Sprache:Das verbotene Experiment

Seit Jahrtausenden rätseln Menschen, wie Sprache entstanden ist. In zwei israelischen Dörfern haben taube Menschen abgeschnitten von der Außenwelt ihre eigene Sprache entwickelt. Forscher entschlüsseln hier den Ursprung unserer Kommunikation.

Von Kai Kupferschmidt

Salha Sarsour kann den Muezzin nicht hören. Wenn er die Gläubigen von Kfar Qasim im Morgengrauen zum Gebet ruft, schaltet ein Nachbar von Salha das Licht in ihrem kleinen Zimmer ein. Dann steht die alte Frau auf und sinkt auf die Knie.

Niemand weiß, was sie dann genau macht.

Niemand hat ihr je ein Gebet beibringen können.

Salha Sarsour wurde taub geboren. Sie kann nicht hören und nicht sprechen. Lesen und Schreiben hat sie nie gelernt. In ihrem Leben gibt es keinen Koran und keine Predigt, kein Radio und kein Fernsehen, keine Briefe, keine E-Mails, kein Telefon. Sie lebt in ihrem kleinen Zimmer im Seitenflügel eines alten Steinhauses. Sie fastet und sie betet.

Salha hat nie geheiratet. Sie hat ihr Leben lang als Schneiderin gearbeitet. Hochzeitskleider für anderer Leute Hochzeit genäht. Einmal habe ein Mann sie heiraten wollen, sagt Salha. Ihre Eltern waren dagegen. "Jetzt bin ich 80 Jahre alt." Ihre Hand macht eine schneidende Bewegung, das Getreide, das geschnitten wird, die Jahre, die vorbeigegangen sind. "Ich bin allein", sagt sie. "Aber ich habe Gott."

Ihr Reichtum ist - ihre Sprache

Wenn jeder Mensch eine Insel ist, dann ist Salha eine Insel, die weit weg ist von allen anderen.

Die Gebärdensprache, die sie nutzen, gibt es nur an diesem Ort. Kfar Qasim liegt im Zentrum Israels, an der Grenze zum Westjordanland. Es ist eine Sprachinsel, entstanden durch einen Gendefekt, der Menschen taub macht. In Kfar Qasim gibt es viele Ehen unter Verwandten und darum gibt es auch viele taube Menschen.

Sie haben sich selbst geholfen - und ihre eigene Sprache entwickelt. "Dorfgebärdensprachen" nennen Linguisten das. Sie zeigen, wie tief der Drang des Menschen ist, zu kommunizieren: Wo keine Sprache ist, erfindet er eine. Wo viele gehörlose Menschen zur Welt kommen, wird bald auch eine Gebärdensprache geboren.

Kfar Qasim ist nicht der einzige Ort, an dem sich so eine Sprache entwickelt hat. Inzwischen haben Linguisten Dorfgebärdensprachen an mindestens 13 Orten der Welt entdeckt und beschrieben.

Die Wissenschaftler sammeln die Sprachen wie Schmetterlingsforscher, die an entlegenen Orten nach neuen Arten suchen. Jeder Fund schillert in seinen eigenen bunten Farben. Und manche Forscher glauben, dass sie einen Blick in die Vergangenheit erlauben, zum Ursprung der Sprache. Sprachen wie die in Kfar Qasim könnten der Schlüssel sein, um zu verstehen, wie Sprache entstanden ist, sagen sie.

Die Forscher arbeiten unter Zeitdruck. Wie manch unentdeckter Falter in den Wäldern des Amazonas ausstirbt, ehe er entdeckt wird, so sterben auch Dorfgebärdensprachen, bevor sie dokumentiert werden.

Salha gehört zu den ersten Menschen, die die Dorfgebärdensprache von Kfar Qasim benutzt haben. Aber wenn ihre Hände sich bewegen, dann sieht das für die jüngeren Menschen in Kfar Qasim seltsam aus. "Ihre Hände sind schwer", sagen sie. Sie haben Mühe Salha zu verstehen.

Dazu kommt, dass taube Kinder in Kfar Qasim heute die israelische Gebärdensprache lernen. Die ungewöhnlichen Dorfsprachen wandeln sich und verschwinden.

"Wir waren alle von Allah"

Damit gehen auch einzigartige Gemeinschaften verloren. Das besondere an Orten wie Kfar Qasim ist, dass dort auch viele Menschen, die hören können, die Gebärdensprache beherrschen. Es hat fast jeder mit tauben Menschen zu tun, ob als Partner, Eltern, Kinder oder Geschwister. Und so lernen auch fast alle mit ihnen zu sprechen.

Diskriminierung habe es in Kfar Qasim nicht gegeben, erklärt eine der anderen Frauen. "Wir waren alle von Allah. Damals war es wichtig, dass die Frau putzen und kochen konnte. Dann konnte sie auch heiraten." Sie ist mit einem Mann verheiratet, der hören kann. "Er kennt die Zeichensprache ein wenig: Geld, kaufen, Brot, Möhre, Hähnchen, Schaf." Um zu merken, wenn das Baby sich bewegt und schreit habe sie einen Bindfaden um die Hand des Babys gebunden und dann um die eigene Hand.

Salha hat keine Kinder. Aber sie ist eine der Mütter dieser unwahrscheinlichen Sprache. Und sie ist stolz darauf. "Das hier ist toll", sagt sie und meint den Kreis aus gestikulierenden Frauen. In ihrer Kindheit sei sie sehr einsam gewesen. "Es gab niemanden, mit dem ich reden konnte, nirgends, wo ich hingehen konnte. Keine Schule", sagt sie. "Nichts. Nichts."

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: