Stammzellforschung:Was man aus Kurzschlüssen lernen kann

Die Ärzte Otmar Wiestler und Oliver Brüstle sind wegen ihrer Experimente mit Stammzellen in politische Stürme geraten - und halten dagegen.

Holger Wormer

(SZ vom 11.06.2001) - Kurz vor dem Durchdrehen ist sie, wie sie selber sagt, und das schon morgens um viertel nach zehn. Verzweifelt hält die Sekretärin Christine Ahlemeyer die Terminmappe über den Kopf, bevor sie wieder ans Telefon geht und dem Anrufer gelassen erklärt, dass er jetzt der hundertachtzigste sei, der ein Interview haben möchte.

deutsche_forscher_dpa

Oliver Brüstle und Otmar Wiestler wollen embryonale Stammzellen nach Deutschland importieren.

Auch vor ihrem Schreibtisch im Vorzimmer des Professors Otmar Wiestler hat sich eine Warteschlange gebildet. "Darf ich aufbauen", fragt ein Fernsehmann, der einen Scheinwerfer schon in der Hand hält. Nein, der Chef muss vorher noch das Büro Clement zurückrufen.

Der Mann, der alles ausgelöst hat

Clement, Wolfgang Clement. Er ist der Mann, der alles ausgelöst hat. Der gemeinsamen Mission mit dem nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten nach Israel haben Professor Otmar Wiestler und sein Kollege Oliver Brüstle den Belagerungszustand zu verdanken.

Von Israel aus hatte Clement in James Bond- Manier verkündet, die Bonner Forscher wollten mit einer Hochschule in Haifa kooperieren und Stammzellen importieren, die dort aus menschlichen Embryonen hergestellt wurden.

Am selben Tag debattierte der Bundestag über Grenzen der Gentechnik. Viele witterten eine Missachtung des Parlaments, andere sprachen von verrückten Forschern, die rücksichtslos ihre Karriere verfolgten. Sogar eine Anzeige wegen Verstoßes gegen das Embryonenschutzgesetz liegt vor, obwohl der Import legal wäre. Clement rudert vor und zurück, die Forscher sind zum Spielball der Politik geworden und fühlen sich zu Unrecht in die Rolle der bösen Buben aus Bonn gedrängt.

Gehirne auf der Krawatte

Verrückt wirken die beiden Bonner keineswegs. Otmar Wiestler ist 44, Oliver Brüstle 38Jahre alt, seit zwölf Jahren arbeiten sie zusammen. Wiestler kommt aus Freiburg, Brüstle aus Biberach. Beide sind mit zahlreichen Kindern gesegnet, der eine mit sechs, der andere mit vieren. Beide tragen weiße Kittel mit der Aufschrift "Universitätskliniken Bonn" und blaue Krawatten, auf denen Gehirne abgebildet sind.

Stellt man beiden nacheinander die gleichen Fragen, hat man oft das Gefühl, sie hätten sogar den gleichen Text gelernt. Ein "bemerkenswert harmonisches Gespann", sagt Wiestler.

Gallionsfiguren eines umstrittenen Forschungszweigs

Die Ursachen dafür, dass die zwei nun zu Gallionsfiguren eines umstrittenen Forschungszweigs geworden sind, liegen weiter zurück als die Reise nach Israel. Spuren finden sich im Flur des Instituts für Neuropathologie, das in einem Waschbeton-Bau auf dem Bonner Venusberg untergebracht ist. Dort hängt ein Poster mit Fotos von Schneelandschaften, in die offenbar jemand dünne Strohhalme und ein paar Steinchen eingestreut hat. Jedenfalls könnte man das meinen, wenn man nicht darüber aufgeklärt wird, dass es sich um Aufnahmen von Rattenhirnen handelt.

Behobene Kurzschlüsse

Buchstäblich blank liegende Nerven sind zu sehen: wegen eines Gen-Defekts fehlt den Nervenkabeln die Isolierung. Es kommt zu Kurzschlüssen, wie man sie von Krankheiten wie Multipler Sklerose kennt. Brüstle hat solche Kurzschlüsse behoben und damit wohl als erster bewiesen, dass sich mit Stammzellen aus Mäuse-Embryonen Zellmaterial für Transplantationen gewinnen lassen könnte.

Das war 1998. Fast zeitgleich wurde aus den USA eine andere Sensation gemeldet: Der Amerikaner James Thomson vermehrte Stammzellen aus Embryonen des Menschen im Labor - nach 15Jahren wissenschaftlicher Schwerstarbeit. "Beides zusammen hat bei uns den Gedanken geweckt, zu versuchen, was im Tierexperiment gelungen ist, auf menschliche Zellen zu übertragen", sagt Wiestler.

Der Professor mit dem blassen Gesicht eines Mannes, der viel arbeitet, sitzt in einem schmucklos eingerichteten Büro: blaugrauer Teppichboden, auf dem ein Metallkoffer und gleich drei Taschen herumliegen, hellgraue Wandschränke, die bis unter die Decke reichen. Atemberaubend ist nur der Ausblick.

