Simulierter Giftgasangriff:Grüne Wolken über Hamburg

Was passiert, wenn Terroristen Giftgas in der Hansestadt freisetzen oder auf der Elbe ein Tankschiff mit Chlorgas havariert? Im Windkanal spielen Physiker solche Szenarien mit Hilfe eines Stadtmodells durch.

Klaus Sieg

Das Modell sieht aus, als hätte es Hamburgs Fremdenverkehrsamt in Auftrag gegeben. Das Rathaus ist zu sehen, die Mönckebergstraße sowie jeweils ein Stück von Elbe und Alster. Und die fünf Kirchtürme, die für die einmalige Silhouette der Stadt stehen. Sogar die Elbphilharmonie, Hamburgs umstrittenste Baustelle, ist fertig. Auch um ihre Fassade kann jetzt der Südwest-Wind streichen, den der große Propeller am Ende des Kanals erzeugt.

Simulierter Giftgasangriff: Von einem grünen Laser beleuchtet zeigen sich die Schlieren und Schwaden, die ein an sich farbloses Gas über dem Modell der Innenstadt von Hamburg wirft. Der Wind im Windkanal an der Hamburger Universität bläst stetig aus Südwest, das Probegas wurde - so das Szenario des Experiments - von einem Schiff auf der nahen Elbe freigesetzt. Es verteilt sich nicht uniform im Stadtgebiet, weil der Wind von Häusern verwirbelt wird. In der Mitte des Bildes ist die Hauptkirche St. Petri zu sehen, links das Rathaus, im Hintergrund die Binnenalster.

Von einem grünen Laser beleuchtet zeigen sich die Schlieren und Schwaden, die ein an sich farbloses Gas über dem Modell der Innenstadt von Hamburg wirft. Der Wind im Windkanal an der Hamburger Universität bläst stetig aus Südwest, das Probegas wurde - so das Szenario des Experiments - von einem Schiff auf der nahen Elbe freigesetzt. Es verteilt sich nicht uniform im Stadtgebiet, weil der Wind von Häusern verwirbelt wird. In der Mitte des Bildes ist die Hauptkirche St. Petri zu sehen, links das Rathaus, im Hintergrund die Binnenalster.

(Foto: Martin Egbert / http://www.martin-egbert.de/)

Die Wissenschaftler des Meteorologischen Instituts der Hamburger Universität haben diesen Teil der Stadt allerdings nicht wegen seiner touristischen Highlights ausgewählt. Auf dem nur rund fünf Quadratkilometer großen Ausschnitt befinden sich auf engstem Raum Industrie- und Hafenanlagen, belebte Shoppingmeilen, zahlreiche Straßen sowie Wohn- und Bürohäuser.

Frank Harms kniet auf der Mitte der Elbe und kontrolliert ein Messgerät. Vorsichtig erhebt er sich. Ein falscher Schritt und seine Füße würden den an den Landungsbrücken vertäuten Frachter zermalmen, auch wenn der Wissenschaftler nur Socken trägt. Frank Harms zeigt das Modell: "Anhand dieses Untersuchungsgebietes lässt sich sehr gut herausfinden, wie sich Gefahrstoffe in einer dicht bebauten Stadt ausbreiten."

Wenn ein Tankschiff mit Chlorgas auf der Elbe havariert, aus einer Industrieanlage Ammoniak austritt oder Terroristen das Nervengas Sarin freisetzen, müssen Rettungskräfte einschätzen können, wie sich die giftigen Stoffe in der Luft verteilen - um die Quelle zu orten und die weitere Ausbreitung der Gefahrstoffe zu prognostizieren. So können sie gezielt evakuieren und die eigene Gefährdung besser abschätzen. Hauptgeldgeber der Untersuchung ist deshalb auch das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe in Bonn.

Mit den Hamburgern haben sie den richtigen Partner. Hier unten im Keller des Geomatikums, eines Hochhauses aus Waschbeton im Universitätsviertel, steht der größte Windkanal für Grenzschichten in Europa. "Die Grenzschicht ist der Teil der Atmosphäre in dem die Luft merkt, unten auf der Erdoberfläche bremst irgendetwas." Frank Harms grinst. "Je nach Beschaffenheit der Erdoberfläche kann die Grenzschicht fünfhundert oder auch zweitausend Meter hoch sein." Mehrere Universitäten in Deutschland verfügen über Grenzschicht-Windkanäle, doch werden dort meist andere Fragestellungen untersucht.

Der Hamburger Windkanal steht auf massiven Betonpfeilern, hat die Ausmaße eines ICE-Waggons und hört auf den Namen "Wotan". Zuletzt hat man hier die Ausbreitung von Schadstoffen am Beispiel von Oklahoma City untersucht. Nun steht in seinem Inneren erstmalig das Modell einer deutschen Stadt.

Über Monate haben Modellbaubetriebe in Mecklenburg-Vorpommern und Berlin Hunderte Gebäude, Hafenkräne und Schiffe aus Styropor nachgebaut. Mehrere Wochen hat es dann gedauert, bis die Wissenschaftler alle Modelle richtig angeordnet hatten. Mit Hilfe detaillierter Karten, digitaler Daten und eines Laserpointers projizierten sie die Koordinaten für die korrekte Aufstellung der Gebäude auf die Modellplatte. Stundenlang knieten sie auf untergelegten Styroporplatten, um die Eckpunkte der Gebäude zu markieren.

