Serie: 200 Jahre Darwin (13):Wie biologisch die Moral ist

Moral kann doch nicht nach denselben Prinzipien erklärt werden wie die Körperbehaarung! Aber warum eigentlich nicht? Was uns die Biologie vorschreibt - und wo sie Spielraum lässt.

Kurt Bayertz

Seit ihrer Entstehung ist die Theorie Darwins dem Verdacht ausgesetzt gewesen, die Moral (und natürlich auch die Religion) zu untergraben. Von Ausnahmen abgesehen, haben das die Vertreter dieser Theorie energisch bestritten.

Serie: 200 Jahre Darwin (13): Affen "verhalten" sich, mal offen, mal aggressiv, mal altruistisch - doch gesellschaftliche Normen kennen sie nicht.

Affen "verhalten" sich, mal offen, mal aggressiv, mal altruistisch - doch gesellschaftliche Normen kennen sie nicht.

(Foto: Foto: AP)

Bereits Darwin selbst hat in seinem 1871 erschienenen Buch "Die Abstammung des Menschen" die Moral als den weitaus bedeutungsvollsten Unterschied zwischen Mensch und Tier charakterisiert und sich eingehend mit ihrer Entstehung beschäftigt.

Spätere Evolutionstheoretiker sind noch einen Schritt weiter gegangen und haben den Spieß umzukehren versucht. Wie weit, so fragen sie, haben es denn die philosophischen und theologischen Hüter der Moral gebracht?

Haben sie Fundamente zu legen vermocht, auf denen die Moral sicher stehen kann? Offenbar nicht! Bei Philosophen und Theologen scheint die Moral daher nicht in den richtigen Händen zu sein.

Die Ethik, so forderte der Soziobiologe Edward O. Wilson in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts, dürfe nicht länger denen überlassen bleiben, "die lediglich weise sind". Die Zeit sei gekommen, die Ethik auf wissenschaftliche Füße zu stellen: auf die Füße der Evolutionstheorie.

Die Grundidee einer solchen "evolutionären Ethik" besteht darin, dass der Mensch kein übernatürliches, sondern ein biologisches Wesen ist, dessen Lebensäußerungen von biologischen Faktoren abhängt. Auch die Moral macht davon keine Ausnahme. Und wenn das so ist, dann kann für sie ebenso eine evolutionäre Erklärung gegeben werden, wie für alle anderen Verhaltensweisen oder körperlichen Merkmale des Menschen.

In ihrem Kern besteht eine solche Erklärung immer darin, die Vorteile zu identifizieren, die ein solches Verhalten oder Merkmal für die "Fitness", also den Fortpflanzungserfolg der betreffenden Organismen bietet. Auf lange Sicht, so die einleuchtende Grundthese, kann sich auch moralisches Verhalten nur dann durchsetzen, wenn es zu einer möglichst zahlreichen Nachkommenschaft beiträgt.

Keine Erfindung weltfremder Moralisten

Eine solche Deutung wird von vielen als Provokation empfunden. Die Moral kann doch nicht nach denselben Prinzipien erklärt werden wie die menschliche Körperbehaarung! Aber warum eigentlich nicht? Wem an der Moral gelegen ist, der sollte nicht protestieren, wenn die empirische Wissenschaft ihre Wurzeln in den Natur aufzuspüren versucht.

Dass die Moral eine Geschichte, auch eine Naturgeschichte hat, ist ihrer Würde durchaus nicht abträglich. Es ist eher ein Hinweis darauf, dass sie keine Erfindung weltfremder Moralisten, kein Instrument theologischer Dunkelmänner und kein Hirngespinst philosophischer Phantasten ist, sondern eine biologische Notwendigkeit.

Aber was heißt hier Moral? Nehmen wir etwa einen Verhaltensforscher, der mit Schimpansen arbeitet und beobachtet, wie das eine Tier dem anderen zur Hilfe kommt oder es tröstet, nachdem dieses von einem Artgenossen angegriffen wurde.

Nehmen wir weiter an, dass sich die Beispiele für empathisches, dankbares oder altruistisches Verhalten als keineswegs selten erweisen. Daraus kann dann geschlossen werden, dass das moralische Handeln von Menschen nur ein spezieller Fall einer viel allgemeineren, auch unter Tieren verbreiteten Disposition zu moralischem oder proto-moralischen Verhalten ist.

Das nimmt uns Menschen zwar ein Stück von unserer Besonderheit, stellt die Moral aber zugleich auf ein breiteres Fundament in der Natur. Ähnlich ist es mit den Befunden der Soziobiologie, nach denen die Opfer, die (tierische ebenso wie menschliche) Eltern für ihre Kinder erbringen, eine solide genetische Basis haben. Da Fürsorge für die eigenen Kinder zweifellos eine moralische Norm ist, kann der Soziobiologe auf biologische Wurzeln dieser Norm verweisen.

Empathie und Aggression

Bevor wir uns über dieses Ergebnis allzu sehr freuen, sollten wir aber eine Frage stellen. Woher weiß der Verhaltensbiologe, dass gerade das Trösten eines angegriffenen Tieres (proto-)moralisch ist? Immerhin ist der getröstete Affe ja von einem Artgenossen angegriffen worden; warum gilt dieser Angriff nicht als (proto-)moralisch?

Primaten, so sehen wir an diesem Beispiel, haben ein Verhaltensrepertoire, das Empathie ebenso einschließt wie Aggression. Beide Verhaltensweisen sind "natürlich" und beide, so nehmen wir an, haben eine biologische Funktion.

Wenn unser Verhaltensforscher nur die erste der beiden als Wurzel der menschlichen Moral charakterisiert, so geht er von einem kulturell geprägten Vorverständnis von dem aus, was "moralisch" ist und was nicht.

Allgemein ausgedrückt: Eine evolutionäre Ethik kann zwar ein bestimmtes Verhalten biologisch erklären, sie kann es aber nicht aus biologischen Gründen als (proto)moralisch charakterisieren.

Das heißt: Eine biologische Ethik kann ihren Gegenstand nicht aus sich selbst heraus bestimmen. Sie ist nicht voraussetzungslos, sondern muss sich von anderer Seite sagen lassen, was Moral überhaupt ist - und kann erst dann nach ihren biologischen Wurzeln fahnden.

Aufopfernde Eltern

Dass es, wie wir hier sehen, kein biologisches Moralitätskriterium gibt, ist zwar kein Fehler der evolutionären Ethik. Es zeigt aber eine prinzipielle Grenze jeder Biologisierung der Ethik.

Die Relevanz dieses Punktes ist beträchtlich. Sie zeigt sich daran, dass um die Frage, was Moral eigentlich ist, ausgedehnte Debatten geführt werden: nicht nur in der Philosophie, sondern in modernen Gesellschaften allgemein.

Obwohl die Antwort durchaus nicht von vornherein klar ist, gehen die evolutionären Ethiker von einem sehr spezifischen Verständnis von "Moral" aus, als wenn es sich dabei um eine Selbstverständlichkeit handelte. Moral wird nämlich mit Altruismus gleichgesetzt.

Der Schimpanse, der einem anderen hilft, verhält sich altruistisch und also moralisch; ebenso die Eltern, die für ihre Kinder Opfer bringen. Nun ist zwar schwer bestreitbar, dass Moral und Altruismus miteinander verwandt sind, ihre Gleichsetzung ist jedoch schlicht falsch.

Denn die Moral ist zugleich enger und weiter als der Altruismus. Enger, weil nicht jedes altruistische Verhalten moralisch ist. (Wer Geld stiehlt, um es zu verschenken, handelt vielleicht altruistisch, aber nicht moralisch.) Weiter, weil die Moral unverzichtbarerweise Gerechtigkeit einschließt.

Diese ist nicht auf Altruismus reduzierbar, denn sie folgt einer ganz anderen "Logik": einer Logik der Unparteilichkeit, deren biologische Wurzeln mehr als dünn sind.

