Sprachbasierte Bordcomputer:Wie Autos ihre Fahrer ablenken

Neue Mercedes V-Klasse

Vollgestopft mit Technik: Der Innenraum eines Mercedes-Transporters

(Foto: picture alliance / dpa)
  • Forscher der University of Utah haben untersucht, wie stark moderne Autos ihre Fahrer ablenken.
  • Keines der untersuchten Fahrer-Assistenzsysteme schnitt gut ab; die Spracheingabe bewerteten die Tester häufig als zu komplex.
  • Unfallforscher warnen vor zunehmenden Gefahren durch abgelenkte Autofahrer. Für viele ist das Auto zum rollenden Büro geworden.

Von Christoph Behrens

Früher war es einfach: Ein Knopfdruck, und das Autoradio wechselte den Sender. Heute führen viele Wege zum Ziel: ein Wippschalter am Lenkrad zum Beispiel. Man kann aber auch am Joystick in der Mittelkonsole herumfummeln. Oder man tippt sich durch das Menü auf dem Touchscreen. Oder man weist das Auto per Spracheingabe an, den Sender zu wechseln. Dabei ist das Radio natürlich nur eines der vielen Dinge, die beim Autofahren bedient werden wollen, neben dem Navigationssystem, dem Staumelder, der Freisprecheinrichtung, der Außenkamera und den Entertainmentsystemen. So viele Möglichkeiten, so viel Komfort.

So viele Gefahren, sagen manche Verkehrsforscher. Bislang galt es als eine Art ungeschriebenes Gesetz: Je mehr Technik im Auto steckt, desto sicherer. Doch eine neue Untersuchung der Universität Utah rüttelt kräftig an diesem Bild. Im Auftrag des US-Automobilklubs AAA untersuchten Forscher, wie stark Informationssysteme moderner Autos die Kognition der Fahrer beanspruchen. 260 Teilnehmer testeten eine Woche lang einen Neuwagen, die Probanden sollten dabei regelmäßig einfache Aufgaben am Bordcomputer bewältigen - etwa einen Kontakt anrufen oder den Radiosender auf eine bestimmte Frequenz einstellen. Wie stark sie dabei vom Verkehr abgelenkt waren, maßen die Forscher mit einem speziellen Armband, das Reaktionszeiten erfasste. Alle zehn untersuchten Bordcomputer, jeder aus dem Jahr 2015, führten zu einer mittelschweren bis hohen "kognitiven Belastung" der Fahrer, ein Maß für Ablenkungsgrad und Reaktionszeit. Das schlechteste System ist demnach im Mazda 6 verbaut, auf einer Skala von eins bis fünf lag die kognitive Belastung durch das Bordsystem bei 4,57; der VW Passat liegt mit 3,46 im Mittelfeld. Bei dem einzigen untersuchten deutschen Modell fiel besonders die lange Zeitspanne negativ auf, die jede Interaktion mit dem Bordcomputer erforderte. Häufig bemängelten die Testfahrer eine zu komplexe Bedienung.

Die Befunde sind deshalb verblüffend, weil sehr moderne Technologie im Zentrum stand: Alle getesteten "In-Vehicle Information Systems" (IVIS) funktionierten über Spracheingabe, die Fahrer brauchten also ihren Blick nicht von Lenkrad und Straßenverkehr abzuwenden. Doch maßen die Wissenschaftler bis zu 27 Sekunden nach dem Ende einer Aktion noch eine verminderte Reaktionsgeschwindigkeit. Selbst Übung mit den Systemen senkte die Beanspruchung kaum, ältere Fahrer forderte die Bedienung besonders stark heraus. Für die Autoren des Berichts ein Alarmsignal, da gerade ältere Fahrer zur Zielgruppe sprachbasierter Bordsysteme zählen.