Hier sitzt man so weit oben, dass man bis zum Drachenfels im Siebengebirge schauen kann. Bedächtig spricht Wiestler über seine Pläne. "Aus nüchtern wissenschaftlicher Sicht" - das hört man oft aus seinem Mund.

Nüchtern wissenschaftlich betrachtet ist es keineswegs sicher, dass menschliche Zellen halten, was Mauszellen versprechen. Schritt für Schritt müsse man das prüfen, sagt Wiestler. Erst müsse man sehen, ob sich auch Stammzellen aus menschlichen Embryonen im Labor zu Nervenzellen spezialisieren lassen. Dann müsse man testen, ob man damit wieder kranke Tiere heilen kann. Und erst danach, in drei bis fünf Jahren vielleicht, ließe sich an Studien mit Patienten denken.

Erstes Votum der DFG positiv

Dazu muss man Stammzellen, wie man sie in den USA ober in Israel aus menschlichen Embryonen gezüchtet hat, aber importieren. Sind sie im Land, wird jeder Schritt durch das Bonner Institut für Wissenschaft und Ethik überwacht. Auch ein erstes, allgemeines Votum der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), bei der die Bonner vor rund einem Jahr Geld beantragt haben, war positiv. Und endgültig zugestimmt hat auch die Ethikkommission der Universität. "Mehr Kontrollen kann man nicht machen", meint Wiestler.

Was aber ist, bei allem Forscher-Ehrgeiz, das Motiv, sich ein so umstrittenes Feld auszusuchen? "Mein Antrieb ist einfach", sagt Wiestler: "Neuropathologen arbeiten auf einem Gebiet, auf dem sie häufig mit leeren Händen da stehen." Mit der Stammzellforschung könnte sich erstmals ein Fenster öffnen - für die Behandlung von Multipler Sklerose, Epilepsie oder der Parkinsonschen Krankheit.

Besondere Verpflichtung gegenüber den Patienten

Den Patienten gegenüber habe man da eine besondere Verpflichtung, sagt Wiestler. Andererseits kritisiert er die "wildesten Heilsversprechen", die kursierten. Unverantwortlich findet er es etwa, bei Zelltherapien Alzheimer zu erwähnen, diese Krankheit sei dafür viel zu komplex. Ebenso wenig geht es nach seinen Worten um Organe. Und trotzdem: "Es wäre falsch, umgekehrt durch Schreckensvisionen das Verbotsschild an die Tür zu hängen."

"Krebsforschung - keine Stammzellforschung"

Noch hängen an den Türen der Bonner Labors andere Schilder: "Krebsforschung - keine Stamzellforschung!", ist auf Zetteln zu lesen, mit denen sich einige Forscher vor neugierigen Journalisten schützen. Irgendwie erinnern die Türen mit den in Augenhöhe angebrachten Glasfensterchen an Zookäfige.

In der Nähe macht Oliver Brüstle eine Vorführung. Anders als Wiestler, der Chef des Instituts, arbeitet der Privatdozent Brüstle noch selbst im Labor. Als eigentlicher Stammzellen-Experte soll er einen Lehrstuhl für Rekonstruktive Neurobiologie übernehmen, den die gemeinnützige Hertie- Stiftung finanzieren will.

Brüstle gilt als ehrgeizig, ein bisschen auch als schwäbischer "Schaffe-schaffe-Häuslebaue-Typ". Mit seinen runden Wangen hat er etwas Bubenhaftes, wenngleich einige graue Haare auf dem Kopf keine Einzelgänger mehr sind.

Vorführung mit Mäusezellen

"Das Gefährlichste für die Zellen ist Sprechen", beginnt Brüstle seine Vorführung. Selbst an den Mäusezellen, die hier meist bei 37 Grad Celsius im Brutschrank lagern, geht die öffentliche Aufregung nicht spurlos vorüber.

Bei Vorführungen wurden mehrfach Zellkulturen kontaminiert - durch Keime, die auf den Atemwegen von Besuchern sitzen und beim Sprechen den Sprung in die Kulturschale schafften. Trotzdem verzichtet Brüstle nicht auf seine Show, zieht Latexhandschuhe an und reibt sie mit Desinfektionsmittel ein. Eine Kollegin reicht ihm Glasschälchen aus dem Brutschrank, die man unter dem Mikroskop anschauen darf.

Mal schwimmen in rötlicher Flüssigkeit einzelne Zellhaufen, mal ist der Boden der Kulturschale dicht von einer Art Griesschicht bedeckt: verschiedene Stadien eines Versuchs, bei dem embryonale Stammzellen vermehrt und dann zu Nervenzellen spezialisiert werden. Brüstle weiß um die Macht solcher Bilder: Wenn jemand mal gesehen hat, dass hier "nur mit Zellhaufen" gearbeitet wird und nicht mit ganzen Embryonen, sollte er diese Forschung leichter akzeptieren.

