Sterbehilfe:Anmaßung der Gesunden

Tödlich erkrankte Patienten leiden häufig nicht so stark, wie dies Außenstehende vermuten. Der Wunsch nach Sterbehilfe würde deshalb verstummen, wenn die Betroffenen besser betreut würden.

Werner Bartens

Die Untersuchung betrifft nur wenige Dutzend Patienten, die noch dazu an einer äußerst seltenen Krankheit leiden. Dennoch könnte die Studie über die Lebensqualität von Patienten mit amyotropher Lateralsklerose (ALS), die am morgigen Freitag im Deutschen Ärzteblatt erscheint, der Diskussion über Sterbehilfe und den Umgang mit Schwerkranken neue Impulse verleihen.

Sterbehilfe: Warten auf den Tod. Eine Patientin im Sterbezimmer eines deutschen Krankenhauses.

Warten auf den Tod. Eine Patientin im Sterbezimmer eines deutschen Krankenhauses.

(Foto: Foto: ddp)

Eine Arbeitsgruppe um den Verhaltensneurobiologen Nils Birbaumer von der Universität Tübingen hat festgestellt, dass Patienten mit ALS nicht so stark leiden, wie dies Außenstehende meist vermuten. Die subjektiv empfundene Lebensqualität ALS-Kranker ist demnach kaum geringer als die von Gesunden.

"Diese Erkenntnis ist von grundlegender Bedeutung für weitere fatal verlaufende Leiden, die bei Außenbetrachtung das Leben der Betroffenen als nicht mehr lebenswert erscheinen lassen", schreibt Hans Förstl, Chef der Psychiatrie an der TU München, in einem Kommentar, der "Lebenswille statt Euthanasie" überschrieben ist.

Rätselhafte Krankheit

ALS stellt die Ärzte vor viele Rätsel. Es gibt keine Therapie gegen die Erkrankung. Nach drei Jahren sind etwa 80 Prozent der Patienten tot. Das neurologische Leiden betrifft dreimal so oft Männer wie Frauen, meist beginnt es nach dem 40. Lebensjahr. Ursache ist eine Degeneration der Nervenbahnen, die die Bewegungen steuern.

Sowohl die Nerven, die vom Gehirn ins Rückenmark führen, als auch jene, die vom Rückenmark zu den Muskeln ziehen, können zerstört werden. Deshalb betreffen die Beschwerden auch fast alle Muskeln des Körpers - außer die des Auges. Meist leiden Patienten an Muskelschwäche bis hin zur Lähmung. Im Spätstadium können Patienten nicht mehr richtig schlucken, im Endstadium müssen sie künstlich beatmet werden, da dann ihre Atemmuskeln versagen.

Der Schauspieler David Niven starb an ALS, der Fußballprofi des VfL Wolfsburg, Krzysztof Nowak, ebenso der Maler Jörg Immendorff. In den USA wird das Leiden nach einem ehemaligen Baseballstar als Lou-Gehrig-Syndrom bezeichnet. Warum manche Kranke binnen weniger Monate sterben, während andere Jahre - oder wie der britische Physiker Stephen Hawking Jahrzehnte - überleben, können Mediziner nicht erklären.

In den Niederlanden stirbt nach verschiedenen Erhebungen mittlerweile vermutlich jeder fünfte ALS-Patient durch Sterbehilfe oder assistierten Suizid. In Deutschland wird immer öfter gefordert, das Gesetz zum Verbot der aktiven Sterbehilfe zu lockern - "zur Verkürzung der sogenannten Leidenszeit", wie Birbaumer schreibt.

Dem stehen die aktuellen Ergebnisse entgegen. In der Studie lag die Häufigkeit einer klinisch relevanten Depression bei ALS-Kranken zwischen neun und elf Prozent, in der sogenannten gesunden Bevölkerung betrifft sie hingegen etwa vier bis fünf Prozent der Menschen. Bei ALS werden "Depressionen meist nicht behandelt, sondern als normale Begleiterscheinung einer todbringenden Krankheit hingenommen", so die Autoren.

Beschämende Herablassung

Die Lebensqualität lag bei ALS-Patienten im Bereich von 66 bis 72 Prozent und war damit der von gesunden Kontrollpersonen ziemlich ähnlich. Dies galt auch im fortgeschrittenen Stadium der ALS; einer Phase, von der Jörg Immendorff immer wieder berichtete, welche Angstschübe die Vorstellung zu ersticken bei ihm auslöste.

Erstaunlicherweise stieg in der Tübinger Studie die subjektiv empfundene Lebensqualität mit zunehmender körperlicher Beeinträchtigung sogar an. Die Autoren erklären sich dieses Phänomen damit, dass therapeutische Hilfe - etwa Beatmung und die Möglichkeit, sich mit Kommunikationsgeräten zu verständigen - den Patienten wieder mehr Autonomie verschaffen und ihnen das Gefühl geben, ihr Leben besser kontrollieren zu können.

Befürworter der Sterbehilfe bringen vor, dass bei ALS, Alzheimer und anderen Demenzformen das Frontalhirn beschädigt werden kann, was zu emotionaler Gleichgültigkeit führen würde. Die Schwerkranken seien daher zu Recht depressiv, könnten ihren trostlosen Zustand nur nicht mehr richtig einschätzen. Dieses Argument ließe sich gegen die Studie anführen, so Hans Förstl, "sofern man sich nicht für eine derartige Herablassung schämen würde".

Die Autoren sind überzeugt, dass Patienten mehr Behandlungen in Anspruch nehmen würden, wenn eingehender mit ihnen und ihren Angehörigen über ihren Zustand gesprochen würde. Der Wunsch nach einem schnellen Tod würde verstummen, wenn die Palliativmedizin - das heißt die Betreuung der Todkranken und Linderung ihrer Beschwerden - besser wäre. "Die Anmaßung der Gesunden scheint die Einschätzung dieser Erkrankungen zu bestimmen, solange man selbst nicht davon erfasst wird", schreibt Hans Förstl.

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