Serie: 200 Jahre Darwin (21):Gemeinsam überlebt sich's besser

Nur der Stärkste setzt sich durch? Wer als Spezies bestehen will, muss mit Artgenossen kooperieren. Das gilt für Röhrenspinnen wie für Menschen.

Birgit Herden

Am Max-Planck-Institut für Evolutionsbiologie in Plön probt Manfred Milinski Maßnahmen gegen den Weltuntergang. Der Biologe und Mathematiker möchte herausfinden, ob Menschen ihren Egoismus zügeln können, um in gemeinschaftlicher Anstrengung die drohende Klimakatastrophe abzuwenden.

Altruimus, Amish

Altruismus am Bau: Männer aus der Religionsgemeinschaft der Amish in den USA errichten nach einem Sturm eine neue Scheune für ihren Nachbarn.

(Foto: Foto: AP)

Dazu gibt Milinski sechs ahnungslosen Studenten je 40 Euro und fordert sie zu einem Spiel über zehn Runden auf. In jeder Runde sollen sie ohne Absprache ein paar Euro in einen gemeinsamen Topf legen - oder auch gar keinen. Liegen am Ende 120 Euro im Topf, dann darf jeder behalten, was er nicht eingezahlt hat: Zahlt also jeder 20 Euro ein, bleiben jedem 20 Euro übrig. Schaffen die Studenten das Zahlungsziel aber nicht, müssen sie alle ohne einen Cent nach Hause gehen.

Das Spiel soll nachahmen, was derzeit im großen Maßstab auf der Erde geschieht. "Die gesamte Weltbevölkerung müsste sofort ihr Verhalten ändern, damit wir nicht einen Schwellenwert der Erderwärmung erreichen, ab dem extreme, unvorhersehbare Klimaveränderungen unsere Existenz bedrohen", sagt Milinski, der seine Experimente in Zusammenarbeit mit dem Klimaforscher Jochem Marotzke vom Max-Planck-Institut für Meteorologie in Hamburg ausarbeitet. Das Problem dabei: Für jeden Einzelnen wäre es eigentlich die beste Strategie, selbst keine Opfer zu bringen, sondern auf die Opferbereitschaft der anderen zu hoffen.

Dass Menschen überhaupt anderen Menschen vertrauen, vermag die klassische Evolutionstheorie kaum zu erklären. Wie kommt es zu selbstlosem Verhalten zum Wohle einer Gemeinschaft, wenn die Selektion nur solche Gene begünstigt, die am besten für ihre eigene Verbreitung sorgen - nicht für fremde? Schon Charles Darwin erkannte das Problem: "Wer bereit war, sein Leben eher zu opfern als seine Kameraden zu verraten, wie es gar mancher Wilde getan hat, der wird oft keine Nachkommen hinterlassen, welche seine edle Natur erben könnten", schreibt er in seinem Hauptwerk "Die Abstammung des Menschen".

Wohin es aber führt, wenn alle nur ihren Vorteil verfolgen, ist wohlbekannt. Am besten hat die Folgen vielleicht der amerikanische Ökologe Garret Hardin 1968 in seinem legendären Aufsatz von der "Tragedy of the Commons" beschrieben.

Diese "Tragödie der Allmende", also des Allgemeinguts, zeigte Hardin an einer von Bauern gemeinschaftlich genutzten Weide auf. Sie kann über Jahrhunderte bestehen, so lange Kriege oder Krankheiten Menschen und Vieh immer wieder dezimieren. Ist die Weide aber ausgelastet, gerät der einzelne Bauer in ein Dilemma. Schickt er neben seinen zehn Kühen noch eine weitere auf die Weide, dann wird das Gras knapp und alle Kühe bleiben ein wenig magerer.

Der Gierige kommt mit elf mageren Kühen besser weg als mit zehn wohlgenährten. Alle Nachbarn aber erleiden einen Verlust. Ihre logische Entscheidung ist daher, ebenfalls weitere Tiere auf die Weide zu schicken - folgen aber alle dieser Strategie, zerstören sie die gemeinsame Lebensgrundlage.

