Sozialverhalten:Die dunkle Seite des Kuschelhormons

Kann Oxytocin die Psychiatrie revolutionieren - oder ist es eine überschätzte Substanz, die sogar Schaden anrichtet? Wissenschaftler streiten über mögliche Gefahren und die Frage, ob es überhaupt in klinischen Studien getestet werden darf.

Von Greg Miller

Wenige vom Körper produzierte Substanzen haben in letzter Zeit so viel Aufmerksamkeit erregt wie das Hormon Oxytocin. Journalisten schreiben dem Hormon die Macht zu, den Teamgeist von Fußballern zu stärken und Ehen zu retten.

Derzeit hat das Oxytocin-Fieber die Psychiater gepackt. In Dutzenden Studien prüfen sie den Nutzen des Hormons bei der Behandlung psychischer Störungen. Tausende ungeduldige Eltern autistischer Kinder haben ihre Ärzte bereits überzeugt, Oxytocin-Nasenspray zu verschreiben.

Doch jetzt bekommt die Erfolgsgeschichte erste Risse: Seitdem Wissenschaftler das Hormon genauer erforschen, ist auch seine dunkle Seite sichtbar geworden. Oxytocin scheint unter manchen Umständen sogar antisoziale Verhaltensweisen zu verstärken. Seine Effekte sind gar nicht so eindeutig, wie früher vermutet wurde. Und niemand weiß, was eine Langzeitbehandlung mit einem noch unreifen Gehirn anstellt. So stellt sich eine Grundfrage der Medizin: Darf man mit neuen Therapien starten, obwohl die Nebenwirkungen noch ungewiss sind?

Dabei erschien Oxytocin völlig unproblematisch, als es 1953 von dem US-Biochemiker Vincent du Vigneaud erstmals synthetisiert wurde. Man wusste seit Langem, dass es im Hypothalamus gebildet und von der Hirnanhangdrüse ins Blut geleitet wird. Während der Geburt signalisiert es der Gebärmutter, dass sie kontrahieren soll, später stimuliert es den Milchfluss.

Studien an Ratten und Schafen zeigten, dass Oxytocin die Mutter-Kind-Bindung stärkt. In den 1990er-Jahren bestätigten Wissenschaftler seine Rolle bei der Paarbindung unter Präriewühlmäusen. Anders als die meisten Nager binden sich diese lebenslang.

Obwohl diese Ergebnisse mittlerweile in den Lehrbüchern stehen, hat erst die neueste Forschung die derzeitige Begeisterung entfacht. In einer bahnbrechenden Studie 2005 in Nature berichtete das Team um den Neuroökonomen Ernst Fehr von der Universität Zürich über die Wirkung von Oxytocin-Nasenspray bei Studenten, die in einem Spiel entscheiden mussten, wie viel Geld sie einem Fremden anvertrauen. Es zeigte sich, dass das Hormon mehr Vertrauen stiftet als ein Placebo. Eine Flut an Studien folgte. Diese zeigten, dass Oxytocin auch die soziale Wahrnehmungsfähigkeit verbessert, etwa beim Erkennen von Emotionen und Gesichtern.

Solche Ergebnisse führten schnell zu Spekulationen über klinische Anwendungen - spielen doch soziale Defizite bei vielen psychischen Störungen eine Rolle. Dennoch gibt es derzeit keine zugelassenen Medikamente, die direkt beim Sozialverhalten ansetzen.

Bereits 2009 publizierte der klinische Psychologe Adam Guastella von der University of Sydney in Biological Psychiatry die erste Oxytocin-Studie bei Autismus. Er hatte 16 betroffenen Jungen zwischen zwölf und 19 Jahren jeweils eine Einzeldosis Oxytocin-Nasenspray oder Placebo verabreicht. Mit dem Wirkstoff schnitten die Jungen bei einem Standardtest zur sozialen Kognition besser ab. Ihnen gelang es häufiger, anhand einer Fotografie der Augenpartie Emotionen zu erkennen. Die Trefferrate verbesserte sich allerdings nur geringfügig von 45 auf 49 Prozent; Menschen ohne Autismus kommen meist auf mehr als 70 Prozent.

Wirkung auf das Alltagsleben?