Evolutionäre und philosophische Ethik - ein Unterschied

Dass die evolutionäre Ethik "Moral" mit einer bestimmten Art von Verhalten, nämlich mit altruistischem Verhalten, gleichsetzt, liegt natürlich auch an der Tatsache, dass Verhalten ein empirisch zugängliches Phänomen ist. Zumindest bei Tieren gibt es kein anderes empirisch zugängliches Phänomen, anhand dessen ihre (Proto-)Moral untersucht werden könnte.

Beim Menschen ist das aber anders. Menschen verhalten sich nicht nur moralisch; sie verfügen auch über moralische Normen, nach denen sie ihr Handeln wechselseitig bewerten. Wenn im Alltag von "Moral" die Rede ist, meinen wir oft gerade die moralischen Normen.

Verhalten und Normen

Und die philosophische Ethik nimmt das tatsächliche Verhalten von Menschen meist nur beiläufig in den Blick und konzentriert ihre Aufmerksamkeit auf einzelne Normen oder auch ganze Normengefüge.

Dieser Unterschied zwischen evolutionärer und philosophischer Ethik verdient festgehalten zu werden. Denn zwischen Verhalten und Normen besteht ein kategorialer Unterschied.

Das erstere ist ein körperlicher Vorgang, der unmittelbar an die jeweilige biologische Konstitution des betreffenden Organismus gebunden bleibt und daher mit den Mitteln der Biologie gut untersucht werden kann.

Normen hingegen lösen sich von dieser biologischen Konstitution mehr oder weniger ab. Sie entstehen als implizite verallgemeinerte Verhaltenserwartungen zwischen den Individuen. Sie können dann explizit versprachlicht und bisweilen auch verschriftlicht werden. In einigen Fällen werden sie darüber hinaus auch förmlich institutionalisiert, etwa im Recht.

Auf diese Weise gewinnen sie ein außerbiologisches Dasein. Ähnlich wie Werkzeuge, können sie als Artefakte aufgefasst werden, die eine (relativ) selbständige Existenz haben. Ein Faustkeil ist zunächst nur eine Verlängerung der menschlichen Hand; im Unterschied zu ihr kann er aber von verschiedenen Personen benutzt, in der Generationenfolge vererbt und schrittweise verbessert werden.

Beispiel Faustkeil

Während die Hand als Organ eng an biologische Faktoren gebunden bleibt, entgleitet der Hammer diesen Faktoren und gerät unter den Einfluss anderer, die sich als "kulturell" charakterisieren lassen.

Ähnliches geschieht mit den moralischen Normen. Entstanden als verallgemeinerte und versprachlichte Verhaltenserwartungen, lösen sie sich von diesen biologischen Wurzeln. Sie können (wie der Faustkeil) von mehreren Individuen geteilt und in der Generationenfolge weitergegeben werden.

Die Individuen können sie "bearbeiten" wie den Faustkeil, d. h. sie können über diese Normen diskutieren, sie können sie aus Gründen verändern oder aufgeben. Genau hier setzt im übrigen die philosophische Betrachtung der Moral ein; sie ist ein Beitrag zu dieser kulturellen "Bearbeitung".

Sie versucht die Moral besser zu verstehen, ihre Normen kritisch zu prüfen und rational zu begründen. Sie nistet sich genau in dem Spielraum ein, der durch die Verselbständigung der Normen gegenüber dem Verhalten, durch den Übergang von der biologischen zur kulturellen Existenzweise entsteht, und nutzt ihn für ihre Überlegungen zu der Frage: Welche Normen sollen (z. B. aus Gründen der Vernunft oder des Wohlergehens) gelten?

Natürlich darf man diesen Spielraum nicht überschätzen. Wir können unsere biologische Konstitution nicht ablegen wie ein Kleidungsstück. Eine Moral, die uns den Verzicht auf Essen und Trinken abverlangen würde, hätte sicher keine lange Lebenserwartung: Sie würde mit denjenigen sterben, die ihre Vorschriften befolgen.