Die Macht der Verwandtschaft

Trotz des eindringlichen Beispiels lassen sich Altruismus und Kooperation unter Tieren und in der menschlichen Gesellschaft beobachten; der Mensch preist Nächstenliebe sogar quer durch alle Kulturen als Tugend. Am leichtesten lässt sich dieses selbstlose Verhalten unter Verwandten erklären. Sie haben schließlich Erbanlagen gemeinsam, die Hilfe kommt also in der Logik der Evolutionslehre auch den eigenen Genen zugute.

Wenn der eine Bruder dem anderen hilft, dann profitiert davon jemand, der im Mittel die Hälfte der eigenen Gene hat. Rettet einer zwei Neffen das Leben, dann tragen diese zusammen ebenso viele seiner Erbanlagen in sich wie eines der eigenen Kinder.

Dass Verwandtschaft auch unter Tieren, die sich die Familienverhältnisse nicht bewusst machen können, eine mächtige Triebfeder für Kooperation ist, hat Jutta Schneider von der Universität Hamburg demonstriert. Auf der griechischen Insel Karpathos sammelt sie regelmäßig Röhrenspinnen ein, die anders als Ameisen keine Staaten bilden. "Sie stehen erst an der Schwelle zu einer sozialen Gemeinschaft und kooperieren nur über einen begrenzten Zeitraum", erklärt die Biologin. Immerhin weben die winzigen Spinnen gemeinsam ein Netz und teilen sich den Fang. Üblicherweise injiziert jedes Tier Verdauungssekret in die Beute, bis sich das Innere des Insekts verflüssigt hat. Die Spinnen saugen es dann gemeinsam aus, zurück bleibt nur der leere Panzer.

Schneider hat nun Gruppen von jeweils sechs Jungspinnen getestet. Manchmal waren sie Geschwister, in anderen Versuchen kannten sich die Tiere zwar seit dem Schlüpfen, waren aber nicht genetisch verwandt. Als Beute bekamen die Röhrenspinnen eine betäubte Fliege. Am besten klappt die Zusammenarbeit unter Geschwistern. Unter den Ziehgeschwistern jedoch gab es Schmarotzer: Sie geizten mit dem kostbaren Verdauungssekret, und vertrauten auf die Investition der anderen. So bleibt die Fliege teilweise unverdaut. Wie die Spinnen den Verwandtschaftsgrad erkennen, kann Schneider nicht erklären, doch sie ist überzeugt: "Verwandtschaft ist eine treibende Kraft für das Entstehen von sozialen Gemeinschaften."

Sobald sich größere Gesellschaften bilden, wird das Problem allerdings komplizierter. Seit Jahren erproben daher auch Mathematiker, wie ein Wechselspiel aus Geben und Nehmen entstehen kann, ohne dass sich eigennützige Betrüger durchsetzen. In Simulationen im Computer erschaffen sie ganze Gesellschaften mit virtuellen Individuen, die aufeinander treffen und sich nach zuvor programmierten Strategien verhalten. Kooperieren zwei Individuen, so profitieren beide. Engagiert sich nur das eine, büßt der Altruist seinen Einsatz ein, während der Egoist den Gewinn einstreicht. Verweigern sich beide der Kooperation, verlieren auch beide.

Dem amerikanischen Politikwissenschaftler Robert Axelrod ist es zum ersten Mal gelungen, unter diesen Regeln eine langfristig erfolgreiche Strategie für eine Welt zu entwickeln, in der sich Computermännchen immer wieder begegnen. Sie heißt "Tit for Tat", oder auf deutsch "Wie du mir, so ich dir". Individuen, die dieser Einstellung folgen, kooperieren zunächst und riskieren so Enttäuschungen.

Lockruf des guten Rufs

Treffen sie in einer späteren Runde einen Gegenspieler wieder, dann ahmen sie dessen vorheriges Verhalten nach. Hat er zuvor die Zusammenarbeit verweigert, dann kooperieren sie nun auch nicht. Allerdings verzeihen sie den Vertrauensbruch nach einer Weile, sodass sich die gegenseitige Rache nicht endlos fortsetzen muss. Ein solcher Altruismus ist auch unter Tieren zu beobachten: Laust der eine Affe den anderen, so bekommt er von diesem eher eine Gegenleistung.