"Kleinste Abweichungen können zu großen Fehlern führen", sagt Frank Harms. Schließlich wurde das Modell in einem Maßstab von 1:350 gebaut. Eine Ungenauigkeit von nur einem Millimeter misst in der Realität immerhin 35 Zentimeter. Und ob eine Toreinfahrt eineinhalb Meter oder einen Meter breit ist, kann maßgeblich beeinflussen, wie schnell die Luft durch sie hindurch strömt. Innerhalb von drei Metern kann sich in einer Straßenschlucht die Windgeschwindigkeit halbieren. Viele kleine Fehler summieren sich unter Umständen zu einer großen Ungenauigkeit.

Doch nun stimmt alles. Das Team beginnt mit seinen Messreihen. Durch kleine, blaue Schläuche unter dem Windkanal leiten die Wissenschaftler Ethan in das Stadtgebiet. Ethan ist ungefährlich und hat eine ähnliche Dichte wie Luft. Von dem Verhalten des Referenzgases schließen die Wissenschaftler rechnerisch auf das von anderen Gasen.

In Zusammenarbeit mit Hamburger Rettungskräften wählten die Wissenschaftler zehn mögliche Standorte als Quellen für die Emission des Gases aus, unter anderem auf einem Schiff, in der belebten Innenstadt und unter dem U-Bahnviadukt am Baumwall. Für diese Quellen entwickelten sie Szenarien, die sich unter anderem durch die Dauer der Freisetzung oder die Konzentration des Gases unterscheiden.

Unsichtbare Gefahr

Ein Messgerät mit einer langen Kanüle schwebt wie ein Ufo über der Miniaturstadt. Dieser sogenannte Flammenionisations-Detektor kann an jeden beliebigen Punkt gefahren werden, wo er das Luft-Gas-Gemisch ansaugt und den Ethangehalt misst. Mit dem Gerät sind sehr feine Schwankungen der Konzentration in sehr schnellen Wechseln messbar.

Windkanal Wotan in Hamburg  erprobt die Verbreitung schädlicher Gase

Der wissenschaftliche Mitarbeiter Stephan Werk am Modell von Hamburg. Eine Ungenauigkeit von einem Millimeter misst in der Realität 35 Zentimeter.

(Foto: Martin Egbert / http://www.martin-egbert.de/)

Zu sehen und zu hören ist das Gas nicht. Nur das Brummen des großen roten Propellers dröhnt durch den Keller. Frank Harms steht mit verschränkten Armen vor dem Oszilloskop. Er hält den Zeigefinger an die Lippen und starrt auf die flimmernden Diagramme. Hinter ihm laufen Zahlenreihen über Computerbildschirme.

Doch die Wissenschaftler können das Geschehen auch visualisieren. Sie müssen nur ein grünes Laserlicht anschalten und schon tritt eine giftgrüne Wolke aus der Quelle auf der Elbe, wabert über die Landungsbrücken und zieht in langen Schlieren durch die Straßen des Portugiesenviertels rund um den Michel.

An dem 132 Meter hohen Turm der nordöstlich davon gelegenen Petrikirche zieht das Gas nach oben und verdünnt sich. "Hohe Einzelgebäude haben einen großen Einfluss, sie verstärken die Vermischung der Luft in der Vertikalen, das Gas zieht schneller nach oben ab und frische Luft von oben wird nach unten getragen", sagt Frank Harms.

Das ist nur ein Detail in dem Chaos aus verwirbelten Gebilden, die ständig ihre Form verändern, umeinander kreisen, sich vereinigen und wieder zerfließen. So versteht man, wie die Windböen entstehen, die einem bei stürmischen Wetter plötzlich entgegenschlagen wenn man um die Ecke biegt. Oder die Strudel aufgewirbelten Laubs, die der Wind um die Häuser treibt.

Sogar bei einer konstanten Freisetzung eines Schadstoffes und bei gleichen Windgeschwindigkeiten können die Unterschiede bei seiner Ausbreitung entsprechend groß sein.

Warum aber lassen die Meteorologen die Szenarien nicht einfach vom Computer ausrechnen? Eine Frage, die sie in Zeiten knapper Forschungsbudgets immer wieder gestellt bekommen. Bernd Leitl lächelt und nickt geduldig. "Wir kopieren die Physik anstatt sie zu simulieren", sagt der Projektleiter und Professor am Meteorologischen Institut. "Unser Modell ist zwar auch eine Vereinfachung, aber physikalisch und geometrisch weitaus komplexer, als es ein Computermodell sein kann."

Die Großrechner und Programme werden allerdings immer besser. Mit den Schöpfern eines komplexen Rechnermodells i, Naval Reserach Laboratory Washington D.C. arbeiten die Hamburger bereits zusammen. Die Ergebnisse aus dem Windkanal sollen die Gegenprobe liefern. "Am Computer werden immer umfangreichere Rechenvorgänge möglich", sagt Leitl. "Aber wer kann die noch überprüfen?" Wotan bleibt wahrscheinlich noch eine Weile im Dienst.

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