Stare am Operationstisch:"Ich habe es entnommen, also ist das Herz jetzt meins"

Das kommerzielle Interesse an menschlichem Gewebe führt zu Streitigkeiten um die Überreste von Toten. Solange für den Umgang mit Gewebe ein einheitlicher Rechtsrahmen fehlt werden Leichen zum Zankapfel.

Von Christina Berndt

Die beiden Nieren wurden noch in aller Ruhe aus der Leiche entnommen und für die schwer kranken Empfänger verpackt. Um das Herz aber entbrannte ein Streit. Die Chirurgen aus Berlin wollten es haben, die aus Niedersachsen auch. Dabei war das Herz der Toten, deren Organe an diesem Wintertag im Universitätsklinikum Göttingen entnommen wurden, gar nicht stark genug, um ein anderes Leben zu retten. Die Herzklappen aber weckten so starke Begehrlichkeiten, dass die Chirurgen im OP aneinander gerieten.

"Es gilt zu verhindern, dass die Ärzte wie die Stare um den Operationstisch herumstehen und sagen: ,Ich krieg aber den Abfall!'" Das forderte Hans-Ludwig Schreiber, Experte für Transplantationsrecht, bereits im Mai 2004 während eines Symposiums der Bundesärztekammer zum Thema Gewebespende. Die Gewebeentnahme müsse dringend gesetzlich geregelt werden. Doch der Gesetzgeber war nicht schnell genug, Auswüchse wie die in Göttingen zu verhindern.

Eigentlich hatte das Ärzteteam vom Deutschen Herzzentrum Berlin einen klaren Auftrag: Es sollte die Lunge entnehmen und damit einem seiner Patienten das Leben retten. Eilig machten sich die Berliner Chirurgen, die wegen des Winters mit Verspätung eingetroffen waren, daran, das Herz aus dem Leichnam zu entfernen - eine Notwendigkeit, um an die Lunge zu kommen. Doch bei der Gelegenheit wollten die Berliner das Herz auch gleich mitnehmen. Da begehrten die Kollegen aus Niedersachsen auf: Das Organ sei nicht für Berlin bestimmt.

"Ich habe es entnommen, also ist das Herz jetzt meins", erwiderte der federführende Chirurg des Berliner Teams, wie Beteiligte der Süddeutsche Zeitung berichteten. Ein kurzer verbaler Schlagabtausch folgte. Schließlich fügten sich die Berliner und widmeten sich wie vorgesehen der Lunge. Nur der Lunge? Auch der Herzbeutel fehlte, als der Leichnam der Erde übergeben wurde. In dessen Entnahme aber hatten die Angehörigen gar nicht eingewilligt.

Der Chirurg vom Deutschen Herzzentrum Berlin wird laut, als er nach dem Verbleib der Gewebe gefragt wird: "Ich habe mir keine Vorwürfe zu machen." Mehr will er nicht sagen. Die Niedersachsen haben sich bei der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO), die für die Koordinierung der Organspende zuständig ist, über die Berliner beschwert. Doch DSO-Vorstand Günter Kirste will nichts davon wissen: "Ein Fall, bei dem Gewebe verschwunden ist, ist uns nicht bekannt", teilte er der Süddeutschen Zeitung mit.

Der Fall Göttingen verdeutlicht nur die Auswüchse, die das Interesse an menschlichem Gewebe bereits bekommen hat. Je mehr Ärzte und Forscher mit Geweben von Toten anzufangen wissen, desto mehr werden Leichen zum Zankapfel. Der Grund: Anders als bei der Organspende fehlt für den Umgang mit Gewebe ein einheitlicher Rechtsrahmen. Dabei sind inzwischen viele menschliche Überreste noch gut zu gebrauchen: Herzklappen können ein schwaches Herz wieder besser pumpen lassen - und sind dabei effektiver als Klappen aus Kunststoff oder vom Schwein; Herzbeutelgewebe kann zum Flicken von Gefäßen genutzt werden; Leberzellen können in der Kulturschale Hinweise auf die Giftigkeit neuer Medikamente liefern.