Ablenkung wird in Unfallstatistiken nicht erfasst - Forscher stochern bislang im Nebel

"Die Datenlage ist eindeutig", meint Heiko Hecht, Wahrnehmungspsychologe an der Universität Mainz. Die Spracheingabe sei ähnlich zu bewerten wie die Bedienung einer Konsole: "Sie lenkt extrem ab." Auch Freisprecheinrichtungen zum Telefonieren seien bedenklich. Müsste man dann nicht auch Gespräche mit Mitfahrern untersagen? Dem Psychologen zufolge macht es jedenfalls einen wichtigen Unterschied, ob man mit einem Computer spricht oder der Beifahrer die Route durchgibt. "Da gibt es ein geteiltes Erleben beim Fahren", sagt Hecht. Der Nebenmann nimmt passiv am Verkehr teil, erkennt, wann die Situation unübersichtlich wird - und schweigt in brenzligen Situationen. Das beachte ein Computer nicht, genauso wenig wie ein Gesprächspartner am Telefon. Daher böten sprachbasierte Assistenzsysteme derzeit kein Plus an Sicherheit, sondern nur an Ablenkung.

Doch führt dies auch zu mehr Unfällen? An diesem entscheidenden Punkt herrscht bislang Unklarheit. Weder die Polizei noch das statistische Bundesamt erfassen Ablenkung als Unfallursache, weil sie so schwierig nachzuweisen ist. Theoretisch hätte die Polizei zwar die Möglichkeit, das Mobiltelefon eines Fahrers nach Unfällen zu konfiszieren und auf Anweisung eines Staatsanwalts auch Verbindungsdaten zu sichten. In der Praxis werde dies kaum getan, sagt der Verkehrsrechtler Peter Schlanstein. "Die rechtliche Schranke ist sehr hoch." Ob und wie weitere Systeme im Fahrzeug den Fahrer ablenken, ist noch diffuser zu ermitteln. "Es gibt keine valide Untersuchung über Ablenkung als Unfallfaktor", sagt Siegfried Brockmann, Leiter der Unfallforschung der Versicherer (UDV). "Die Beweisführung tendiert gegen null."

Die Studie des US-Automobilklubs findet der Wissenschaftler daher fragwürdig. Die US-Kollegen hätten einen entscheidenden Fehler begangen: Die Tester durften nicht frei wählen, wie und wann sie das System bedienten. Mit einer realen Verkehrssituation habe das jedoch kaum etwas zu tun, argumentiert Brockmann. Da sei ein Autofahrer durchaus in der Lage zu erkennen, wann er das Navi justieren könne und wann nicht. Über die tatsächliche Unfallgefährdung sage die Studie der Amerikaner also nichts. Dabei sind auch die deutschen Unfallforscher überzeugt, dass viele Technologien im Auto die Ablenkungsgefahr grundsätzlich verstärken. Brockmann fasst es so zusammen: "Es ist ein Riesenproblem. Das wir alle nicht kennen."

Das niederländische Forschungsinstitut für Straßensicherheit (SWOV) hat viele internationale Studien ausgewertet und schätzt, dass abgelenkte Fahrer bis zu 25 Prozent aller Unfälle auslösen. Der deutsche Verkehrsgerichtstag vermutet sogar, dass in manchen Städten bis zu jeder dritte Unfall durch Unaufmerksamkeit und Ablenkung passiert. Nach Schätzungen gab es 2013 allein 1,3 Milliarden Verstöße gegen das Handyverbot am Steuer - wovon allerdings nur jeder 3400. geahndet wird. "Für manche Fahrer ist das Auto zu einem rollenden Büro geworden", warnen die SWOV-Forscher in einer Analyse. Durch Ablenkung verursachte Unfälle würden in Zukunft wohl noch zunehmen, wegen der zunehmenden Diffusion elektronischer Geräte in den Straßenverkehr - hierzu zählen die Holländer ausdrücklich auch "fortgeschrittene Fahrer-Assistenzsysteme".