Biologie lässt einen Spielraum

Doch auch wenn die Normen immer nur eine relative Selbständigkeit gegenüber den biologischen Faktoren haben können, bleibt doch ein Spielraum, der groß genug ist für die Entwicklung unterschiedlicher, ja divergierender Normensysteme.

Wenn in einigen Ländern die Abtreibung verboten, in anderen hingegen erlaubt ist, dann wird man dies wohl kaum darauf zurückführen können, dass die biologische Konstitution der Menschen in diesen Ländern unterschiedlich ist. Man beachte, dass damit eine Norm angesprochen ist, die unmittelbare Auswirkungen auf den biologisch so eminent wichtigen Fortpflanzungserfolg hat.

Man sollte erwarten, dass der Korridor der biologisch möglichen Lösungen hier besonders eng ist. Tatsächlich aber lässt gerade dieses Beispiel den Einfluss jener kultureller Faktoren deutlich werden, die von den evolutionären Ethikern gern unterschätzt werden.

Stellen wir uns abschließend einen Evolutionstheoretiker vor, der sich nicht mit der Moral, sondern mit der Physik befasst. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass er auf diesem Gebiet vieles Interessante zu erforschen hätte.

Er könnte zunächst ganz allgemein geltend machen, dass auch Physiker keine freischwebenden Geister, sondern leibhaftige Menschen sind, deren Tun und Lassen von biologischen Faktoren abhängt. Er könnte dann in einem zweiten Schritt darauf hinweisen, dass alle Fähigkeiten, die Physiker benötigen, um ihre Theorien zu entwickeln und experimentell zu testen, evolutionär entstanden sind.

Bäume sind auch Kultur

Weiter könnte er die Triebkräfte herausarbeiten, die Menschen dazu bringen, sich mit physikalischen Fragen zu beschäftigen; es wäre sicher nicht schwer, dabei auch auf die Maximierung des Fortpflanzungserfolges zu stoßen. Schließlich könnte er auch den biologischen Nutzen der Physik für die Menschheit insgesamt herausarbeiten, die Sicherung des Überlebens durch Technik beispielsweise.

Auf diesem Wege könnte er die biologischen Wurzeln der Physik freilegen. Eines aber sollte er gar nicht erst versuchen: Aus diesen Befunden schließen, dass der Inhalt der physikalischen Theorien, das Newtonsche Gravitationsgesetz oder die Heisenbergsche Unbestimmtheitsrelation etwa, biologisch determiniert sei.

Zugegeben: Physik und Moral sind nicht dasselbe. Doch insoweit sind sie ähnlich, als sich ihr jeweiliger gedanklicher Inhalt nicht restlos aus den biologischen Wurzeln ergibt.

Daraus lassen sich zwei Einsichten gewinnen. Die erste besteht darin, dass die Freilegung ihrer biologischen Wurzeln kein Anschlag auf die Moral ist. Eine wirkliche Provokation kann die evolutionäre Ethik nur für diejenigen sein, die daran festhalten wollen, dass die Menschheit die moralischen Normen auf dem Berg Sinai von höchster Stelle fix und fertig mitgeteilt bekommen hat.

Die zweite Einsicht besteht darin, dass mit der Freilegung ihrer biologischen Wurzeln noch lange nicht alles über die Moral gesagt ist. Selbst über Bäume gibt es mehr zu wissen, als die Biologie uns vermitteln kann. Die Zeiten eines Ernst Haeckel, der die Evolutionstheorie für den Zauberschlüssel zur Lösung aller Welträtsel hielt, sollten vorbei sein.

Der Autor Kurt Bayertz lehrt praktische Philosophie an der Universität Münster. Er veröffentlichte das Buch "Warum überhaupt moralisch sein?" (Verlag C.H. Beck, 2004) und ist Mitherausgeber des dreibändigen Werks "Weltanschauung, Philosophie und Naturwissenschaft im 19. Jahrhundert" (2007).

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