Mittlerweile zeigten Studien an erwachsenen Autisten ebenfalls verbesserte Testergebnisse, doch eine Schwäche bleibt: Untersucht wurden meist nur die kurzfristigen Effekte einer Einzeldosis im Labor. Die große Frage jedoch ist, ob sich mit Oxytocin auch das Alltagsleben von Autisten verbessern lässt, wenn der Stoff über Monate geschnupft wird. Erste Pilotstudien laufen. Guastella spricht bereits von "interessanten Befunden", warnt aber: "Die Resultate sind noch nicht so großartig, dass wir glauben, Autismus heilen zu können."

Noch in diesem Frühjahr startet eine neue große Studie, die von den National Institutes of Health mit 12,6 Millionen Dollar unterstützt wird. Ein Team um die Psychiaterin Linmarie Sikich von der University of North Carolina (UNC), Chapel Hill, wird 300 autistische Kinder im Alter von drei bis 17 Jahren begleiten. Diese werden in einer kontrollierten, doppelblinden Studie sechs Monate lang zweimal täglich Oxytocin-Nasenspray oder Placebos erhalten. Die Forscher werden auf Nebenwirkungen achten und das Sozialverhalten beobachten.

Insgesamt laufen derzeit 44 neuropsychiatrische Studien mit dem Hormon, drei Viertel von ihnen bei anderen Störungen als Autismus. Pilotstudien bei Schizophrenen deuten darauf hin, dass Oxytocin psychotische Symptome dämpfen und die soziale Kognition verbessern kann.

Die Effekte seien moderat, aber ermutigend, sagt Cort Pedersen, ein Psychiater und Neurobiologe an der UNC Chapel Hill. Für ihn geht es um Grundsätzliches: "Das menschliche Gehirn entwickelte sich, um mit sehr komplexen sozialen Umgebungen zurechtzukommen", sagt Pedersen. Die sozialen Regelkreise im Gehirn würden aber in der Psychopathologie zu häufig ignoriert. Das sei es, was Oxytocin so aufregend mache. "Eines der wirklich coolen Dinge bei Oxytocin ist, dass es wahrscheinlich eine zentrale Rolle im sozialen Gehirn spielt", sagt er.

Skepsis gegenüber dem Optimisums

Gegen diesen Optimismus wenden sich Skeptiker, die vor übertriebener Hast warnen. "Da ist dieser schnelle Sprung von Einzeldosen Oxytocin bei gesunden Erwachsenen hin zu autistischen Kindern, deren Gehirne sich noch entwickeln", warnt die Neurowissenschaftlerin Karen Bales von der University of California, Davis. "Mir scheint, dass wir wirklich eine Stufe überspringen." Sie weiß, dass im Tierversuch sogar eine Einzeldosis Oxytocin "langfristige Verhaltensänderungen und neuroendokrine Störungen verursachen kann".

Seit Kurzem versuchen Bales und ihre Kollegen die typischen klinischen Autismusstudien an Jugendlichen im Experiment mit jungen Präriewühlmäusen nachzustellen. Sie verabreichen den Tieren über drei Wochen tägliche Oxytocin-Spritzer in die Nase, vergleichbar einer Tagesdosis bei Menschen. Kurzfristig verhielten sich die Wühlmäuse wie erwartet sozialer, blieben länger in engem Kontakt mit ihren Käfiggenossen. Doch als Erwachsene zeigten sie ein für ihre Art gestörtes Verhalten: Die Oxytocin-Männchen verschmähten häufiger ihre Lebensgefährtin und wandten sich fremden Weibchen zu.

Bereits in früheren Arbeiten hatte Bales beobachtet, dass Präriewühlmäuse als Erwachsene ein abnormales Bindungs- und Brutpflegeverhalten entwickelten, wenn sie am Tag ihrer Geburt mit Oxytocin behandelt worden waren. So taten Männchen sich schwer bei der Paarung. Es gelang ihnen deutlich seltener, Sperma im reproduktiven Trakt der Weibchen zu deponieren. Könnte es sein, dass der wiederholte Gebrauch von Oxytocin seine Vorteile zunichte macht oder sogar umdreht? Vielleicht weil das Gehirn irrtümlich glaubt, dass es selbst weniger Oxytocin produzieren muss?