In der komplexen menschlichen Gesellschaft jedoch kann kaum jemand erwarten, alle Partner später wiederzutreffen, um dann seine Gegenleistung zu bekommen. Hier wirkt die Reputation, die sich ein Geber durch die selbstlose Handlung erwerben kann, haben die Forscher erkannt.

So kann Kooperation zwischen Fremden entstehen, wenn der gute Ruf einem Partner bei späteren Begegnungen einen Vorteil bringt. Als erstes demonstrierte dieses Prinzip der Biochemiker und Mathematiker Martin Nowak, der heute an der Harvard-Universität forscht, mit Hilfe einer Computersimulation. Später konnte Manfred Milinski mit einem psychologischen Experiment belegen, dass Menschen sich tatsächlich so verhalten. Die Studenten in seinem Experiment waren immer dann besonders hilfsbereit, wenn ihr Gegenüber in vorherigen Begegnungen mit anderen Teilnehmern einen hohen Status erworben hatte - auch wenn klar war, dass sie auf diesen Teilnehmer im weiteren Spielverlauf nicht wieder treffen würden.

Sich von einem guten Ruf leiten zu lassen, ist eine zutiefst menschliche Angelegenheit. Sie setzt eine Kommunikation weit über das unmittelbare Umfeld und eine bewusste Abwägung von Nutzen und Risiko voraus, die Tieren fehlt. Doch die Mechanismen, die dahinter stehen, funktionieren in den mathematischen Modellen auch unabhängig von den besonderen Gaben des Menschen. Seither ist Evolutionsforschern immerhin klar, dass Eigenschaften von Individuen verstärkt werden können, auch wenn sie ihren eigenen Interessen schaden, aber ihrer Gruppe um so mehr nützen.

Entwicklungsschritte dank Kooperation

Das hat auch den Blick auf die vielen Beispiele gelenkt, wo das Leben eher in Gemeinschaft funktioniert als durch das oft beschworene Überleben des Stärkeren. Selbst unter Einzellern gibt es rudimentäre Kooperation. Hefezellen begehen bei Nährstoffmangel Selbstmord und opfern sich für wenige Überlebende. Manche Bakterien synchronisieren unter widrigen Umständen ihre Bewegungen, damit einige von ihnen in eine günstigere Umgebung gelangen können.

Große Entwicklungsschritte gab es im Verlauf der Evolution oft, wenn das Einzelinteresse erfolgreich zum Wohle der Gemeinschaft gebändigt wurde. Nur durch das Zusammenspiel verschiedener Gene und Chromosomen konnten komplexe Zellen entstehen. Erst durch Kooperation entwickelten sich aus Einzellern vielzellige Tiere und Pflanzen, und schließlich soziale Gemeinschaften. "Der vielleicht bemerkenswerteste Aspekt der Evolution ist ihre Fähigkeit, in einer von Konkurrenz geprägten Welt Kooperation hervorzubringen", sagt Martin Nowak. Neben Mutation und Selektion postuliert er die "natürliche Kooperation" als drittes fundamentales Prinzip in der Evolution.

Ob diese fundamentale Kraft indes ausreicht, um Milliarden von Menschen beim Klimaschutz zum selbstlosen Verzicht zu bewegen, ist fraglich. Manfred Milinski ist inzwischen eher skeptisch. In manchen seiner Versuche ist es ihm zwar gelungen, die Teilnehmer durch Warnungen vor dem Verlust ihres Geldes zur Zusammenarbeit zu bewegen.

In vielen Szenarien verhalten die Teilnehmer sich aber doch zu egoistisch, um das gemeinsame Ziel zu erreichen. "Ich war noch niemals in meiner Arbeit so frustriert wie nach diesen Versuchen", sagt Milinski. "Die Zusammenarbeit im Klimaschutz ist das größte Spiel, das die Menschheit je gespielt hat - und es ist eines, das wir auf keinen Fall verlieren dürfen."

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