erkennen müsste.

Das lässt sich Amerika viel Geld kosten: 90 Milliarden Dollar hat die US-Regierung für die Entwicklung bereits ausgegeben. Für 2007 sind weitere 14 Milliarden veranschlagt. Es ist eine Investition mit zweifelhafter Bilanz. Die meisten Abfangtests scheiterten oder waren nur unter vereinfachten Bedingungen erfolgreich.

Vor 2015 wird das System nicht einsatzfähig sein. Heute finden sich 14 Abfangraketen im Militärstützpunkt Fort Greely in Alaska und zwei auf der Vandenberg-Basis in Kalifornien.

Im Ernstfall sollen eines Tages Satelliten den Start feindlicher Raketen orten. Radaranlagen in Grönland, England und auf See vor Alaska verfolgen die Flugbahn und leiten die Interzeptoren mithilfe der Zielkoordinaten ins Schwarze.

Die Radaranlage in Tschechien und die Abwehrraketen in Polen erweitern nach dem Wunsch der USA dieses Netzwerk, um Interkontinentalraketen aus dem Nahen Osten abzufangen. Russland, beteuert der Chef der Abwehrprogramms, Generalleutnant Henry Obering, sei nie Ziel seiner Raketen gewesen.

Gestörtes Gleichgewicht

Das ergibt auf den ersten Blick Sinn, könnte eine Handvoll Abfangraketen gegen Russlands riesiges Atomarsenal doch kaum etwas ausrichten.

Die amerikanischen Politikwissenschaftler Keir Lieber und Daryl Press jedoch führten im Jahr 2006 einen weiteren Blickwinkel ein, der Putins Befürchtungen erklärt. Sollte Amerika zum Erstschlag gegen Russland ausholen, blieben dem angegriffenen Land womöglich ohnehin nur wenige Raketen, um zurückzuschlagen.

Kein Mensch kann sagen, ob die X-Band-Radarstation in Tschechien und die von ihr gesteuerten Raketen in Polen die verbliebenen russischen Waffen abfangen könnten. Falls ja, ginge das Gleichgewicht des Schreckens verloren.

Es bleibt nur gewahrt, wenn jeder nukleare Erstschlag die gesicherte eigene Vernichtung nach sich zieht. Die Folge könnte daher, wie Putin gewarnt hat, ein neues Wettrüsten sein.

"Es kommt nicht nur auf das reale Potential an", erklärt David Wright, Experte für Raketenabwehr von der amerikanischen Lobbygruppe Union of Concerned Scientists. "Das Gefühl der Bedrohung kann schon gefährlich werden."

Doch bietet Putins Vorschlag einen Ausweg, der die Ängste der Amerikaner vor Iran und der Russen vor Amerika berücksichtigt? Kaum - zumindest, wenn man sich bei der für den US-Abwehrschild zuständigen Behörde erkundigt.

Rick Lehner, Sprecher der "Missile Defense Agency" in Washington, sagt, dass das X-Band-Radar speziell der Zielerfassung heranfliegender Sprengköpfe diene. Das könne das Phased-Array-Radar in Aserbaidschan nicht leisten.

Das verwirrte Abfanggeschoss

Zudem müssten die nach russischem Vorschlag in unmittelbarer Nähe zu Iran stationierten GBI-Raketen feindliche Geschosse während der Start-Phase zerstören. Doch dafür bliebe kaum genug Reaktionszeit, und darauf will sich Washington nicht verlassen. Um Raketenstarts so früh wie möglich zu entdecken, wären die zusätzlichen Daten aus Aserbaidschan aber durchaus willkommen.

Obwohl die USA also offenbar dabei sind, Putins Vorschläge weitgehend abzulehnen, bräuchte sich der russische Präsident keine Sorgen machen, sagt der Waffenexperte Wright. "Das Abwehrschild funktioniert nicht - heute und auch morgen nicht." Zu einfach sei es für einen feindlichen Staat, das teure Raketenbollwerk mit schlichten Gegenmaßnahmen zu übertölpeln.

Selbst das Pentagon nimmt an, dass ein Gefechtskopf in der mittleren Flugphase im All inmitten eines Schwarms von Attrappen auf sein Ziel zusteuern würde.

Dabei könnte sich der Gefechtskopf selbst als Blendwerk tarnen - indem er sich in einem vieler metallbeschichteter Ballons versteckt. Leuchtfackeln verwirrten dann die Wärmesensoren der Abfanggeschosse. Der Verteidigungswall müsste gegen jede dieser Finten gewappnet sein und gegen jede Kombination. "Die Befürchtungen Russlands sind irrational", sagt Wright. "Aber keineswegs verrückter als die Haltung der USA, ein solches Abwehrschild aufzubauen."

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