Serie: 200 Jahre Darwin (14):Route der Erkenntnis

Wanderjahre für die Wissenschaft: Die vielen Stationen seiner fünfjährigen Weltreise lieferten Charles Darwin die Puzzlestücke für seine Theorie.

Richard Friebe

Kein Strand, keine Sehenswürdigkeit - es gibt eigentlich keinen Grund, an diesem Ort nördlich von Rio de Janeiro Halt zu machen. Allerdings hat genau hier auf der Fazenda Itaocaia an Brasiliens Küste vor knapp 180 Jahren ein berühmter Europäer mittags Rast gemacht.

Serie: 200 Jahre Darwin (14): Charles Darwin reiste fünf Jahre auf dem Forschungsschiff Beagle um die Welt.

Charles Darwin reiste fünf Jahre auf dem Forschungsschiff Beagle um die Welt.

(Foto: Foto: dpa)

Charles Darwin notiert am Abend jenes 8. April 1832 in sein Tagebuch, dass es "gewaltig heiß" gewesen sei. Er schreibt auch von jenem "Wald, in dem die Pracht all seiner Teile unübertrefflich war". Sonnenstrahlen durchdringen das verschränkte Blätterdach, große, schillernde Schmetterlinge umflattern den jungen Engländer, der schreibt, er sei "vollkommen ratlos, wie er die Szenen im Wald gebührend bewundern könnte". Es ist kein gewöhnlicher Tag, es ist der Tag, an dem die Verwandlung Darwins von einem bloßen Beobachter und Sammler exotischer Pflanzen und Tiere zu einem der wichtigsten Naturforscher aller Zeiten einsetzt.

Die Weltumseglung auf dem Forschungsschiff Beagle gilt als das entscheidende Ereignis auf Darwins Weg zu seiner Theorie der Evolution durch natürliche Selektion. Oft wird die fünfjährige Reise auf die fünf Wochen reduziert, die Darwin auf den Galapagos-Inseln verbrachte. Tatsächlich waren andere Orte mindestens genauso wichtig für seine Entwicklung: ein Erdbebengebiet in Chile, die Wasserscheide hoch in den Anden, Korallenriffe in der Südsee - und Rio, wo Darwin nach der Abreise aus Europa den ersten längeren Landausflug unternahm. Es ist der Beginn langer Expeditionen, er verbringt auf der Reise nur 18Monate an Bord und mehr als drei Jahre an Land. Es waren, schreibt der Harvard-Biologe Edward O. Wilson in seiner Einleitung einer Neuausgabe des Beagle-Reiseberichtes, die Wanderjahre der wissenschaftlichen Entwicklung Darwins.

Darwin als Gentleman-Naturalist und Geologe

In Rio bricht er auf, um zwei Wochen lang ins Hinterland zu reisen und Proben zu nehmen. Zwei Tage, die er dabei im Wald verbringt, bezeichnet er als "besten Teil der ganzen Expedition", weil es ihm gelingt, "viele Insekten und Reptilien zu sammeln". Darwin ist noch ganz der Gentleman-Naturalist, der reiche Sammler. Er nimmt Pflanzenproben, tötet und konserviert Tiere - und zwar nicht, weil er glaubt, sie könnten ihm bei der Arbeit an irgendeiner Theorie helfen.

Nein, in jener Zeit stellt eine ordentliche Sammlung einen echten monetären Wert dar und ist der wichtigste Nachweis einer erfolgreichen Forschungsreise. Erst nach der Rückkehr nach England sollten die vielen Stücke zu einem wichtigen Baustein seiner Evolutionstheorie werden. Auf der Reise jedoch interessiert die lebende Natur Darwin eigentlich nur nebenbei. Obgleich der studierte Theologe in England das Käfersammeln als Hobby gepflegt hatte, wollte er auf der Beagle vor allem eines sein: Geologe.