Das Problem: Mit Gewebe lässt sich Geld verdienen. Anders als Organe, die unmittelbar in den kranken Empfänger verpflanzt werden, müssen Gewebe im Allgemeinen erst aufbereitet werden. Die dazu nötigen Zwischenschritte machen sie aber zu einer industriellen Ware. Der Jurist Hans-Ludwig Schreiber macht sich keine Illusionen: "Ein Handel mit Geweben hat sich längst etabliert."

"Ich habe es entnommen, also ist das Herz jetzt meins"

Mit Unbehagen beobachten Kritiker der Szene, dass die Interessen dabei verquickt werden. So sind viele Firmen, die mit Geweben Umsatz machen wollen, eng mit jenen Ärzten verbunden, die an der Quelle sitzen: Einige Transplantationsmediziner mischen in dem Geschäft inzwischen mit. Da ist zum Beispiel die Firma Cytonet mit Sitz in Hannover, zu deren Beirat der Leberexperte Michael Manns von der benachbarten Medizinischen Hochschule (MHH) gehört. In unmittelbarer Nähe sitzt auch die Firma Artiss, die der MHH-Herzchirurg Axel Haverich 2001 gegründet hat.

Haverich ist noch dazu Stiftungsrat der DSO und entscheidet daher über die Transplantationspolitik mit. Seine Firma Artiss versucht Luftröhren- und Herzimplantate aus menschlichem Gewebe anzuzüchten. "Das ist auf jeden Fall ein Markt von mehreren Milliarden Mark", sagte Haverichs ehemaliger Kompagnon Heiko von der Leyen der Neuen Presse zur Firmengründung. "Wir haben einiges, das uns eine sehr gute Marktposition beschert." Auch Patente seien bereits erteilt.

Wert auf die Trennung von Chirurgie und Kapital legt dagegen die Firma Hepacult in Regensburg. Sie handelt mit Leberzellen aus Operationsresten, die sie vom Universitätsklinikum Regensburg über dessen gemeinnützige Stiftung Human Tissue and Cell Research erhält. "Die Gesellschafter unserer Firma haben keine Funktion in der Stiftung und umgekehrt", betont Hepacult-Geschäftsführer Kurt Martin. "Ich weiß, dass andere da ein anderes Spiel spielen, aber wir fühlen uns so wohler in unserer Haut."

Egal, welchen ethischen Richtlinien die Firmen gehorchen: Vom späteren Gewinn haben die Menschen, denen die Gewebe einst gehörten, nichts. Während andere mit ihren Überresten Geld verdienen wollen, sollen die Spender Gutmenschen sein. Indes spricht sich kaum jemand dafür aus, dass die Gewebespende entlohnt werden soll. Auch der Nationale Ethikrat warnt in einer Stellungnahme davor, "Aufwandsentschädigungen anzubieten, die einer echten Bezahlung nahe kommen".

Organspende leidet unter Gewebe-Interessen

Unternehmen sollten aber "freiwillige Beiträge an einen gemeinnützigen Fonds" leisten. Uneigennützig oder nicht - auch der Herzchirurg und Artiss-Gründer Haverich hält nichts davon, wenn Gewebe verkauft werden: "Damit kann das gesamte Konzept der Organspende in Verruf geraten", warnte er im September 2004 auf einer Veranstaltung des Nationalen Ethikrats.

Andere Experten befürchten indes, dass die lebensrettende Organspende längst unter den Gewebe-Interessen leidet. Womöglich würden Organe mitunter sogar als nicht transplantierbar bewertet, um sie zur Gewebespende nutzen zu können. "Die Ablehnungsgründe für einzelne Organe konnten nicht immer eindeutig einer bestimmten Entscheidungsebene zugeordnet werden", heißt es in einem internen Bericht der DSO, für den drei Mitarbeiter überprüft haben, weshalb Herzen nicht transplantiert wurden.