Keine Arbeit an menschlichen Embryonalzellen auf breiter Front

Nun stammen die Vorführzellen aber von Mäusen. Was, wenn sie aus menschlichen Embryonen hergestellt wären? Zunächst einmal fände er es nicht gut, wenn auf breiter Front an solchen Zellen gearbeitet würde, sagt Brüstle: "Bevor man sich auf das Terrain vorwagt, müssen zunächst alle Hausaufgaben im Tierversuch gemacht sein." Auch kämen Zellen aus menschlichen Embryonen nur für Experimente infrage, die etwa mit erwachsenen Stammzellen nicht möglich seien.

Erwachsene Stammzellen - viele hoffen, dass mit ihnen der Konflikt zwischen den Interessen der Ärzte und dem Schutz des Embryos zu lösen ist. Denn sie lassen sich aus Blut- oder Gewebeproben Erwachsener gewinnen.

Bisher aber ist es viel schwieriger, sie zu vermehren und zu gewünschten Zellen weiter zu züchten. Zweigleisig müsse man daher mit beiden Typen forschen, meint Otmar Wiestler. Die Untersuchungen an embryonalen Stammzellen seien ein Zwischenschritt, um die Arbeit mit den erwachsenen Zellen voranzubringen.

"Überzählige, ohnehin dem Tode geweihte Embryos"

Viel zu düster wird nach seinen Worten die Vision gezeichnet, "es liefe alles auf Verbrauch von Embryonen in großer Zahl hinaus". Auch beim Import gehe es nur um Stammzellen, die keine Embryonen mehr sind; die man in Israel aus "überzähligen, ohnehin dem Tode geweihten" Embryonen aus der künstlichen Befruchtung gewonnen habe.

Zudem gibt es für ihn im Moment keinen Anlass, zahlreiche weitere Zelllinien herzustellen, da sich die Stammzellen fast beliebig vermehren lassen. "Und wir hatten nie das Anliegen, selbst Embryonen zu opfern", verteidigt sich Wiestler.

Bei Oliver Brüstle hört sich das freilich etwas anders an. Er ist nicht so sicher, dass Stammzellen aus Embryonen nur ein Zwischenschritt sind. Wenn man mit ihnen Erfolg habe, müsse man bald überlegen, das Embryonenschutzgesetz zu ändern und sie selbst herzustellen, sagt er. Zu sehr werde man sonst abhängig von ausländischen Lieferanten, müsse zu viele Rechte an den Forschungsergebnissen abtreten.

Auch Brüstle ist indes nicht frei von ethischen Konflikten. Im Gegenteil: Er ist der Religiösere, erfährt man in seinem Office, wie er sein Büro in einer Mischung aus weltmännischem Englisch und breitem Schwäbischen nennt. Das Office ist spartanisch: kein Bild an der Wand, Waschbecken in der Ecke, Mikroskop auf dem Tisch - ein zum Büro umfunktionierter Laborraum.

Ein religiöser Mensch

Geht es um religiöse Fragen, dann verliert Oliver Brüstle den souveränen Gestus eines Mannes, der genau weiß, was er sagt. Er ist katholisch, und die gültige Lehrmeinung dieser Kirche ist kaum zu vereinbaren mit seiner Arbeit. Natürlich gebe es da einen Konflikt, räumt er ein. Aber er hofft, dass "eines Tages Positionen gefunden werden, in denen sich die Kirchen den neuen Entwicklungen anschließen können, ohne ihre Grundsätze über Bord zu werfen".

Schon heute finden die beiden Bonner Forscher lobende Worte für die Kirchen. "Ich akzeptiere den honorigen Standpunkt der katholischen Kirche", sagt Wiestler. Die Schutzwürdigkeit auch des frühen Lebens sei dort eben das Allerhöchste, wenngleich es nicht sein Standpunkt ist.

Selbstverständlich ist auch für ihn der Embryo in höchstem Maße schutzwürdig. Dennoch will er die Debatte "lieber nicht auf die weltanschauliche Ebene heben, sondern auch die dringenden Anliegen von Patienten berücksichtigen und nach fachlichen Kriterien abwägen". Ganz nüchtern.

"Beklagenswerte politische Motivation"

Gerade seit der folgenreichen Israelreise ist die Debatte aber alles andere als nüchtern. Einerseits freuen sich die Forscher über Rückendeckung von Politikern. Andererseits sieht Wiestler "beklagenswerte politische Motivationen". Wobei auffällt, dass die Ärzte selbst schon reden wie Politiker.

Bei Wiestler klingt das so: "Ich kann mir immer noch nicht vorstellen, dass ein Land wie Deutschland sich von einer der vielversprechendsten Entwicklungen in der Medizin per Forschungsverbot abkoppelt."

Immerhin sind auch viele andere Wissenschaftler an dieser Forschung interessiert, Wiestler und Brüstle fühlen sich von ihnen allerdings ein wenig allein gelassen - und bleiben trotzdem optimistisch. Auf einer der Labor-Türen im Institut ist auf einem Plakat ein Ausspruch von Victor Hugo zu lesen: "Einer Invasion von Armeen lässt sich widerstehen, nicht aber einer Idee, deren Zeit gekommen ist."

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