Dabei leitet ihn neben seiner Neugier auch das Glück, besonders als er im Februar 1835 bei Valdivia in Chile ein starkes Erdbeben erlebt. Nach drei Jahren Forschungsreise und einer langen Zeit in Patagonien und Feuerland genügt Darwin allerdings das bloße Dabeisein und Dokumentieren nicht mehr. Er will die Natur nicht nur beschreiben, sondern verstehen, Theorien aufstellen und mit Fakten untermauern. Darwin macht sich daran, unterstützt vom Kapitän der Beagle, Robert FitzRoy, die Brüche der Landschaft zu vermessen.

Um mehr als zwei Meter hat sich die Küste bei Valdivia angehoben, stellt der Kapitän fest. Wenn solche Hebungen, viele von ihnen, in der Erdgeschichte immer wieder stattgefunden haben, schließt Darwin, können sie auch die Funde von Meeresfossilien hoch in den Bergen erklären. Er führt seine Beobachtungen mit der Theorie einer sich beständig langsam bewegenden Erdkruste zusammen, die der damals noch verlachte Geologe Charles Lyell in seinem Werk "Principles of Geology" vertrat, das für Darwin zu seiner Reise-Bibel geworden ist.

Die Geburtsstunde der Evolutionstheorie

Die Geburtsstunde der Evolutionstheorie

Wissenschaftshistoriker sehen darin die Initiation des Theoretikers Darwin: "Nichts konnte ihn danach mehr umhauen, keine Hypothese war zu unwahrscheinlich für seine fruchtbare Vorstellungskraft", schreibt Janet Browne aus Harvard. Seine Einsicht, dass viele für sich kaum sichtbare Veränderungen, etwa kleine Landhebungen nach Erdbeben, über lange Zeiträume sich zu großen Veränderungen addieren können, sollte zur konzeptionellen Grundvoraussetzung für seine Evolutionstheorie werden, auch wenn sie während der Reise noch nicht einmal angedacht war.

Von Chile bricht Darwin im März 1835 über die Anden nach Argentinien auf. Dort findet er weitere Hinweise, die sein Gedankengebäude stützen. In großen Höhen etwa entdeckt er die gleichen geologischen Ablagerungen und Fossilien wie in tiefer gelegenen Gegenden östlich und westlich der Anden. Offenbar haben sich die Berge gehoben, nachdem die geologischen Formationen entstanden waren.

Dagegen ist die Höhenlinie der Berge und besonders die Wasserscheide eine Grenze für die Lebewesen. Am Osthang des Gebirges findet der Naturforscher dieselben Arten wie auf seinen vorherigen Expeditionen von der patagonischen Küste aus, am Westhang aber ganz andere, die lediglich Ähnlichkeiten mit den Spezies im Osten aufwiesen. Später wird seine Theorie erklären, dass Vorfahren der heutigen Flora und Fauna in dem Gebiet lebten, bevor sie von den Gipfeln getrennt wurden, und dass sie sich danach zu verschiedenen Arten entwickelt haben. Doch noch beschäftigt ihn die Frage nach der Veränderung der Arten nicht.

Den Schritt vom Geologen zum Biologen macht Darwin auch im Galapagos-Archipel nicht. Er sei nur hier, um "mal einen guten Blick auf einen aktiven Vulkan zu werfen", schreibt er an seinen Freund und Mentor John Henslow in Cambridge. Die unterschiedlich geformten Schnäbel der Vögel, die der geübte Schütze Darwin auf den Inseln von Büschen und Felsen holt und als Bälge seiner naturhistorischen Sammlung beifügt, erregen seine Aufmerksamkeit weit weniger, als die Legende von den Darwin-Finken suggeriert. Sie wird vor allem dadurch genährt, dass er in eine späteren Ausgabe seines Reiseberichts einen Satz einfügt, der von der Modifikation einer Art zu verschiedenen Zwecken handelt. Da hatte ihn inzwischen ein Kollege auf den Schatz aufmerksam gemacht, den er mitgebracht hat.