Es ließ sich also nicht feststellen, ob die Organe vielleicht erst gar nicht angeboten worden waren oder wer sie aus welchen Gründen abgelehnt hat. "Besonders bei den Herzen, die für die Klappenbank entnommen wurden, waren die Gründe und Zeitpunkte der Ablehnung fast nie nachvollziehbar."

"Ich habe es entnommen, also ist das Herz jetzt meins"

Kritiker befürchten zudem, dass Gelder der DSO in die Gewebegewinnung fließen, die eigentlich der Organtransplantation dienen sollen. So hat die DSO eine Gewebe-GmbH gegründet, um Patienten mit Gewebe zu versorgen. "Die DSO-G wird durch die DSO quersubventioniert", beklagt ein Transplantationschirurg, der nicht genannt werden will. Kassengelder für die Organspende würden für den Aufbau von Gewebebanken missbraucht: "Die DSO-G nutzt die Strukturen und das Personal der DSO."

DSO-G-Geschäftsführer Martin Börgel verneint das: "Die DSO-G zahlt an die DSO für alles, was an Infrastruktur in Anspruch genommen wird", versichert er. Eine Überwachungskommission der Bundesärztekammer prüft dies derzeit, kann aber "bis auf weiteres" kein Ergebnis nennen. Der Chirurg Friedrich Eigler, bis vor kurzem Vorsitzender der Kommission, sagt: "Ich will nicht leugnen, dass ich da Probleme sehe."

Die DSO-G verweist auf ihre Unabhängigkeit und Gemeinnützigkeit. Doch die Firmen betonen ihre enge Zusammenarbeit mit der DSO-G. Monatelang hat die Gewebe-GmbH denn auch in den Firmenräumen von Artiss residiert. "Das war nur eine Bürogemeinschaft", sagt DSO-G-Geschäftsführer Börgel. "Im Januar sind wir in eigene Räume gezogen." Nun sind DSO-G, Artiss und Cytonet nur noch Nachbarn in demselben Haus.

Das Interesse der DSO-G an den Geweben ist jedenfalls immens. Derzeit rangelt sie mit ihrem europäischen Pendant, dem BIS in Leiden, um die Vorherrschaft auf dem Markt. Doch zum Leidwesen der Geschäftsführung hat die DSO-G bisher nicht den staatlichen Auftrag zur Koordinierung der Gewebespenden wie die DSO bei den Organen.

Gewebeentnahme juristisch völlig ungelöst

"Die Auseinandersetzung um die Gewebe ist heftig geworden", sagt Hans-Ludwig Schreiber. Dabei ist noch nicht einmal klar, wer Anspruch auf welche Gewebe hat, sofern Verstorbene oder ihre Angehörigen die Einwilligung zur Entnahme gaben, wie dies in Göttingen für manche Gewebe der Fall war. "Die Frage ist juristisch noch völlig ungelöst", sagt Schreiber.

Derweil liegt nicht einmal immer eine Einwilligung für die Gewebeentnahme vor. Am Klinikum Braunschweig etwa waren die Transplantationsteams nach einer Beschwerde des Neurochirurgen Christoph Goetz dazu übergegangen, die Einwilligung auch einzuholen (SZ, 13.5.2004). "Auch wenn sich die Angehörigen für die Organspende ausgesprochen haben, heißt das noch lange nicht, dass sie auch einer Verwendung von Geweben in der Forschung zustimmen", sagt Goetz. Die Bundesärztekammer hat diese Auffassung bestätigt.

Doch manche Ärzte scheint das nicht zu beeindrucken: "Die Gewebeentnahme ohne Einwilligung hat sich am Klinikum Braunschweig stillschweigend wieder eingebürgert", so Goetz. Die DSO wartet auf weitere juristische Klärung, bevor sie tätig wird. "Für mich", sagt Goetz, "zeugt das einfach von mangelndem Respekt."

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