Weitere Hinweise, dass Oxytocin nicht nur das Kuscheln befördert, fanden 2010 Forscher um den Psychologen Carsten De Dreu von der Universität Amsterdam. Sie gaben das übliche Oxytocin-Nasenspray Männern, die in einem Computerspiel in kleinen Teams um Geld spielten. Die Probanden verhielten sich zwar altruistischer zu ihren Teamkollegen - doch zugleich neigten sie eher dazu, die Gegner präventiv zu bestrafen. In einer weiteren Studie berichtete De Dreu, dass Oxytocin die Probanden im Spiel dazu brachte, die eigene ethnische Gruppe zu bevorzugen, aber Ausländer stärker abzulehnen.

Einige Forscher halten deshalb Oxytocin für ein ambivalentes Medikament: "Anfangs dachte jeder, dass es sehr robuste prosoziale Effekte hat. Aber das scheint davon abzuhängen, wie man den Begriff interpretiert", sagt der Psychiater René Hurlemann von der Universität Bonn. Im vergangenen Herbst berichtete sein Team, dass Männer in einer stabilen Beziehung etwas mehr Distanz zu einer attraktiven Versuchsleiterin hielten, wenn sie Oxytocin bekommen hatten. Für Hurlemann ein weiterer Beleg, dass das Hormon existierende Paar- oder Gruppenbindungen stärkt - auf Kosten von Außenseitern. Obwohl er optimistisch bleibt, dass Oxytocin bei einigen psychischen Störungen hilft, gelte das möglicherweise nicht für alle Patienten.

Kein Medikament, das man einfach so nehmen sollte

Was das bedeuten kann, hat die Sozialpsychologin Jennifer Bartz von der McGill-University in Montreal gezeigt. Nachdem sie Oxytocin Borderlinern gegeben hatte, verhielten sich diese noch misstrauischer und unkooperativer. Die erhöhte Aufmerksamkeit für soziale Signale kann offenbar kontraproduktiv sein bei Menschen, die ohnehin hyperwachsam und ängstlich in sozialen Situationen sind.

Der Erfolg oder das Versagen von Oxytocin wird also auch davon abhängen, dass man die Störungen und Patienten findet, die positiv auf das Medikament reagieren. So gibt es auch Hinweise, dass Menschen unterschiedliche Oxytocin-Rezeptor-Gene besitzen, die ebenfalls die Wirkung beeinflussen. Und vermutlich ist auch die konkrete Behandlungssituation wichtig.

"Meiner Ansicht nach profitiert man von einer Stimulation des Oxytocin-Systems am ehesten, wenn man es mit einer kognitiven Verhaltenstherapie kombiniert", sagt etwa Larry Young von der Emory University. Beim Therapeuten könnte das Hormon bewirken, dass Kinder empfänglicher für beruhigende soziale Signale werden. Oxytocin sei aber kein Medikament, das man einfach so einnehmen sollte. "Angenommen, man gibt es einem Kind, das geht dann in die Schule und wird gemobbt. Dann wird es sogar schlimmer."

Trotz der vielen Unbekannten plädieren andere Forscher vehement für die klinischen Studien mit Oxytocin - allein schon deshalb, weil etwa bei Autismus andere Optionen fehlen. Die üblichen antipsychotische Wirkstoffe dämpfen zwar Aggressionen, bewirken aber nichts bei den sozialen Defiziten und haben potenziell schwere Nebenwirkungen, sagt die Entwicklungspsychologin Geraldine Dawson, leitende Wissenschaftlerin der Organisation Autism Speaks. "Oxytocin könnte das erste Medikament sein, das die Kernsymptome von Autismus angeht."

Außerdem seien die Eltern autistischer Kinder bereits jetzt äußerst experimentierfreudig, warnt Linmarie Sikich, die Leiterin der geplanten Autismus-Großstudie. "Wahrscheinlich lassen sich bereits jetzt Tausende Menschen in Apotheken Oxytocin-Präparate zusammenmischen", sagt Sikich. "Es ist wirklich wichtig, dass wir Daten zur Sicherheit erheben und herausfinden, was wirkt und was nicht."

Dieser Text ist in der aktuellen Ausgabe von Science erschienen, dem internationalen Wissenschaftsmagazin der AAAS. Weitere Informationen: www.aaas.org, www.sciencemag.org. Deutsche Bearbeitung: Christian Weber

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