Spottdrosseln, Riesenschildkröten und Korallenriffe

Tatsächlich hält es Darwin auf Galapagos nicht einmal für nötig zu dokumentieren, von welchen Inseln die einzelnen Exemplare kommen. Auch die Tatsache, dass er auf drei Inseln unterschiedliche Spottdrosseln findet, die nahe Verwandte einer Festland-Art zu sein scheinen, sowie die auf jeder Insel unterschiedlichen Panzer der Riesenschildkröten, findet er zwar interessant, aber nicht aufregend.

Von Galapagos fährt die Beagle weiter nach Westen, Darwin interessiert sich nun für Korallenriffe. Schon in den Anden hatte er eine Theorie zur Entstehung von Riffen und Atollen entwickelt. Wenn sich ein Gebirge wie die Anden hebt, muss sich anderswo auf der Erde etwas absenken, so seine Logik. Senkt sich der Meeresboden, sterben Korallen, denen es zu tief wird, hinterlassen aber ihr Kalkskelett, auf dem die nächste Korallengeneration siedeln kann. Sinkt umgekehrt der Meeresspiegel, entsteht aus dem Korallenkalk eine Insel.

Daraus formt Darwin 1842 sein erstes ganz und gar wissenschaftliches Buch. Es enthält in Grundzügen schon das Gerüst seiner Evolutionslehre: Die Theorie beschreibt eine Folge von fast unmerklich kleinen Veränderungen, die sich schließlich zu einer großen addieren und führt Geologie und Biologie zusammen.

In kleinen Schritten zum Wissenschaftler

Wie sich auf diese Weise nicht nur Inseln, sondern auch Arten ändern, darüber denkt Darwin erst nach, als er sich auf der letzten Etappe seiner Reise durch den Atlantik nach England befindet. Vielleicht fasst er die Gedanken auch in der Heimat, seine Aufzeichnungen geben kaum Auskunft. Beim Anblick eines Ameisenlöwen in Australien - einer Insektenlarve -, der einer englischen Art ähnelte, hatte er noch geschrieben, dies zeige klar, "durch das ganze Universum hindurch sei die selbe Hand" eines Schöpfers am Werk gewesen. Gegen Ende der Reise aber beginnt seine Meinung zu schwanken. Es sind vor allem Vogelbälge, die ihn zu seiner ersten Notiz veranlassen: Tiere aus benachbarten Gebieten sind ähnlich, aber unterschiedlich.

Besonders auf Archipelen fallen ihm diese Differenzen auf, bei den Füchsen der Falkland-Inseln ebenso wie bei den Vögeln und Schildkröten von Galapagos. Die Unterschiede wirken wie Übergänge, wie über Generationen erworbene Anpassungen an die jeweilige Umwelt, "Fakten, die die Konstanz der Arten untergraben könnten", notiert er. Sechs Jahre später hat er die Theorie der Evolution in einem Essay in wesentlichen Zügen ausgearbeitet, braucht aber noch 23 Jahre, bis er seine Ideen als Buch veröffentlicht: 1859 erscheint seine "Entstehung der Arten".

Diese Wandlung Darwins vom Sammler zum Forscher hatte in Rio de Janeiro begonnen. Auf der Fazenda Itaocaia nördlich der Metropole steht seit vergangenem November eine Gedenktafel, die an die "Caminhos de Darwin" erinnern soll. Gemeint sind die Wege des Naturforschers in Brasilien, doch sie stellen den Anfang verstrickter Pfade vom Studenten zum Wissenschaftler dar. Wie die Veränderung der Arten war auch die "Entwicklung von meinem Geist und Charakter", wie Darwin es im Titel seiner Autobiographie formulierte, eine Akkumulation kleiner Schritte - die letztlich in etwas Großem endete.

Bisher erschienene Teile der Darwin-Serie: www.sueddeutsche.de/darwin

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