Von Risiken wollen Autohersteller bislang nichts wissen

Für die Autohersteller sind die Warnungen brisant. Sie haben die Ausrüstung ihrer Produkte mit anspruchsvoller Elektronik aktiv beschleunigt. Jeder der großen deutschen Hersteller hat in den vergangenen Jahren Sprachassistenzsysteme vorangetrieben und in die neuesten Modelle integriert - möglicherweise bevor die Risiken hinreichend bekannt waren. So wirbt der Softwareentwickler Nuance, dessen Sprachtechnologie in Oberklasse-BMWs sowie in neueren Mercedes-Modellen eingebaut ist, E-Mails und Textmeldungen ließen sich "bequem und sicher über Spracherkennung diktieren". Auch der Facebook-Status lässt sich während der Fahrt aktualisieren.

Eine BMW-Sprecherin sieht dabei "keinerlei Hinweise, dass durch Sprache bei Telefonie und damit auch bei Sprachsystemen irgendwelche Unfälle assoziiert sind". Bei ihrer Einschätzung berufen sich die Münchner auf eigene Untersuchungen, die sie nicht öffentlich machen wollen. Auch bei Volkswagen sieht man keine erhöhten Risiken, im Gegenteil: In Feldstudien ohne die Begleitung von Versuchsleitern könne häufig sogar "eine Reduktion des Unfallrisikos durch die Ausführung von Nebentätigkeiten statistisch bedeutsam sein", erklärt der Konzern. Denn die Fahrer würden ihr Verhalten der Nebentätigkeit anpassen, also die Geschwindigkeit reduzieren oder verstärkt nach Gefahrensituationen Ausschau halten. BMW argumentiert, prinzipiell sei Sprachsteuerung gut, "da keine Blickabwendung von der Straße nötig ist".

Google rät vom Einsatz seines Systems während der Fahrt ab

Doch genau das stimme nicht, sagt Johan Engström, der für Volvo-Trucks über Fahrer-Ablenkung forscht. "Sprachsysteme erfordern häufig visuelles Feedback vom Fahrer", erklärt der Ingenieur. Das verleite durchaus dazu, von der Straße einige Zeit zum Display zu blicken. Die Folgen dieser Beanspruchung seien zwar noch nicht klar. Unfallgefahren mag der Schwede anders als seine deutschen Kollegen aber nicht kategorisch ausschließen. "Eine hohe kognitive Belastung kann die Entscheidungsfähigkeit in nicht alltäglichen Situationen beeinträchtigen", sagt Engström. Dann wird es schnell gefährlich. Wer überfordert ist, übersieht leichter eine rote Ampel. Manche Forscher vermuten, dass geistige Überlastung bei ganz schweren Unfällen öfter eine Rolle spielt. Die Beweislage ist allerdings noch schwieriger, da die Unfallbeteiligten häufig nicht mehr leben.

Um die Systeme sicherer zu machen, müssten Autohersteller sich wohl stärker an menschlichen Beifahrern orientieren: Die Sprachsysteme müssten selbst erkennen, wann sie sich einschalten oder eine Rückmeldung verlangen, um den Fahrer nicht zu verwirren. Abstandssensoren und Kameras könnten ein dichtes Verkehrsaufkommen erkennen und die Interaktion mit dem Fahrer entsprechend einschränken. An dieser Adaptivität wird in einigen Entwicklungslaboren bereits gearbeitet.

Die Wissenschaftler der Universität Utah haben in einer zweiten Studie auch untersucht, wie sich sprachbasierte Navigationsapps von Smartphones im Autos auswirken. In einer Halterung angebracht, ist dies auch in Deutschland erlaubt (verboten ist der Einsatz des Mobiltelefons nur, wenn man es in der Hand hält). Konkret untersuchten die Forscher das Cortana-System von Microsoft, Siri von Apple und Google Now. Letzteres führte im Test zu einer moderaten Ablenkung, schnitt aber immer noch besser ab als etwa das System im VW Passat. Anders als VW reagierte Google klar auf die Untersuchung: Das Sprachsystem sei niemals für eine Benutzung im Fahrzeug angepriesen worden. Dies sei auch nicht ratsam.

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