Sprachwissenschaft:Grammatik und Ethik

Einen Menschen opfern, um mehrere andere zu retten? Die Antwort hängt auch davon ab, ob Menschen das Dilemma in ihrer eigenen oder einer fremden Sprache analysieren.

Von Sebastian Herrmann

Erst kommt die Sprache, dann die Moral. Ungefähr so ließe sich ein altbekannter Ausspruch über das ethische Vermögen des Menschen abwandeln. Werden Probanden nämlich aufgefordert, in einer moralisch verzwickten Situation eine Entscheidung zu treffen, spielt die Sprache eine große Rolle: Je nachdem, ob das Szenario in ihrer Mutter- oder in einer Fremdsprache geschildert wird, unterscheiden sich die Urteile. Das demonstrieren Psychologen um Albert Costa von der Universität Pompeu Fabra in Barcelona in einer Studie im Fachblatt Plos One (Bd. 9, S. e94842, 2014).

Die Wissenschaftler legten ihren Probanden ein klassisches Szenario aus der Moralpsychologie vor. Sie sollten sich vorstellen, auf einer Fußgängerbrücke zu stehen, wo sie Zeuge eines drohenden Unglücks werden. Ein Zug rast auf fünf Menschen zu, und es besteht nur eine Möglichkeit, das Leben der Unglücklichen zu retten - indem ein anderes geopfert wird. Dazu müssten die Beobachter auf der Brücke einen dicken Mann auf die Gleise stoßen. Eine unglaubliche Vorstellung, einen Menschen umzubringen, um andere zu retten? Gibt es in dieser Situation eine richtige Entscheidung? Aus utilitaristischer Perspektive sollte der Beobachter den Mann opfern. Fünf Leben sind mehr als eines. Doch in den vielen Studien, in denen Probanden dieser fiktiven Entscheidung ausgesetzt waren, revoltierte etwas in ihnen. Ihre moralischen Intuitionen verboten es, aktiv einen Unschuldigen zu töten - selbst wenn damit mehrere Leben gerettet werden.

Werden Aufgaben in der Muttersprache gestellt, fällt man eher auf logische Fallen herein

Dieses Ergebnis zeigte sich auch in der aktuellen Studie der spanischen Psychologen, vor allem, wenn den Probanden das Dilemma in ihrer Muttersprache vorgelegt wurde. In einer Fremdsprache - zu den Teilnehmern zählten Franzosen, Israelis, Amerikaner und Koreaner - war der Anteil derjenigen höher, die sich für die schreckliche Tat zum Wohl der fünf Menschen entschieden. "Das Urteil sollte nicht davon abhängen, ob man über das Leben des dicken Mannes oder von el hombre grande nachdenkt", sagt Costa. "Aber leider ist genau das relevant."

Moralpsychologen haben das Bild vom rational abwägenden Menschen bereits stark angekratzt. In zahlreichen Arbeiten zeigen sie, dass die Frage danach, ob eine Handlung gut oder schlecht ist, stark von den Emotionen geprägt wird. Die ersten unmittelbaren Reaktionen eines Menschen auf eine Aussage oder Situation geben demnach meist das Urteil vor. Das bewusste Denken liefert schließlich nachträglich die Begründung zu dem, was die Affekte vorgegeben haben. Eine aufwühlende Situation in einer Fremdsprache zu bewerten, so argumentieren die Psychologen um Costa nun, reduziert deren Emotionalität, erhöht zugleich die kognitive Beanspruchung und weckt damit das rationale Denken. Unter diesen Umständen rangen sich die Probanden von Costa eher zur utilitaristischen Entscheidung durch, den Mann neben sich von der Brücke zu stoßen.

In einem weiteren Test unterzogen die Psychologen ihre Probanden Tests, in denen das rationale Denken getestet wird. Dabei schnitten die Teilnehmer besser ab, wenn diese Aufgaben in einer Fremdsprache gestellt wurden. In ihrer Muttersprache fielen sie leichter auf intuitiv naheliegende Antworten herein, die sich aber bei genauerem Hinsehen als falsch entpuppten. Ähnliche Ergebnisse sind aus Studien bekannt, in denen Aufgaben in unterschiedlich lesbarer Schrift präsentiert wurden. Je mieser das Schriftbild war, desto eher fielen Teilnehmern logische Fehler auf. Der Mensch muss wohl gelegentlich zum Nachdenken gezwungen werden, sonst vertraut er allzu leicht auf den ersten Gedanken.

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